TEIL 9
Philip schlug die erste Seite des Schnellhefters auf und las:
Mein Name ist Karen, je nach Gelegenheit auch Durga. Ich schreibe hier alles so auf, wie ich mich daran erinnere. Gewiss mag mancher es für eine unglaubliche Geschichte halten. Diejenigen aber, deren Augen offen sind, werden wissen, dass sie wahr ist. Natürlich ist sie nicht wahr, aber es ist gut, wenn man sagt, dass man die reine Wahrheit schreibt. Zumal die Wahrheit wirklich in der Geschichte drin steckt. Also sagen wir: Es ist eine Fantasie auf realer Grundlage. Die Wahrheit, ganz nackt, wäre zu schwer zu verdauen. Man muss sich an sie erinnern, Stück für Stück. Dazu soll diese Geschichte beitragen.
Alice, Ingenieurin am Institut der ESA für Raumfahrttechnik, sagte scherzhaft, dass sie zu denen gehöre, welche die Kantine für einen der besten Orte hielten, und nicht wie ihr Bruder irgendein Laboratorium.
Philip kicherte. Sie hatte recht, er war ein leidenschaftlicher Tüftler, der gerne die Zeit vergaß, wenn er sich mit einem technischen Problem konfrontiert sah. In der Kantine servierte man an diesem Tag als Vorspeise Blumenkohlsuppe. Ich hätte sie mit einer etwas größeren Prise Muskatnuss bevorzugt. Ich entsinne mich genau.
Mein
Name ist Karen, aber das sagte ich schon. Ich arbeite hier als
Philips Assistentin. Sollte ich Doktor Stein sagen? Nein, ich bleibe
bei Philip, so kann sich ein möglicher Leser besser in ihn
hineinversetzen. Um Philip soll es hier hauptsächlich gehen, um ihn
und um das Wunder, das sich uns offenbarte. Ich bin eine unbedeutende
Berichterstatterin. Also bitte ignorieren Sie mich einfach.
Müller
aus der Chefetage tänzelte am Tisch vorbei, grüßte mechanisch und
setzte sich, da er sich für etwas Besseres hielt, weit weg von uns.
Alice sagte irgendwann: „So, ich sollte wieder an die Arbeit“,
erhob sich und ging in ihr Büro. So saßen wir eine Weile allein am
Tisch, also Philip mit mir, und wir machten uns übers Hauptgericht
her: Seelachsfilets.
Professor Pull steuerte auf unseren Tisch zu und fragte, ob er sich zu uns setzen dürfte. Wir nickten. Er nahm Platz. Mir war unbehaglich zumute, denn Professor Pull hatte uns erwischt, einen Tag zuvor, in flagranti sozusagen. Es war meine Schuld gewesen. Ich habe Philip geküsst, auf dem Flur, da ist dann Professor Pull um die Ecke gekommen. Er hat gelächelt, nichts gesagt, aber sich seinen Teil garantiert gedacht. Wir wollten es geheim halten, vorerst, das mit uns. Ein Wissenschaftler, der mit seiner Assistentin ein Verhältnis hat, nein, der sie liebt, das hat doch etwas – ich weiß nicht – Anstößiges? Immerhin ist er ihr Chef! In Wirklichkeit war er nie mein Chef, er war immer nur er selbst, keiner, der jetzt von oben herunter bestimmt oder so.
Da saß nun Professor Pull an unserem Tisch. Er lächelte mehrdeutig. Unvermittelt schaute er ernst aus seinem faltigen Gesicht heraus. „Hören Sie, wie Sie wissen, ist das meine letzte Woche hier. Irgendwann wird der Mensch gebrechlich, will seine Altersbezüge kassieren, gemütlich am Kamin sitzen, in einem Buch schmökern und Kamillentee trinken. Meine Laborräume werden geräumt, mein Sessel wird für Müller freigemacht. So einfach geht das. Wissen Sie, ich hatte lebenslang ein Projekt zu laufen. Man hat sich oft darüber amüsiert. Geldgeber konnte ich dafür nie gewinnen. Na ja, aber das Projekt ist mein Hobby geblieben, bis heute. Das Ergebnis davon befindet sich unten im kleinen Laborraum, der immer verschlossen ist und den alle für einen Lagerraum gehalten haben. Ich möchte Ihnen beiden gern zeigen, was sich dort drinnen befindet. Sie gefallen mir. Sie machen nicht den Eindruck von Ignoranten, sondern scheinen mit echter Neugier ausgestattet zu sein. Bitte kommen Sie mit mir!“
Professor Pull erhob sich, atmete tief durch. Erwartungsvoll folgten wir ihm.
Der Raum befand sich im Keller. Professor Pull schloss ihn bedeutungsvoll auf und bat uns, einzutreten. Dort gab es nichts weiter zu sehen, als zwei längliche Röhren und ein Pult mit Messanzeigen hinter dem ein Computer stand.
„Also, Sie werden gleich komisch gucken und vielleicht lachen, ja Sie werden denken, ich hätte den Verstand verloren. Dem aber ist nicht so. Hier steht ein Raumschiff!“, sagte der Professor.
Wir sahen uns an, Philip und ich. Wir schwiegen. Der alte Mann musste wirklich verrückt geworden sein, oder aber, er wollte einen Scherz mit uns machen, dessen Pointe wir nicht durchschauten. „Und wissen Sie, wohin es fahren soll?“, fragte Professor Pull rhetorisch. „Zum Zentrum des Universums!“
Ja, jetzt schien es uns klar: Er wurde senil. Glücklicherweise hatte er ja nun Anspruch auf Altersbezüge. Für die Arbeit am Institut wäre er in seinem Zustand wieso nicht mehr geeignet gewesen.
„Eine wunderbare Idee Professor“, sagte Philip, „Sie sollten uns ein andermal ausführlich darüber berichten, aber jetzt ...“
„Aber nein, nein – Sie verstehen nicht“, fuhr Professor Pull aufgeregt fort, „die Materie ist das Problem. Sie können ein Raumschiff nicht endlos beschleunigen, da die kosmische Strahlung dem Schiff, je schneller es sich bewegt, immer mehr Widerstand entgegensetzen wird. Der Fehler besteht im Festhalten an der Vorstellung von Materie und einem dreidimensionalen Raum. Sie können mit herkömmlichen Mitteln nicht frei durch Zeit und Raum navigieren. Ich habe das Problem gelöst: Mein Raumschiff besteht nicht aus Materie, es kann auch durch die Zeit fahren, Lichtgeschwindigkeit ist recht langsam für dieses Schiff.“
Ich lächelte verkrampft. Der Mann tat mir leid, er hatte offenbar den Verstand verloren, vollkommen. Begeistert redete er weiter auf uns ein: „Der Fehler der meisten Physiker besteht darin, dass sie das Universum als Materie-Energie-Geflecht sehen. Aber sie haben dabei einen wesentlichen Faktor ausgelassen: Bewusstsein! Wenn es stimmt, und Bewusstsein ist ein wesentlicher Teil des Universums, so gibt es zwangsläufig ein Bindeglied zwischen Bewusstsein und Materie. Ich habe dieses Bindeglied gefunden: Feinstoff!“
„Aber das ist doch Unsinn, es existiert weder ein Feinstoff noch irgendeine Art von Äther. Das ist reine Esoterik“, warf Philip ein.
„Es ist Wissenschaft“, behauptete Professor Pull stur, „sofern man unter Wissenschaft nicht etwas versteht, das einen Faktor wie Bewusstsein ausschließt. Ja, gewiss stammt der Begriff Feinstoff aus dem Vokabular der Esoteriker und Okkultisten. Diese Leute haben etwas entdeckt, sie wussten aber nicht, was. So formulierten sie allerhand obskure Ideen darüber. Aber wovon ich rede, das folgt rein logischen Gesetzen. Sehen Sie, dieser Feinstoff ist ja nicht nur ein Bindeglied zwischen Bewusstsein und Energie, sondern auch Stoff einer eigenständigen Realität. Mir ist es gelungen, in diese Realität einzudringen, sowie aus deren Material ein Raumschiff zu bauen. Mit meinem Computer und den Geräten dort ist es möglich, Kontakt zum Feinstofflichen herzustellen. Natürlich können die Astronauten, die dieses Schiff steuern sollen, es nicht mit den physischen Körpern betreten, sondern nur mit ihrem feinstofflichen. Dazu dienen die Röhren, die sie hier sehen können. Durch schwache magnetische Impulse wird das Nervensystem auf eine Frequenz gebracht, die dabei hilft, den feinstofflichen Körper vom biologischen zu lösen. So kann der feinstoffliche Teil der Astronauten im feinstofflichen Raumschiff reisen.“
Philip sagte: „Jetzt kommen wir der Sache schon etwas näher. Sie reden von so etwas wie Astralreisen. Dazu soll man ja kein Raumschiff brauchen.“
„Spontane Reisen außerhalb des Körpers können überall hinführen. Dank meiner Technik wird der Astralraum stabilisiert. Man kann darin präzise navigieren.“
„Es ist doch möglich, dass solche Reisen nur im eigenen Bewusstsein stattfinden“, gab, Philip zu bedenken.
Professor Pull lächelte wissend. „Ja, das habe ich auch einmal vermutet, aber wenn das Universum aus Bewusstsein und Energie besteht, wo befindet sich dann die Grenze zwischen Ihrem Bewusstsein und dem Universum? Ich schlage vor, Sie überzeugen sich und steigen in die Röhren. Fliegen Sie ins Zentrum des Universums, fliegen Sie in den Ursprung hinein, dahin, wo alles begann!“
„Mhh, wir wollen uns beide mal kurz beraten“, sagte Philip.
Professor Pull ging in eine andere Ecke des Raumes. Philip flüsterte mir ins Ohr, dass der Professor offenbar an eine Form der Schizophrenie leide. Er habe gehört, man solle in einem solchen Fall, dem Kranken weder widersprechen noch ihm zustimmen. Dieser könne sich ansonsten noch tiefer in seine Wahnvorstellungen hineinsteigern. Philip hielt es für das Beste, wenn wir vorerst mitspielen würden, dann nach kurzer Zeit aus den Röhren herauskämen und Pull mitteilten, dass es nicht funktioniert habe. „Ich muss nur noch feststellen, ob irgendwelche Kabel zu den Röhren führen. Nicht, dass wir am Ende gegrillt werden“, tuschelte er mir abschließend zu.
Ich nickte, seine Idee schien mir angesichts der Situation recht gut zu sein. Als ich zum Professor sagte, dass wir bereit seien, zappelte er freudig und erklärte uns sein Feinstoffraumschiff: „Vorn am Steuerpult können Sie zwei Bildschirme sehen. Der linke Schirm zeigt den Blick auf das stoffliche Universum, der rechte auf das Feinstoffliche. Ja, sie werdenbeide seiten des Universums wahrnehmen. Daneben finden Sie den Computer, er übernimmt die Steuerung. Sie kommunizieren mit ihm verbal. Das Schiff ist hundert Meter lang und 50 Meter breit. Es verfügt über eine Energiekanone, falls Sie einmal einen Kometen wegsprengen müssen. Fliegen Sie immer nur geradeaus, wenn Sie Abweichungen feststellen, korrigieren Sie diese per Computer. Das war's schon.“
„Verstehe, aber sagen Sie, in diesen Röhren, ist da etwas Elektronisches eingebaut?“, fragte Philip besorgt.
„Nein, die magnetischen Impulse sende ich von hier aus.“ Professor Pull zeigte auf einen kleinen Kasten, der auf seinem Arbeitstisch stand. „Das hier reicht, ist mit hochfrequentem Feinstoff gefüllt.“
Beruhigt, dass sich keine elektrischen Leitungen in der Nähe befanden, krochen wir in die Röhren hinein. Drinnen war es dunkel. Eine Art Matratze lag in meiner Röhre, somit konnte ich recht bequem darin liegen. Ich überlegte, wie lange ich wohl dort ausharren musste. Mich überkam bald ein Kribbeln, das zunehmend stärker wurde. Ich ängstigte mich. Es würde doch nicht etwa entgegen den Beteuerungen des Professors, Strom in die Röhren geleitet werden? Zweifellos durchfloss mich eine Energie und sie wurde zunehmend kraftvoller, bis es schmerzte. Dieses Phänomen verschwand ruckartig und Licht erstrahlte um mich herum. Ich blinzelte mit den Augen, bis ich die Umgebung wahrnehmen konnte. Zwei Bildschirme sah ich und einen Computer. Ich befand mich im Inneren des Raumschiffes, so wie Professor Pull es beschrieben hatte! Es ging mir ganz gut, trotz der absurden Situation, in die ich geraten war. Nur eines beunruhigte mich: Ich war allein. Was sollte ich bloß machen? Bevor ich darüber weiter nachdenken konnte, flimmerte etwas im Raum, eine Art Säule aus glühender Luft, welche sich bald verdichtete und menschliche Form annahm. Es war Philip, er materialisierte sich vor mir. Verwundert blickte er sich um, dann sprach er mich an: „Du bist nicht real“, sagte er, „das ist ein Traum.“
„Doch, ich bin wirklich hier“, widersprach ich, „sieh dich nur um: Alles ist real!“
Philip verschloss seine Augen und sprach beschwörend: „In die Röhre, ich muss in die Röhre zurück; es ist nur eine Halluzination, eine verfluchte Halluzination!“
„Also ich bin keine Halluzination. Vielleicht bist du ja eine. Wie kann man das testen?“
„Gute Frage. Ich weiß, dass Traumfiguren, denen man in luziden Träumen begegnet, keine komplizierten Rechenaufgaben lösen können. Das kleine Einmaleins und Plus und Minus kriegen sie noch hin, was aber darüber hinausgeht, ist ihnen zu schwer. Ich teste dich jetzt mal. Wie viel ist 48 X 48?“
„Das ist 2304!“
„Stimmt“, bestätigte Philip.
Das Problem für mich bestand darin, dass ich keinen solchen Test kannte, somit war es für mich nicht möglich, zu bestimmen, ob das, was mich umgab, real war oder ob es mein eigener Geist produzierte. Ich hätte Philip etwas fragen müssen, was ich nicht weiß, aber er. Allerdings könnte ich seine Antwort nicht überprüfen. Ich musste meine Unsicherheit akzeptieren. Es sah alles real aus und fühlte sich auch so an, also beschloss ich, so zu handeln, als wäre es real. Wir setzten uns in die Pilotenstühle.
„Computer“, rief ich, „hörst du mich?“
„Ja, ich höre“, antwortete eine weibliche Stimme von oben her.
Philip fragte: „Computer, alles startbereit?“
„Alles ist startbereit“, sagte die Stimme.
„Dann starte bitte“, befahl Philip.
„Gestartet“, sagte der Computer.
Schon war auf einem der Bildschirme die Erdkugel zu erkennen. Sie schwebte blauglänzend im Schwarz des Raumes. Auf dem anderen Bildschirm flimmerten Punkte. Das Raumschiff beschleunigte. Bald lag das Sonnensystem hinter uns. Der Computer zeigte eine Sternenkarte, so konnten wir sehen, wo wir uns befanden. Wir durchstreiften die Leere des Raumes, dann wieder schossen Sternenhaufen an uns vorbei, sie schimmerten rötlich und violett. Wir sahen purpurne Gasnebel, riesige Schlangen, die sich durch das All bohrten.
„Die Zeitachse wird korrigiert“, meldete die Stimme des Computers, die etwas zu erotisch klang, aber wohl Professor Pulls Geschmack entsprach.
Alles pulsierte, Sterne entstanden und vergingen, oder sie vergingen erst und brannten dann wieder auf, als gleißendes Feuer, das aus ihren eigenem Tod heraus glühte. Scheinbar bewegten wir uns rückwärts durch die Zeit. Falls Begriffe wie Zurück und Vor überhaupt noch eine Bedeutung hatten. Weitaus interessanter schien allerdings, was wir auf dem Monitor sahen. Wir erblickten Geflechte von Gestirnen, verknüpft mit telepathischen Bändern, die sich weit hinzogen und zu einem großen Bewusstsein anwuchsen, das glückstrahlend in ständiger Meditation dahinschwebte. Alles das konnte ich sehen, und indem ich es sah, fühlte ich es auch und verstand es unmittelbar. Ich sah Welten, deren Freude ich mitempfand und manches Mal, dort wo die Bewohner in ewigen Kämpfen stritten, konnte ich ihren Schmerz spüren und wortlose Schreie durchstachen mir die Seele. Einige der Planeten, die an unserem Schiff vorbeisausten, strahlten Eitelkeit aus, andere wiederum leuchteten in stiller Demut. Jedes Sonnensystem war ein Wesen mit eigener Intelligenz und unverwechselbarem Charakter. Viele dieser Welten stürmten jung und aufstrebend voran, zeigten Zuversicht und Mut, andere indessen waren längst vergreist, sie zogen träge ihre Bahn um sterbende Sonnen.
Es gab die Welten der Krieger, für die der Kampf allein Ruhm und Ehre bedeutete. Andere Welten waren mit Denkern besiedelt, die immer kompliziertere Dinge entwickelten und die Technologie in erstaunliche Höhe trieben. Ich sah Welten voll mit seligen Kindern, dort glich das Leben einem ewigen Spiel. Für deren Bewohner schienen die Tage immer wieder neu wie der erste Tag. Alles war angefüllt mit Lachen, und es kam mir so vor, als würde sich die Freude weit in den Weltenraum verströmen. Die verzweifelten Welten dagegen taumelten in ewigen Qualen dahin, ziellos und verloren. Ihre Bewohner badeten in Hass, und geschlagen mit der Blindheit des Geistes, erschufen sie sich immer wieder neue Höllen, eine trostloser als die andere. Manche der Welten mussten durch jedes Elend hindurch, bevor sich das weiße Licht der Erkenntnis auf ihnen ausbreiten konnte. Dann aber blitzten sie diamanthell auf und warfen ihr Licht weit durch die Dunkelheit des Raumes. Solche leuchtenden Welten begannen Raumschiffe zu bauen, Schiffe aus Feinstoff, gedankenschnelle Pfeile, die das Sternenmeer durchkreuzten. So glitten sie dahin, Schwärme von Schiffen, leuchtenden Insekten gleich. Unzählige Punkte, blau, rot und grün blinkend, und auch gewaltige künstliche Inseln schwebten, groß wie Planeten, erhaben durch den Raum. Zusammengehalten wurden sie vom Bewusstsein unzähliger Intelligenzen. In ihnen pulste unbändige Schöpferkraft. Hatten die Zivilisationen eine gewisse Entwicklungsstufe überschritten, machten sie sich auf zur Heimat, zum Stamm, aus dem alle Äste wachsen. Es schien wie ein Instinkt, keine Lebensform konnte ihn unterdrücken. So stürzten sich Tausende von Schiffen dem Zentrum entgegen, dem Anfang und dem Ende. Immer rasender wurde ihre Fahrt, bis ein ungeheurer Strudel sie anzog, der den Himmelsraum, der ihn umgab, in eine Kreisbewegung zwang. Eine Spirale aus Licht sah ich, ein Muster, ein Mandala, es schuf aus sich selbst heraus immer wieder neue Formen, die einen kurzen Moment dastanden wie Schriftzeichen, dann auseinandertaumelnd zerbröselten, um Teil eines neuen Alphabets zu werden. Und all die Schiffe verdichteten sich zu einem Wirbel von Energie, zu einem immer rasender werdenden Tanz. So kreisten sie um das Zentrum des Himmels, das ausschaute wie eine Kugel, aber ebenso ein Loch im Raum hätte sein können. Auch schien es einem Tunnel ähnlich, der in etwas Dunklem hineinführt, das wie eine tiefschwarze Pupille funkelte. Immer weiter steuerten wir gegen den Lauf der Zeit auf das Zentrum zu. Der Weltenraum implodierte, er stürzte in sich zusammen. Es war, als würde eine Unendlichkeit in eine Unendlichkeit hineinfallen, ein sterbender Riese aus Welten gebaut, ein Aufschrei von Milliarden Atomen, die mit maßloser Kraft auseinandergefetzt wurden. Eine Weltgeschichte nach der anderen gab dem kosmischen Sog nach, zerfiel zu zahllosen Erinnerungen, bisnicht mehr als eine Wolke von Vergessen blieb, schwebend als dünner Nebel vor dem Auge des Unbegreiflichen.
Ich spürte einen Ruck, etwas wie eine kleine Explosion; dann sah ich nichts mehr. Absolute Stille. Ich war allein. Keine Raumschiffe, kein einziger Stern flackerte. Wo war mein Körper geblieben? Ich fand ihn nirgendwo. Etwas aber existierte: die Allwissenheit! Alle Antworten schienen mir gegenwärtig. Sämtliche Fragen, die ich mir stellte oder hätte stellen können, lösten sich auf. Dieses Wissen, das so segensvoll zu mir kam, zeigte sich nicht in Gedankenform. Es bestand aus etwas anderem; wobei ich nicht sagen kann, aus was. Es war feiner, als Gedanken es sind. Vor allen Dingen war es zeitlos, schon immer da gewesen, auch würde es ewig existieren. Abermals ein Ruck. Unser Raumschiff musste noch ein Stück weiter gekommen sein. Ich durchstieß die Grenze des Universums und fiel, fiel hinein in den Ursprung, jenseits der Zeit, der Ausdehnung, die wir als Raum kennen. Nun versuche ich, etwas zu beschreiben, was sich jeder Beschreibung entzieht. Darum werden jetzt nur alberne Worte folgen.
Man stelle sich einen uferlosen See vor, welcher aus Honig besteht. Man taucht ein in diesen See und schmeckt seine Süße mit jeder Zelle. Wenn man ganz von diesem Geschmack durchdrungen ist, fällt die Grenze weg, die Grenze zwischen einem selbst und dem Honigsee. Oder vielleicht ist es so: Der Honigsee schläft und träumt süß. Er träumt von jemand, der im Honigsee badet, all die überwältigende Süße schmeckt, mit Leib und Seele schmeckt, und der dann untergeht und freudig stirbt, weil das Sterben ja auch nur wie das Schmecken des Honigs ist. Das Süße überdauert, das Süße ohne Honig und ohne jemanden, der etwas schmecken könnte. Süße, Süße, berauschende Süße, namenlos, ohne Schmerz, ohne Glück, ein Ozean aus brennender Leidenschaftslosigkeit. In diesem Moment endet der Traum des Honigsees und er findet sich als das wieder, was er immer war: der Honigsee. Er kennt sich nicht, wenn er nicht von sich träumt.
Oder jemand sitzt in freier Landschaft und lauscht der Stille, bis er selbst so still ist, dass er erkennt, dass er auch die Stille ist und die Stille nur sich selbst belauscht. Dann steht der Mensch auf und geht fort, wobei er weiß, dass er nie ein Mensch gewesen ist, dass er nicht weiß, was oder wer er ist. Die Stille aber bleibt die Stille. Nun muss man sich den Honigsee oder die Landschaft wegdenken, sodass nur noch die Süße bleibt und die Stille. Auch sollte niemand da sein, der sagen könnte: Das ist süß und das ist still!
So also war das, was vor der Zeit lag. Obwohl es noch kein Davor gab. Es existierte jenseits von alldem, was wir uns ausdenken könnten. Hier muss ich so tun, als gäbe es eine Zeit, sonst ließe sich nichts erklären. Also: Vor der Entstehung des Universums gab es dieses, was weder nichts noch etwas war, sondern einfach nur war. Und auf einem Male war ich selbst das, was nur so da war, ohne etwas Bestimmtes zu sein. In diesem Moment erschien eine Frage: Wer bin ich? Das war seltsam, da mich ja die Sphäre der Allwissenheit umgab, die jede Frage unnötig machte. Dennoch stand meine Frage im Raum, in der Leere, im Nichts. Sie war das Einzige, was existierte. Ich war meine Frage. Es kam bald eine Antwort. Energie wuchs an, wie ein Fluss, der immer neue Nebenarme bildet, bis sich alles Wasser brausend ins Meer ergießt. Aus mir wuchs ein Spiegelglas heraus. In diesem Spiegel blickte ich staunend hinein – und ich erkannte das Universum. Und dieses Ganze, das ich erblickte, war gleichsam der Spiegel, der mir unzählige Facetten meiner selbst zeigte. Ich verstand: Die Welt existierte, weil ich mir diese Frage gestellt habe. Ich hatte ein Spiel begonnen. Nun hieß es mitspielen! Im Spiegelglas kreisten die Welten, ebenso wie sie in mir kreisten. Aller Raum existierte hier, alle Zeit, aufgehoben in diesem Augenblick. Ich sah und spürte: Auf manchen der Welten entstand Leben, auf einigen von ihnen stellte man sich die gleiche Frage, die ich mir gestellt hatte. Diese Frage hallte in mir als leises Echo wider. Seltsam, dass man sich so eine Frage stellte, wo doch die ganze Welt die Antwort darauf war! Und immer war ich es, die fragte. Jedes Wesen schien ja nur getrennt von mir, da ich es im Spiegel erblickte, der aus mir herausgewachsen war, als Antwort meiner Frage. Im Spiegel erscheinen Illusionen. So ist versehentlich das Universum entstanden. Ich war die Frage und war die Antwort. Ich musste hysterisch lachen.
Ich fand mich im Raumschiff wieder und sah mich um. Philip saß auf seinem Platz, er lachte ebenfalls. Mir wurde klar, dass er in etwa das Gleiche erlebt haben musste wie ich. Vorsichtig erhob ich mich, ging zu ihm hin und küsste ihn auf die Nasenspitze. Etwas hatte sich verändert in uns. Wir rasten auf unsere Galaxie zu, auf unser Sonnensystem, auf die Erde. Es ging wahrlich gedankenschnell. Wir landeten. Alles wurde schwer. Ich spüre die Zeit förmlich, wie sie mich ergriff und durchdrang. Ich öffnete meine Augen: schummriges Licht. Ich lag in dieser Röhre. Als ich herauskletterte, erschien es mir seltsam, wieder in Pulls Labor zu sein. Alles schaute aus wie in einem Traum.
„Ich bin hier“, sagte ich, weil mir nichts anderes einfallen wollte.
Professor Pull strahlte. „Willkommen zurück!“
Bald kam auch Philip aus seiner Röhre herausgekrochen und lief schwankend hin und her. Er blieb stehen, sah Professor Pull an und sagte: „Wir waren am Ende und am Anfang der Welt gewesen. Nun ist etwas in uns, eine bestimmte Art des Sehens, des Wissens. Die Welt kann nie mehr so sein wie zuvor.“
Und er hatte recht. Es ist irgendetwas in uns eingedrungen, da draußen. Das Zentrum des Universums existierte jenseits von allem, und es hatte uns zu sich geholt. In ihm treffen sich die Fäden des Schicksals. Der Kontakt, den wir erfahren hatten, zeigte seltsame Folgen. So verschwand in der darauffolgenden Zeit mein Körper des Öfteren. Also es war nicht so, dass plötzlich der Körper weg war, sondern ich steckte nicht mehr in ihm. Es schien, als befände sich der Körper in mir. Aber das zu erklären ist müßig. Entweder man gehört zu den Wissenden und versteht, oder eben nicht. Auch andere Dinge veränderten sich. Wo waren meine Grenzen geblieben? Sie wurden flexibel oder lösten sich vollständig auf. Ich begriff, dass unsere scheinbaren Begrenzungen von unseren Ideen über die Welt bestimmt wurden. Hätten wir früher etwas genauer hingeschaut, wären uns unsere Irrtümer gewiss aufgefallen. Nun stand alles klar vor mir: Wir waren nicht unsere Gedanken, nicht unser Körper, nicht unsere Meinung über uns. Nach dieser Erkenntnis kam die Phase des Beobachters. Ich schaute und schaute. Ich glaubte, eine beobachtende Instanz zu sein, losgelöst von allem. Ich sah meine Umgebung, meine Person, meine Gedanken und Gefühle, aber nichts davon war ich. Ich war Wahrnehmung, ein Stern, heller als tausend Sonnen, ein Punkt von Bewusstheit. Die Welt begann zu glänzen. Auch war es mir möglich, dass ich weit entfernte Gegenstände, so sehen konnte, als befänden sie ganz in der Nähe.
Es passierte noch mehr Seltsames: Ich lief eine belebte Straße entlang und war fort, es gab nur Schritte, einen Körper, der ging. Ich lief dahin, willenlos, eine Marionette, geführt an unsichtbaren Fäden. Alles um mich herum bewegte sich durch den gleichen Mechanismus. Niemand auf der Welt tat etwas, alles passierte einfach nur. Ich konnte nicht mehr sagen, ob ich existierte, oder nicht. Irgendwann war er weg, dieser Punkt, der beobachtete, dieser Punkt aus Bewusstsein, der so faszinierend gewesen ist. Eine Art von Wahnsinn breitete sich aus. Ich begriff schnell: Dieser Wahnsinn war nichts anderes, als die Wiederkehr des normalen Menschenverstandes, jener eingeschränkten Sichtweise, die ab nun für mich einem Gefängnis glich. Verzweifelt schloss ich die Augen. Wieder sah ich das Zentrum der Welt, das selbst kein Teil dieser Welt war. Es sandte Energie aus. Mein Körper zitterte zwei ganze Tage lang. Von da ab wusste ich: Ich war frei!
Philips Erfahrungen ähnelten den meinen. Es folgte bald das sogenannte Rippen und das Infizieren. Was das ist? Nur Geduld. Ich werde mit dem Rippen beginnen: Anfangs tauchte eine leise Ahnung auf, dann folgten Schübe veränderter Wahrnehmung. Was wir erlebten, war wie ein Heraustreten aus dem Zeitgefüge. Die Gegenwart wurde breiter, so könnte man es sagen, und Geschehnisse, die hintereinander stattfanden, konnten wir gleichzeitig wahrnehmen. Es fiel uns leicht, Impulse in anderen Menschen zu spüren. Die übliche Grenze zwischen einem selbst und der Welt schmolz mehr und mehr dahin. Dank unseres erweiterten Bewusstseins konnten wir schneller als andere auf eine Situation reagieren. Aber das war erst die Basis für das eigentliche Rippen. Wenn man annimmt, dass die Welt wie ein Film ist, können wir uns vorstellen, dass man diesen Film auf eine DVD gespeichert hat. Die Daten auf einer DVD kann man nicht verändern. Allerdings kann man eine DVD rippen, den Film auf den Computer übertragen, um dort die Daten der DVD zu verändern. Im übertragenden Sinn bedeutet das, die Daten der Realität zu manipulieren. Das ist das, was wir das Rippen nennen. Und deswegen können wir auch wissen, was im jeweils nächsten Moment geschehen wird. Auf der DVD mit den Daten der Welt ist der ganze Film gebrannt, von Anfang bis Ende. Die Kunst ist, die Daten richtig auszulesen. Später, als wir andere infiziert hatten – ja, wir konnten andere mit unseren neuen Fähigkeiten anstecken – testeten wir das Rippen. Wir spielten allerhand Spiele, sie sollten uns fangen und so weiter. Wir entkamen ihnen immer, da sie anfangs das Rippen nur mäßig beherrschten. Wenn zwei Menschen so ein Spiel spielen, und sie können gleich gut rippen, dann ist es ein seltsames Gefühl. In etwa so, als würde man gegen sich selbst Schach spielen. Das Rippen scheint den Naturgesetzen zu widersprechen, ist aber nichts anderes als deren Erfüllung. Man kann das auch als Wunder bezeichnen. Nun zum Infizieren. Ich war schneller als Philip. Er hatte mich gebeten, Bücher aus der Bibliothek zu besorgen. Dort traf ich auf Martin, einem jungen Mann mit freundlicher Ausstrahlung. Er wurde mein Opfer! Um die ersten Computerviren zu bekämpfen, entwickelte man Gegenviren. Der Virus, von dem ich rede, sitzt im menschlichen Bewusstsein. Er begrenzt oder verhindert die Möglichkeit, dass man sein volles Potenzial leben kann. Ich sah Martin an und wusste instinktiv, was zu tun war. Es entstand eine Verbindung zwischen uns. Er wurde angezogen von mir. Nein, er wurde angezogen von etwas in mir! Es geschah, weil er dazu bereit gewesen war. Er reagierte auf eine Frequenz, die aus mir herausströmte. Eine Erinnerung erwachte in ihm. Die Erinnerung an die Heimat, an das Zentrum, das uns alle hervorgebracht hat. Lange wurde sie überlagert von dem Unsinn, mit dem man unsere Gehirne füttert. Jetzt brach diese schöne Kraft durch. Er zitterte. Mit unsichtbarer Hand griff in ihn hinein. Er war wie ein Acker, und ich ließ die kostbare Saat der Wahrheit in seine Seele fallen. Der Virus wurde bekämpft, der bisher jede Erkenntnis getrübt hatte. Nun ist so ein Schleier, der vor der Erkenntnis hängt, ja kein Schleierchen, sondern ein grobes Gewebe aus Meinungen und Vorurteilen, das man für real hält. Eine heilsame Infektion kann sanft verlaufen oder dramatisch. Geist und Körper beginnen damit, sich wieder in ein natürliches Gleichgewicht einzupendeln. Ich musste zu Martin etwas sagen, musste ihn einladen, denn er sollte unbedingt Philip kennenlernen. Martin bedurfte der Unterstützung. Bis jetzt hatte er in der Finsternis gelebt, nun ging eine neue Sonne auf, ein loderndes Gestirn der Wahrheit zerstörte seine Welt aus Schatten. So etwas kann sehr verwirrend sein. Ich spürte, dass wir, die Infizierten, in Kontakt bleiben sollten. Ich wusste nicht genau, warum, da ich – trotz meiner neuen Fähigkeiten – nicht weit genug in die Zukunft schauen konnte, um die Wege des Schicksals klar zu erkennen. Martins Verstand blähte sich immer wieder auf, webte neue Schleier. Er versuchte, alles in ein System zu pressen, und tat die gemachte Erfahrung als unbedeutend ab. Das alte Suchtgift: Erklärungen, Erklärungen. Der Mensch ist ein elender Junkie, wenn er denkt, gierig nach immer neuem Blabla, nach der alten Leier.