Dienstag, 3. Mai 2022

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Nachdem Karen Isabell zu Bett gebracht hatte, und sie nun in ihrem eigenen Bett lag, schaute sie in sich hinein, bis tief ins Dunkle, wo zart die Fäden des Schicksals glimmten. Sie sah keine Gefahr. Niemand würde heute Nacht ihr Zimmer betreten. Sie konnte beruhigt einschlafen. Da hingen auch andere Fäden vor ihrem Auge, aber sie war zu müde, um auch noch diese zu betrachten. Wichtig war nur: Sie würde sicher schlafen können. Trotz der Ersten nebenan. Und der Schlaf kam, nicht schnell und nicht tief, er kam mit wirren Bildern.

Der Wecker summte, die Träume verblassten. Die Sonne schob ihr Licht durch die Spalten des Vorhanges. Es war Tag geworden. Karens Augen starrten auf das kalkige Weiß der Zimmerdecke. Sie wusste sofort: Etwas stimmte nicht. Sie spürte ein einziges Wesen in der Wohnung: sich selbst. Keine Spur von ihrem Gast. Trotz dieser Gewissheit sprang sie auf und rannte durch jedes Zimmer. Isabells Taschen standen in einer Ecke. Wo aber trieb Isabell sich herum?


Einen Moment zögerte er, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Nichts konnte den Lauf der Gerechtigkeit aufhalten. Beherzt drückte Heinz Wasserkopp die Klinke nach unten und betrat das Büro. Rasch zog er die Tür hinter sich zu. In der rechten Hand hielt er eine Pistole. Er war sich nicht sicher, was er damit tun sollte. Normalerweise verstärkte eine Waffe seine Autorität, hier aber war sie nicht mehr als ein überflüssiges Utensil. Da saß sie nun am Schreibtisch und blickte zu ihm auf, gelassen, selbstbewusst. Die Pistole beeindruckte sie nicht im Geringsten.

„Sie müssen sich nicht extra die Mühe machen, die Waffe auf mich zu richten. Ich habe soeben deren Mechanismus blockiert“, sagte Frau Major Stein-Lumen betont sachlich.

Er ärgerte sich. Hätte er sofort geschossen, wäre der Gerechtigkeit womöglich schon Genüge getan. Aber was machte es schon aus, dass es so kam, wie es gekommen ist? Wahrscheinlich wäre es ihm wieso nicht möglich gewesen, zu schießen. Alles, was er tun würde, konnte sie voraussehen und verhindern. „Natürlich haben Sie mich längst erwartet“, hauchte er heiser und es passte ihm nicht, dass seine Stimme kraftlos wie die eines greisen Souffleurs in einem Provinztheater klang. Eigentlich wollte ja er das Ruder übernehmen!

Sie fixierte ihn mit Augen, die von innen her beleuchtet schienen. „Allerdings, ich habe gespürt, dass sie kommen. Ich wollte Sie ja wieso, zu mir rufen Feldwebel, wegen eines Waffeneinsatzes gegen ein Kind.“

Er dehnte seinen Brustkorb. Das war sein Stichwort – das Kind. „Ohne Waffeneinsatz hätte mir Kuckucksgöre entkommen können. Wäre das passiert, wären Sie nicht aufgeflogen. Sie sind aber aufgeflogen. Verräterin, Sie! Schämen sollten Sie sich, schämen! Ich bin hier, um Ihnen das mitten ins Gesicht zu sagen.“ Na ja, eigentlich wollte ich sie erschießen, dachte er. Mist! Sie konnte ja, wenn sie wollte, seine Gedanken lesen. In dieser Situation tat sie das sicher. „Das Mädchen hatte eine Adresse bei sich. Erst wollte ich ja nur ihre Eltern aufspüren, dann ist mir eingefallen, dass ich mal gehört habe, sie würden auch in der Gegend wohnen. Plötzlich hat sich alles zusammengefügt. Das andere Mädchen, das bei ihr war, hatte von einer Majorin gefaselt. Offenbar Ihre Tochter, nicht wahr? Da ich die Adresse ja wusste, habe ich das Haus beobachten lassen. Als es leer war, wurde es verwanzt. Die beste Idee, die ich je hatte. Es dauerte nicht lange und die Mutter des Mädchens kam zurück. Bald darauf klingelten Sie an der Tür. Alles aufgezeichnet. Jedes Ihrer Worte. Damit haben Sie sich Ihr Grab geschaufelt. Sie sind nichts weiter als eine verdammte Verräterin! Sie haben angeboten, dem Feind zu helfen. Das ist Kooperation mit dem Gegner. Sie wussten von dem Umgang Ihrer Tochter. Das hätten Sie von Anfang an zur Meldung bringen müssen. Unglaublich, was Sie getan haben, Sie – in Ihrer Position, ein angebliches Vorbild! Hier!“, er knallte ein Notebook auf den Schreibtisch. „Alles drauf, der ganze Verrat, jedes Wort. Und ich wette, es kommt mehr ans Tageslicht. Bestimmt sind Sie der Kopf der Bande, die uns unterwandert hat.“

„Sie sollten sich beruhigen, es gibt keine Bande, auch keinen Verrat“, sagte sie mit einer Stimme, als würde sie zu einem uneinsichtigen Kind sprechen. „Sehen Sie, meine Aufgabe ist es, eine Lösung für die Schwierigkeiten mit den Ersten zu finden. Dabei steht es mir frei, die Lösungswege auszuwählen.“

„Papperlapapp, das sind doch Ausreden!“, tobte er.

In diesem Moment flog die Tür auf. Hereingestürmt kamen Hauptmann Kullmann und drei seiner Männer, sowie dieser Neuling, mit dem er schon gesprochen hatte, von dem nach und nach durchgesickert war, er sei so etwas wie ein Spezialagent. Drei Pistolen zielten auf Heinz Wasserkopp. Kraftlos ließ er die Waffe fallen. „Hände hoch!“, rief Hauptmann Kullmann.

Er sah den Hauptmann flehend an. „Hören Sie, Sie machen einen Fehler, einen gewaltigen Fehler. Sie müssen sie festnehmen, die Frau Major. Sie ist eine verfluchte Verräterin! Sie arbeitet für die Kuckucke. Ich habe Beweise!“

„Festnehmen und abführen!“, befahl der Hauptmann. Sie legten Heinz Wasserkopp Handschellen an.

„Ihr Narren!“, rief er mit rotem Kopf, „sie trickst euch alle aus. Sie müsst ihr abführen. Am besten gleich erschießen!“

„Ihre Geschichte können Sie später erzählen“, sagte Hauptmann Kullmann.

Sie brachten ihn aus dem Büro. In Heinz entstand ein schrecklicher Gedanke: Sie gehören dazu, alle. Er war hier der Einzige, der nicht für diese verdammten Kuckucke arbeitete!


Andy wandte sich an Alice. „So, das hätten wir hinter uns. Du hast es ja mitgekriegt, er ist vollkommen verrückt. Nach dem letzten Mord sind wir ihm auf die Schliche gekommen. Er hat sich immer im Gebäude befunden, wenn jemand umgebracht wurde. Eine der neu installierten Kameras konnte ihn in der Nähe des letzten Tatortes filmen. Ich bekam heraus, dass er sich seltsam verhielt. Einem Korporal, mit dem er zusammengearbeitet hat, erzählte er ständig von seiner Frau und seiner Tochter. Er schwärmte davon, was er mit ihnen alles an seinen freien Tagen unternehmen würde. In Wahrheit hat sich seine Frau vor vier Jahren von ihm scheiden lassen und ist mit der gemeinsamen Tochter nach Frankreich ausgewandert. Auch darf er seine Tochter nicht mehr sehen, da er einmal versucht hat, sie zu entführen. Offenbar hat er die ganze Sache nicht verkraftet und sich in Wahnideen geflüchtet. Wurde paranoid, sah sich überall von den Ersten umzingelt. Die vermeintlichen Spione hat er dann getötet. Die Morde, die hier passiert sind, hatten nichts mit den Ersten zu tun. Als wir die Wohnung sind wir auf Notizen gestoßen, an den Haaren herbeigezogene Verdächtigungen über künftigen Opfer. Er meinte, wir alle sind nicht hart genug, wenn es gegen die Ersten geht. Schließlich sah er sich auserwählt, den Richter und Henker zu spielen. Selbst dich hat er beschuldigt, er wollte dich töten.“

Alice trommelte mit den Fingerspitzen auf den Laptop, der vor ihr lag. „Er war keine Gefahr für mich.“

„Natürlich nicht, du bist eine Meisterin des Rippens. Jedenfalls, als wir seine Aufzeichnungen gelesen hatten, wussten wir, dass er dich auf seine Liste hatte. Also sind wir sofort hierhergekommen.“

„Gute Arbeit. Wir sollten die psychologischen Tests bei der Mitarbeitereinstellung weiter verbessern. Er hat kürzlich auf ein Kind geschossen. Es ist dem Tod nur knapp entronnen. Sollte es in diesem Fall neue Hinweise oder Beweismittel geben, komm bitte damit zuerst zu mir.“

„Selbstverständlich.“

Alice nickte zufrieden. Sie musste unbedingt die Kontrolle über den Fall behalten. Es ging dabei auch um Isabell und um deren Tochter. Sie wusste nicht, ob Heinz Wasserkopp die Tonaufnahmen, die im Laptop vor ihr gespeichert waren, kopiert und irgendwo gelagert hatte. Das würde sich zeigen. Aber jetzt galt es, noch eine unangenehme Aufgabe zu erledigen. „Setz dich Andy“, sagte sie sanft.

„Das hört sich dienstlich an“, bemerkte er scherzhaft.

„Das ist es nicht. Im Gegenteil, es ist sehr privat. Bevor du es aus den Nachrichten erfährst, möchte ich es dir persönlich sagen.“ Hier schlich sich eine ungewollte Pause ein, da ihr die Stimme wegsackte. „Deine Lehrerin und Freundin Min-Jee ist gestorben. Es waren die Ersten.“

„Meine Güte, ich kann's nicht glauben.“

„Sie war ein wunderbarer Mensch.“

„Das war sie, verdammt, das war sie Alice. Und nun soll sie tot sein, einfach so? Durch sie hat sich alles beschleunigt, der ganze Prozess unserer Evolution. Sie hat das Energiefeld verändert, somit konnten Tausende eine neue Bewusstseinsstufe erreichen.“

„Ja, unsere Energien wurden dank ihr wieder harmonisiert, als sie aus dem Ruder zu laufen drohten. Wir alle, Europäer, Menschen und Enceladusaner haben ihr zu danken. Nimm dir den Rest der Woche frei Andy.“

Er nickte und erhob sich. „Danke, danke dir.“ Gebeugt verließ er das Büro.


Alice griff nach dem Telefon, wählte ein verschlüsseltes Gespräch zum Rat von Europa und ließ sich mit Chrochro verbinden. „Hallo Chrochro! Oder muss ich jetzt Rat Chrochro sagen? Gratuliere zur Beförderung. Du hast es geschafft!“

„Schön, dass du dich meldest. Ich vermute, du willst nicht nur meine Stimme hören.“

„Bei uns ist viel los. Es wurden Morde begangen, hier in unserer Spezialeinheit. Es war einer von der Mannschaft, er ist einfach durchgedreht, ein Paranoider. Sogar mir hat er nachspioniert. Es könnten deshalb Daten über mich existieren, von denen ich nicht wünsche, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen. Ich brauche die absolute Kontrolle über den Fall. Die Behörden auf der Erde sollten keinen Zugriff darauf bekommen.“

„Verstehe, das ist schon zu machen, soweit die Interessen Europas nicht eingeschränkt werden.“

„Ich müsste oberste Ermittlerin in der Sache bleiben, solange, bis ich die Beweise der Staatsanwaltschaft vorlege.“

„Na ja, die Erde hat eine eigenständige Rechtsprechung. Es ist Sache der Staatsanwaltschaft ...“

„Es geht um die Ersten, es geht um die Belange unseres Mondes.“

„Verstehe, wenn das so ist, gelten natürlich höhere Interessen. Mit Sicherheit ist es dann im Sinne aller, wenn die irdische Polizei und die Staatsanwaltschaft vorerst herausgehalten werden, schon wegen der Gefahr, dass die Ersten sie unterwandert haben könnten. Da lässt sich was machen. Ich hoffe, du baust keinen Mist, wie man auf der Erde sagt. Ich halte immerhin meinen Kopf für dich hin.“

„Wird schon schiefgehen. Wie weit ist der Rat eigentlich in Sachen Erste? Ich meine, was die Lösung betrifft.“

„Nun, die Radikalen gewinnen immer mehr Zuspruch. Und irgendwie ist keine andere Lösung in Sicht. Die Ersten werden die Menschenkörper nicht freiwillig aufgeben. Wir haben keine Methode gefunden, sie aus den Körpern rauszukriegen. Bleibt nur der körperliche Tod.“

„Wir könnten sie einige Jahre internieren, vorerst.“

„Zu gefährlich Alice.“

„Und die noch da sind, oben.“

„Auf dem Planeten, die nicht in einem menschlichen Körper stecken? Die werden fragmentiert. Das übernehmen die Enceladusaner, sie pulverisieren die energetische Struktur zu Seelenstücke. Somit verlieren die Ersten ihre Identität und werden zu einem Brei von Gefühlen, Gedanken und Trieben. Was bleibt, ist ein willenloses Etwas, eine blubbernde Suppe, kurz unterhalb der Bewusstseinsschwelle dahinvegetierend. Das gleiche Schicksal wartet auf diejenigen, deren Gastkörper wir töten. Nach dem physischen Tod werden sich die menschlichen Seelen von denen der Ersten trennen. Somit wären sie befreit. Sie kommen dann ins übliche Jenseits, ganz wie beim normalen Sterben. Das Jenseits ist, wie du weißt, eine Daseinssequenz von Teilchenmustern ...“

„Ja, schon gut, kenne ich. Ich war auch schon einige Male dort.“

„Man wird die Menschen nach ihrem Tod speziell betreuen, des Traumas wegen. Wir haben leider bis jetzt keine andere Lösung gefunden.“

„Aber wenn ich nach innen blicke ...“

„Ich weiß Alice, da glaubst du, eine Lösung zu erkennen. Aber es bleibt verschwommen. Wenn man sich etwas zu sehr wünscht, wird das Sehen getrübt. Wir folgen dann mehr dem, was wir glauben, anstatt dem, was der Wahrheit entspricht.“

„In Ordnung, ich weiß, ich kenne die Wahrheit, die bittere Wahrheit. Und ich muss den Befehl geben. Und die Kinder? Was wird aus ihnen?“

„Komplizierte Sache. Man weiß es nicht. Noch nicht.“

„Also gut Chrochro, warten wir ab.“

„Es wird sich so fügen, wie es das Beste ist.“

„Natürlich, das tut es doch immer.“

„Wie dem auch sei, ich werde dafür sorgen, dass alle Akten, alle Beweismittel in der besagten Mordsache immer zuerst über deinen Schreibtisch gehen.“

„Danke.“

„Keine Ursache. Mach's gut.“

„Ich werde mir Mühe geben“, sagte Alice und beendete das Gespräch.