Sonntag, 15. Mai 2022

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Was war unser Glück da groß, dachte es in Isabell. Die Ersten rissen die Arme in die Höhe und strampelten und tanzten toller denn je. Sie waren berauscht von ihren Erinnerungen. Ach war das schön, war das schön, seufzte Isabell, ein eigener Planet! Es war ein Eisplanet. Seine weiße Oberfläche warf das Licht der Sonne weit hinaus ins All. Ein Diamant in der Finsternis. In seinem unterirdischen vom Kern erwärmten Meer schwammen bald zahlreiche Tiere herum, alle von uns kreiert. Von allen diesen aber blieb unser Erstlingswerk das schönste. Wenn immer das Schöpferding es erblickte, zeigte es sich gerührt von dessen Grazie und Putzigkeit. Normalerweise trug der Alte ja einen Stein, wo bei anderen ein Herz pochte, beim Anblick unseres Tieres wurde er weich. So sprach er: „Euer Tier ist so lieb und drollig, dass ich ihm eine größere Seele einhauchen will, auf dass es klug werde, und etwas darstellen kann auf eurer Eiswelt.“

So geschah es auch, und unser Geschöpf wurde uns recht ähnlich. Na ja, vielleicht wurde es ein wenig verdorben durch die Seele, die in seinem Körper hauste, derweil sie vom Schöpferding kam. Es hat daran wohl etwas manipuliert. Unsere Tiere zeigten sich mit einem Male zu anständig, wurden pedantisch und machten sich unsinnige Gedanken über das, was wohl richtig wäre und was falsch, anstatt einfach zu leben. Da sie aber vor allen Dingen ein Werk unserer Kraft waren, steckte in ihnen auch viel Gutes, wie zum Beispiel die Freude daran, Macht auszuüben.

Wenn die Freiheit, die wir ihnen lehrten, auf die Begrenztheit ihrer Seele stieß, konnte das natürlich zu Konflikten führen. Um sie zu heilen, flüsterten wir ihnen im Wachen wie im Schlafe unsere süßesten Lieder in die Ohren. Wir Kinder des Geistes liebten die Kinder des Fleisches, sie waren so klug und so dumm, so leichtsinnig, obwohl sie schwer an ihren Gedanken trugen. Alles im allem gediehen sie recht prächtig, wurden immer klüger, bauten Städte und entwickelten sogar Maschinen. Ihre Gehirne wuchsen, ihr Geist reifte. Bald konnten sie mit bloßem Willen Materie verformen, aus ihrer Welt heraustreten und die Zeit als Ganzes überblicken.

Es kam der Moment, da rief der Alte uns zu sich, fuchtelte bedeutungsvoll mit den Tentakeln herum und blickte uns derart intensiv mit seinem monströsen Auge an, dass es uns ganz bange davon wurde. Er sprach: „Die ist ja schon rot, die Sonne meine ich, um die euer Eisplanet kreist. Die hübschen Tiere, die so klug geworden sind, müssen bald auswandern; wenn die Sonne erloschen ist, erlischt alles Leben in diesem Sektor. Es gibt ein Sonnensystem, das gut ist. Dahin solltet ihr sie leiten. Das ist ja ein Leichtes für euch, da ihr ihnen mit leiser Stimme zuraunen könnt. In der Nähe der Erde, die ich mit allerlei Leben bevölkert habe, kreisen Planeten mit Eismonden um die Sonne. Dort ist ein idealer Platz für eure pfiffigen Tiere.“

Es kam dann auch so. Nach der langen Reise unserer Lieblinge zum fernen Sonnensystem spalteten sie sich in drei Gruppen auf. Einige besiedelten Europa, andere wiederum Enceladus, und verdammt ja, auch die Erde wurde Heimat für so manche. Wenn das nicht mal schon alles so geplant war vom Schöpferding, vom alten Gauner! So, jetzt hockten einige von unseren süßen Dingern auf dem Lieblingsplaneten des Alten, auf dem es wimmelte wie verrückt und auf dem seine Kreaturen sich den lieben langen Tag gegenseitig auffraßen. Aber das Schlimmste, was zu befürchten war, blieb aus: Der Alte mischte sich nicht ein. Wer hätte das gedacht? So konnten die neuen Erdenbohner in Ruhe ihr Leben fortsetzen. Er nannte sie Menschen, um sie vom Getier, das allein er geschaffen hatte, zu unterscheiden. Während die Bewohner der Eismonde sich immer weiter entwickelten, trat bei den Menschen ein Rückschritt ein, wohl, weil es recht schwierig war, sich an die dortige Tier- und Pflanzenwelt anzupassen. Dennoch zeigten wir uns, die wir aus dem schönsten Tentakel des Schöpferdinges gemacht wurden, recht zufrieden mit der Erde. Den Alten mochten wir dagegen immer weniger, hatte er doch unser Werk ein klein wenig verdorben. Also da kann einer sagen, was er will: Irgendwie wurden die Seelen manipuliert, bevor er sie unseren Geschöpfen eingesetzt hat. Und nicht nur das! Diejenigen unserer Kreaturen, die auf der Erde ihre Heimat gefunden hatten, wurden von der Strahlung des Planeten erfasst und verändert. Es war immerhin der Planet des Schöpferdinges. Hier kreuchten und fleuchten seine Tiere wild und dumm, so etwas musste ja abfärben! Auch bekamen wir heraus, dass er uns imitieren wollte. Er hatte vor, Wesen zu erschaffen, gleich unseren, nur etwas mehr nach seinen Vorstellungen. Das würde ja schrecklich werden, sagten wir uns und lachten halb darüber, halb wurde es uns aber auch bange angesichts dieser düsteren Zukunft. Ein griesgrämiger Moralphilosoph, verbissen und verbittert, wollte intelligente Wesen schaffen. Was konnte daraus werden – außer Monster? Das mussten wir verhindern!

Wir sahen seine Pläne – fürchterlich! Wir stellten ihn zur Rede, erklärten ihm, wie schrecklich sich seine geplanten Geschöpfe gebärden würden. Gewiss, wir waren aus einem seiner Tentakel entstanden, seinem schönsten wohlbemerkt, aus diesem transdimensionalen Stoff, mit dem er in die Welten hineingreifen konnte. Insofern waren wir ein Teil von ihm. Aber was der Alte vorhatte, befremdete uns sehr. Er wollte Geschöpfe gleich unseren schaffen, nur besser, wie er meinte, absolut voraussehbare Wesen, gleich abgeschliffener geometrischer Formen ohne Ecken und Kanten. Sie würden in einer Art von mathematischer Harmonie leben, ohne quälende Fragen, ohne Zweifel und ohne Fortschritt. Kaum entstanden wären sie schon am Endpunkt der Entwicklung ihrer Spezies angelangt. Als der Alte sein Werk fast vollendet hatte, verhinderten wir dieses Elend. Wir zerfetzten die Erbanlagen, die er zusammengebraut hatte, zerstörten die Struktur der Energiepartikel, aus denen ihre Seele geformt werden sollte. Diese scheußlichen Kreaturen – dem Wahn des Schöpferdinges entsprungen – konnten die Welt nicht mehr verseuchen! Da wurde das Schöpferding, das alte Biest, äußerst zornig. Halb senil, halb vom Größenwahn zerfressen schlug es mit seinen Tentakeln um sich. Wo wir getroffen wurden, da zermahlte und zersplitterte es uns, bis unsere Seelen in winzige Stückchen zerfielen und sich im Weltenraum verteilten. Und eine Seele, wenn sie zerstampft wurde vom Schöpferding, das ja auch immer ein Zerstörerding war, brauchte viel Zeit, um zu heilen. Dazu mussten etliche Partikel, von denen ein jedes im bewusstlosen Sehnen nach seinesgleichen strebte, sich verklumpen, bis ein zuerst stumpfes Gewahrsein entstand, aus dem wieder ein kleiner Geist erwachsen konnte.

Und dann, nachdem wir kleine Geister geworden waren, weit entfernt von unserer einstigen Größe, erschufen sie Leiber. Sie, die wir einst erschaffen hatten, unsere geliebten Wesen. Nur Hüllen haben sie gemacht, fast leer, hohle Tiere, gesteuert von wenigen Instinkten. Sie hatten sie für ihresgleichen erfunden, als Körper für den Geist jener, die auf der Erde bleiben wollten. Aber sie brauchten diese Körper bald nicht mehr, sie wurden nutzlos. So nisteten wir uns in sie ein. Ein unbewusster Akt, ein Drang kleiner Seelen ins Fleisch zu fahren, herumgeschleudert zu werden im Kreislauf von Werden und Vergehen. Eine Weile konnten wir unbehelligt in den Wäldern der Erde leben. Wir entwickelten uns weiter, da sich immer mehr Seelenteilchen ansammelten. Noch waren wir weit davon entfernt, uns an alles zu erinnern oder annähernd zu unserem einstigen Glanz aufzusteigen. Wir wussten nicht mehr, woher wir kamen. Als man sich an uns besann, besser, an die Körper, die man geschaffen hatte und nicht mehr brauchte, fand man, wir seien zu wild und zu gefährlich, um in Freiheit zu leben. Also wurde ein Plan entworfen, wie man uns sich nützlich machen könnte. Folglich legten die Menschen uns in Ketten und trieben uns, aufgestachelt von ihren Göttern, zur Sklavenarbeit an. Wir schleppten Steine und stapelten sie übereinander, bis gewaltige Bauwerke mit den Bergen um Höhe wetteiferten. Immer noch nicht wussten wir, wer wir waren. Es fehlten uns etliche Seelenteilchen, die der Alte in blinder Wut überallhin zerstreut hatte.

An manchen Orten auf der Erde fanden wir Gefallen an den Menschen, ja wir paarten uns sogar mit ihnen. Das machte ihre Götter zornig und sie vertilgten uns aus ihrer Welt. So tauchten wir ins Reich der körperlosen Wesen ein. Auch dort verstand man es, uns gefügig zu machen. Um den energetischen Planeten, auf den man uns verbannte, zog man eine für uns unüberwindbare Mauer. Wieder wurden wir zu Gefangenen. Als einzige Verbindung zur Erde blieb uns ein telepathischer Kontakt zu den Menschen, die uns ähnlicher waren als die Kreaturen der Eismonde. So war es. Nun breitet sich die ganze Geschichte vor mir aus. Alle Teile sind an der richtigen Stelle, dachte Isabell. Diese Erinnerung glich einem Wunder. Dieses Wunder, diese Vision war nicht allein zu ihr gekommen, auch zu allen anderen im Raum. Die Trance hatte die Tore dazu aufgerissen, weil die Zeit reif dafür war. Alle in dieser modrigen Halle wussten, wer sie wirklich waren. Offenbar hatten sich im Laufe der Jahrtausende genügend Seelenteilchen zusammengefunden, um wieder in jedem Einzelnen eine vollständige Seele zu bilden. Die schreckliche Wunde, geschlagen vom Schöpferding, durfte heilen, zumindest hier, an diesem Ort. Bald würden es alle von ihnen erfahren, bald würden sie sich stolz erheben können. Die Vision ging weiter: Leiber erblickt sie, gebunden und zerrend an Ketten. Münder schreien, Muskeln spannen sich an, Ketten reißen, die Geschundenen stürmen ins Freie, üben Rache an ihren Peinigern. Blut sieht Isabell, Körper – zerfetzt und aufgerissen, seelenlos.

Das Gemäuer lebt. Die Ersten werden von neuen Bildern und Emotionen überschwemmt. Sie singen, jaulen, Tanzen immer weiter. Ich sehe Felder, sagt sich Isabell, Leichenfelder, Schlachtfelder. Wir tanzen durch Blut, durch Tränen hindurch. Es ist sinnlos. Wir haben sie erschaffen, obwohl sie glauben, wir wären ihr Werk. Es sind unsere Geschöpfe, sie Leben auf Enceladus, Europa und der Erde, und wir haben nichts anderes zu tun, als sie zu ermorden! Wir sind nicht besser als der Alte, als er damals unsere Seelen zerschlagen hat.

Vor ihr erschien ein Bild des Alten. Er hatte sich in eine seiner langweiligen Welten zurückgezogen und kauerte in einem düsteren und frostigen Winkel. Um ihn herum kreisten vierdimensionale Quader auf einer ewig gleichen Bahn. Blöd glotzte er aus seinem trüben Auge und die Tentakel rührten sich kein bisschen. Er schien altersschwach und lag im Sterben. Er war allein, vielleicht sogar einsam. Der große Baumeister und Weltenschöpfer verreckte und es kümmerte niemanden! Unzufrieden mit sich und seinen Kreaturen war er zu einem bösen Wesen geworden. Sein großes Talent vergeudend wollte er alles kontrollieren, bis ihm gerade dadurch vieles entglitt. So manche haben ihn gefürchtet, einige bemitleidet, aber Liebe, Achtung und Respekt wurden ihm kaum zuteil. Und nun gaffte dieses einst so mächtige Wesen mit seinem großen Auge durch die Räume der Welt und begutachtete sein Lebenswerk. Es ödete ihn an. Wahrscheinlich wurde ihm übel davon. Die toten Welten, überzogen mit bläulichen Kristallen und blassen Eisblumen lagen vor ihm ausgebreitet als erstarrte Kleinodien, geschliffene Diamanten, deren Schönheit immer gleich blieb und somit langweilte. Und überall dort, wo etwas lebte, schwamm, flog, meckerte oder sang, herrschte Undankbarkeit ihm gegenüber, wenn nicht gar offene Feindschaft. Irgendwann hatte das alte Schöpferding es aufgegeben, Leben zu schaffen, wahrscheinlich, nachdem es uns, seinen ersten Geschöpfen, die Seelen wie verhasste Spiegel zerschlagen hatte. Er hatte Welten kreiert und verwarf dann das, was aus ihnen hervorgegangen war. Am Ende verachtete er sich selbst und kauerte sterbend in seiner eigenen Hölle. In all deiner Macht warst du nicht mehr als ein schwaches Wesen, hast Milliarden große Dinge geschaffen und bliebst doch winzig! Nun liegst du da, verkrochen in einer schäbigen Ecke der Unendlichkeit, und kratzt ab. Wir aber werden leben, wir sind das, was von dir bleiben wird. Der Rest verfault. Keine Träne werden wir dir nachweinen, kein zartes Wort wird man für dich verschwenden, alter Narr! Ich sehe: Dein Leib, er zuckt noch einmal, er verwest, dann schluckt ihn die Quelle, die in der Mitte von allem wohnt. Es bleibt nichts übrig von dir. Wir aber sollten nicht in seine Spuren treten, sollten weit vom Stamm fallen! Sollten das einzig Gute bleiben, was der Alte je hervorgebracht hat. Sie, unsere schönen Kinder von Europa, sie könnten für uns neue Körper erschaffen, wir könnten über unser böses Erbe hinauswachsen. Die Kinder müssen abwerfen, was die Eltern an ihnen verdorben haben.

Zwei Dutzend haben beim Tanz von der Wahrheit erfahren. Nun müssen wir hinausgehen, hinein in die Welt, den anderen sagen, was wir wissen, ihnen sagen, wer wir sind!

Isabell hob die Arme und schrie den Ruf der Freiheit. Sie traten berauscht ins Freie. Sie trugen ein neues Wissen und eine neue Botschaft im Herzen. Eine gute Zeit würde anbrechen.