Sonntag, 22. Mai 2022

 Der letzte Teil  wurde hochgeladen. Der vollständige Roman liegt nun vor und kann kostenlos gelesen werden,

 

Wolfgang Köhn




                                          30

 

Als sich die Ersten aus dem Fabrikgelände geströmt waren, wurde es hell. Überall standen Autos und Scheinwerferlicht brannte Löcher in die Nacht. „Sie sind umzingelt, ergeben Sie sich!“, knatterte es aus einem Lautsprecher. Das war aber nur der Form halber, gleich nach der Durchsage knallte es und Kugeln zischten durch die Luft. Rechts und links von Isabell sackten Körper zusammen. Sie blieben reglos am Boden liegen. Hier und da rannte jemand mit unglaublicher Geschwindigkeit los und ging den Uniformierten an die Kehle. Letztlich war aber alles zwecklos, der Gegner befand sich in der Überzahl, schoss wie verrückt auf alles, was sich regte. Isabell spürte den Strahl einer Schockwaffe, dann fiel sie in ein schwarzes Loch.


Rat Zarzar kaute den Tee förmlich. „Wunderbar“, schwärmte er, „Sie sind die beste Teeköchin von allen bewohnten Welten. Was für eine Sorte ist das?“

„Sencha“, antwortete Alice, „Sencha mit einer Prise blauer Eisalge vom südlichen Mond.“

„Blaue Eisalge aus der Heimat. Gute Mischung. Was für ein herrlicher Tag!“

„Gewiss Rat Zarzar. Dass Sie sich einmal hier auf der Erde niederlassen würden, wer hätte das gedacht?“

„Irgendwo muss man sich ja als Pensionär herumtreiben. Hier ist es doch recht nett.“

„Ich bin froh, dass Sie hier sind und ab und zu meinen Tee genießen. Sie verkörpern für mich das alte Europa, die Weisheit, die Würde und das Wissen um die inneren Reisen. Sie war so schön, meine Kindheit: die Algennebel, die Wanderungen der Leuchtfische, die herrlichen Feste und die Fahrt im großen Raumschiff zum Herzen der Welt!“

„Ich verstehe, es gibt immer eine Zeit des höchsten Glücks“, sagte der Rat. Er nahm einen gefüllten Kirschkeks aus der Schale, den er sich langsam in den Mund schob.

„Ja Rat Zarzar, es gibt Zeiten, in denen wir glücklich sind, wir denken dann nicht darüber nach, wie wir diese Zeiten bewahren könnten, es ist uns das genug, was grade ist. Heute scheint ein schöner Tag zu sein. Meine Tochter und ihre kleine Freundin Lahama spielen im Garten, sie denken nicht an künftige Dinge. Lahama war krank, jetzt springt sie wieder herum und berührt mein Herz. Ich habe sie aus dem Krankenhaus geholt. Es war das Krankenhaus des Internierungslagers für die Kinder der Ersten. Dank meiner Position war mir das möglich. Diese verdammte Position. Sie wird mich heute Abend fragen, wann ihre Mutter kommt. Ich werde sie ansehen und einen Stern aus Liebe in ihr Herz schicken; dann muss ich ihr sagen, dass ich es nicht weiß. Und nicht nur das bedrückt mich. Während sie mich ansieht mit Kinderaugen, in denen sich Tränen sammeln ...“

„Sie machen sich Vorwürfe. Das sollten Sie nicht.“

„Ich habe sämtliche Leute meiner Abteilung auf die Straße geschickt, sie angetrieben, so viele von den Ersten wie nur möglich zu fangen.“

„Weil der Rat es wollte.“

„Ja sicherlich, es war ein Auftrag des Rates, Sie selbst haben ihn mir übermittelt. Eine Ihrer letzten Amtshandlungen. Aber ich bin genauso verantwortlich. Vergessen Sie nicht, wir bitten einander. Früher haben sich die Menschen Befehle erteilt. Sie konnten sagen: Ich habe nur einen Befehl ausgeführt. Eine Bitte kann man ablehnen. Und dann kam dieser Anruf von einem Rat Sowieso mit Identifizierungsnummer. Es solle endlich gehandelt werden. Ich habe gehandelt und mein Wort wurde zum Henkerswerkzeug. Der Rat hatte beschlossen, den gründlichen Weg zu gehen. Man könnte es schnelle Befreiung nennen – oder Massenmord.“

„Glauben Sie mir, der Rat hat es sich gewiss nicht leicht gemacht. Er sah sich in einer Zwickmühle.“

„Gewiss, ich will nicht den Richter stellen. Ich habe den Beschluss weitergegeben: Tötet sie alle, so rasch, wie es geht! Ja, Frau Major, sagten sie und fingen damit an. Zwei Spritzen. Wussten Sie, dass es zwei Spritzen sind? Ein Betäubungsmittel und ein Gift. Ein sanfter Tod. Man nennt es Befreiung. Der Körper stirbt und die Ersten müssen ihn verlassen. Die Seelen der Menschen sind wieder frei. Ihr Leben ist zwar futsch ohne Körper, aber sie können ja in den Nachtotzustand eingehen. Die Ersten dagegen werden fragmentiert. Kein Weiterleben im Jenseits. Zermahlen zu Seelensplitter vegetieren sie als bewusstlose Masse dahin.“

„Lassen Sie doch die Vorwürfe. Wir sind Teil eines Schwarmes. Bewegt sich der Schwarm, bewegen wir uns auch.“

„Soll das ein Trostversuch sein, Rat?“

„Das soll heißen, schleppen Sie die vermeintliche Schuld nicht wie einen Stein mit sich herum.“

„Einen Stein? Ja, ich trage ihn. Auf Europa wiegen Steine weniger. Unsere Vernetzung ist dort stärker. Wir sind dort mehr WIR, weniger ICH, mehr die Welt, weniger nur ein Teil von ihr. Obwohl sich viel verbessert hat auf der Erde, schwingt noch bei allem eine Art von Bedrohung mit. Es ist ein Wahnsinn, er kann jedem Moment über alles und jeglichen herfallen.“

„Eines Tages wird es hier so sein wie damals auf Europa, als man sich nicht ablenken ließ von den Dingen und immer mit der Strömung des Lebens schwamm, eines mit der Natur und der Weite des Sternenraumes. Wir sind vorangekommen, Kriege hat man auf der Erde fast ausgelöscht.“

„Aber in meiner Abteilung lief ein irrer Mörder rum. Bin wohl ein Glückspilz. Wie dem auch sei, als mir das ganze Ausmaß meines Tuns bewusst wurde, riss ich alles ab, was an meiner Jacke an Abzeichen baumelte. Mag es noch so viele Kuckucke geben, ich werde sie nicht mehr jagen.“

Rat Zarzar nickte, er verstand sie, denn ihre Herzen waren verbunden. Trennung war eine Illusion, die auf der Erde stark genug war, um Gift in die Seelen zu spritzen. Auf der Erde zu leben, bedeutete, immer wieder zu stolpern, sich der Schwerkraft zu widersetzen, gegen Dummheit zu reden, auch ab und an eine Müdigkeit in sich zu spüren, die einen zu Boden drücken konnte. Die stärkste Waffe für die Kinder Europas war ihr Herz. Unzerstörbar geboren – würde es trotzdem immer wieder in den Dreck fallen, sich ängstigen und vor Trauer verbrennen.

Alice sagte: „Der Rat betrachtet zu sehr das Ganze, sodass er das Einzelne zuweilen übersieht. Es gibt da so einen Satz auf der Erde: Weisheit ist nichts; Liebe ist alles. Der Rat schaut auf die Jahrtausende, sieht aber nicht die Minute, er sieht das Schicksal der Völker, aber übersieht die Trauer eines Kindes. Am Ende spielen Tod und Leben keine Rolle, angesichts der Ewigkeit. Liebe und Weisheit sollten wieder ein Paar werden.“

Es piepte. Rat Zarzar zog sein Smartphone hervor.


Gleichgültigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern der Bewacher ab. Sie taten das, was sie zu tun bestimmt waren, ließen ihre Blicke wandern und achteten darauf, dass alle in Reih und Glied standen. Die Ketten, die schwer an den Fußgelenken der Ersten hingen, ließen nur winzige Schritte zu. Gewiss redeten sich manche ein, es ginge in ein anderes Lager. Isabel wusste, solche Gedanken waren Unsinn. Hinter der Tür lag ein Gang, düster und schmal, und er endete an einem Ort, an dem sie alle entkörpert werden sollten. Danach würde man ihre Seele mittels enceladusanischer Technik zerstückeln. Die meisten hier wussten, was passieren würde. Sie zeigten keine Angst, sie wirkten nur müde. „Los, die nächsten fünf!“, rief ein Posten wie unbeteiligt. So leicht war es, jemanden in den Tod zu schicken. Man sagte einfach den ganzen Tag: die nächsten fünf! Nach Dienstschluss ging man heim und aß mit seiner Familie zu Abend, als wäre nichts gewesen. Es sind nur noch zehn vor mir, sagte sich Isabell, zwei Fünfergruppen, in der Dritten bin ich. Ich werde weit fort sein, wenn meine Tochter nach mir ruft. Sehr weit.

„Die nächsten fünf!“, bellte es. Worte wie ein Fallbeil. Man hörte sie und sie taten weh, sehr weh. Da betrat ein Uniformierter mit allerhand silbernen Abzeichen an der Jacke den Saal und rief: „Halt, alles stoppen. Diese Aktion hier ist ab sofort einzustellen!“


„Die Sitzung des Rates wird für beendet erklärt“, bestimmte Chrochro, während von allen Seiten Bewaffnete in den Ratssaal hineingeschwommen kamen.

Der oberste Rat wedelte hektisch mit Flossen und Armen. „Was geht hier vor? Was suchen diese Leute hier? Auch noch mit Kriegswaffen ausgerüstet!“

„Ich erkläre die Regierung von Europa als abgesetzt“, sagte Chrochro mit fester Stimme.

Die Ratsmitglieder schüttelten verwirrt die Köpfe. „Aber Rat Chrochro, was soll das? Wir wurden nicht abgewählt“, sagte der oberste Rat.

„Wegen der schwierigen Situation schien es ratsam, auf zeitraubende Prozeduren beim Regierungswechsel zu verzichten.“

„Ich bitte Sie Rat Chrochro – mit Waffengewalt –, das ist reiner Irrsinn!“

Chrochro schwamm ein wenig aufwärts und blickte nun von oben auf die Mitglieder des Rates. „Der Rat wird vorerst festgenommen.“

„Festgenommen? Das ist ja unmöglich!“

„Doch, es ist möglich. Der Kampf gegen die Ersten war rechtswidrig und entsprach weder den Regeln Europas noch den Gesetzen der Erde.“

„Hören Sie Rat Chrochro, es gab keine Gesetze für diesen Fall, weil dergleichen bis dato nicht vorgekommen war – Körperbesetzung durch diebische Seelen.“

„Damit geben Sie zu, ohne rechtliche Grundlage gehandelt zu haben.“

„Wir mussten doch etwas tun.“

„Abführen!“, rief Chrochro. Seine bewaffneten Gefolgsleute schwammen auf die Ratsmitglieder zu.


„Wichtige Nachrichten“, sagte Rat Zarzar vom Smartphone aufblickend, „ anscheinend sehr wichtige. Irgendetwas von einem Regierungswechsel. Sie werden auf Europa und auf der Erde gesendet, über alle Medien. Könnten Sie bitte ihr Inter-TV einschalten?“

Alice nickte. „Hermes, Inter-TV einschalten, Nachrichtensender!“, rief sie der akustischen Haussteuerung zu. Der Bildschirm an der Wand wurde hell. Zu sehen war Rat Chrochro, beziehungsweise sein digitales Abbild. Man hatte ihm für die Übertragung, die für die Erde bestimmt war, eine menschliche Gestalt kreiert. Die Gesten und Mimik wurden dabei irdischen Gepflogenheiten angepasst, beides wirkte dennoch künstlich. „Ich war Rat Chrochro“, schallte es durch das Zimmer, „ jetzt bin ich kein Rat mehr, da sämtliche Räte abgeschafft wurden. Die meisten Ratsmitglieder haben sich schuldig gemacht, haben geschriebene Gesetze und ungeschriebene Regeln missachtet, insbesondere was den Umgang mit den Ersten betrifft. Momentan bin ich der Präsident der Übergangsregierung, die sich aus aufrichtigen Patrioten zusammensetzt.“

„Haben Sie das gehört? Chrochro ist Präsident!“

„Ich habe es gehört Alice, nur glauben will ich's nicht.“

Chrochro machte eine Pause, schaute dann in die Kamera und damit den Zuschauern direkt in die Augen. „Nach neustem Wissensstand handelt es sich bei den Ersten nicht um minderwertige tierhafte Wesen, vielmehr haben wir es mit äußerst reinen Seelen zu tun. Die Ersten sind eine ursprüngliche und unverfälschte Lebensform. Dagegen hat es sich gezeigt, dass eine nicht geringe Anzahl der Bürger Europas in ihrer Kultur und in ihrem Wesen weitgehend degeneriert sind.“

„Was redet er da?“

„Keine Ahnung Alice.“

Chrochro holte zu einer weitläufigen Geste aus. „Dem wollen wir mit einer politischen Erneuerung entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, wird ab sofort der Ausnahmezustand über die Erde verhängt. Die Staaten der Erde werden vorläufig zu Kolonien erklärt und haben sich somit an die Weisungen der Regierung Europas zu richten. Menschen werden nunmehr nicht als vollwertige Bürger anerkannt.“

„Das ist Wahnsinn!“, rief Alice. „Der Rat hätte das kommen sehen müssen. Ich meine die Linien des Schicksals …“

„Sie wollten es nicht sehen, wollten es nicht wahrhaben“, sprach Rat Zarzar.

„Und die Kraft von Min­-Jee? Sie hat doch die Harmonie gebracht.“

„Nur für die Geister, die bereit dazu waren Alice.“

„Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen“, fuhr Chrochro fort, „wir müssen alles Unreine und Dekadente ausmerzen wie Unkraut. Der Boden muss bereitet werden, damit wir und unsere neuen Freunde – die Ersten – alle Welten beherrschen und heranwachsen zur wahren Krone der Schöpfung, zu Schöpfern selbst!“ Im Hintergrund ertönten frenetische Rufe: „Heil Chrochro, Heil Chrochro!“




Sonntag, 15. Mai 2022

                                              29

Was war unser Glück da groß, dachte es in Isabell. Die Ersten rissen die Arme in die Höhe und strampelten und tanzten toller denn je. Sie waren berauscht von ihren Erinnerungen. Ach war das schön, war das schön, seufzte Isabell, ein eigener Planet! Es war ein Eisplanet. Seine weiße Oberfläche warf das Licht der Sonne weit hinaus ins All. Ein Diamant in der Finsternis. In seinem unterirdischen vom Kern erwärmten Meer schwammen bald zahlreiche Tiere herum, alle von uns kreiert. Von allen diesen aber blieb unser Erstlingswerk das schönste. Wenn immer das Schöpferding es erblickte, zeigte es sich gerührt von dessen Grazie und Putzigkeit. Normalerweise trug der Alte ja einen Stein, wo bei anderen ein Herz pochte, beim Anblick unseres Tieres wurde er weich. So sprach er: „Euer Tier ist so lieb und drollig, dass ich ihm eine größere Seele einhauchen will, auf dass es klug werde, und etwas darstellen kann auf eurer Eiswelt.“

So geschah es auch, und unser Geschöpf wurde uns recht ähnlich. Na ja, vielleicht wurde es ein wenig verdorben durch die Seele, die in seinem Körper hauste, derweil sie vom Schöpferding kam. Es hat daran wohl etwas manipuliert. Unsere Tiere zeigten sich mit einem Male zu anständig, wurden pedantisch und machten sich unsinnige Gedanken über das, was wohl richtig wäre und was falsch, anstatt einfach zu leben. Da sie aber vor allen Dingen ein Werk unserer Kraft waren, steckte in ihnen auch viel Gutes, wie zum Beispiel die Freude daran, Macht auszuüben.

Wenn die Freiheit, die wir ihnen lehrten, auf die Begrenztheit ihrer Seele stieß, konnte das natürlich zu Konflikten führen. Um sie zu heilen, flüsterten wir ihnen im Wachen wie im Schlafe unsere süßesten Lieder in die Ohren. Wir Kinder des Geistes liebten die Kinder des Fleisches, sie waren so klug und so dumm, so leichtsinnig, obwohl sie schwer an ihren Gedanken trugen. Alles im allem gediehen sie recht prächtig, wurden immer klüger, bauten Städte und entwickelten sogar Maschinen. Ihre Gehirne wuchsen, ihr Geist reifte. Bald konnten sie mit bloßem Willen Materie verformen, aus ihrer Welt heraustreten und die Zeit als Ganzes überblicken.

Es kam der Moment, da rief der Alte uns zu sich, fuchtelte bedeutungsvoll mit den Tentakeln herum und blickte uns derart intensiv mit seinem monströsen Auge an, dass es uns ganz bange davon wurde. Er sprach: „Die ist ja schon rot, die Sonne meine ich, um die euer Eisplanet kreist. Die hübschen Tiere, die so klug geworden sind, müssen bald auswandern; wenn die Sonne erloschen ist, erlischt alles Leben in diesem Sektor. Es gibt ein Sonnensystem, das gut ist. Dahin solltet ihr sie leiten. Das ist ja ein Leichtes für euch, da ihr ihnen mit leiser Stimme zuraunen könnt. In der Nähe der Erde, die ich mit allerlei Leben bevölkert habe, kreisen Planeten mit Eismonden um die Sonne. Dort ist ein idealer Platz für eure pfiffigen Tiere.“

Es kam dann auch so. Nach der langen Reise unserer Lieblinge zum fernen Sonnensystem spalteten sie sich in drei Gruppen auf. Einige besiedelten Europa, andere wiederum Enceladus, und verdammt ja, auch die Erde wurde Heimat für so manche. Wenn das nicht mal schon alles so geplant war vom Schöpferding, vom alten Gauner! So, jetzt hockten einige von unseren süßen Dingern auf dem Lieblingsplaneten des Alten, auf dem es wimmelte wie verrückt und auf dem seine Kreaturen sich den lieben langen Tag gegenseitig auffraßen. Aber das Schlimmste, was zu befürchten war, blieb aus: Der Alte mischte sich nicht ein. Wer hätte das gedacht? So konnten die neuen Erdenbohner in Ruhe ihr Leben fortsetzen. Er nannte sie Menschen, um sie vom Getier, das allein er geschaffen hatte, zu unterscheiden. Während die Bewohner der Eismonde sich immer weiter entwickelten, trat bei den Menschen ein Rückschritt ein, wohl, weil es recht schwierig war, sich an die dortige Tier- und Pflanzenwelt anzupassen. Dennoch zeigten wir uns, die wir aus dem schönsten Tentakel des Schöpferdinges gemacht wurden, recht zufrieden mit der Erde. Den Alten mochten wir dagegen immer weniger, hatte er doch unser Werk ein klein wenig verdorben. Also da kann einer sagen, was er will: Irgendwie wurden die Seelen manipuliert, bevor er sie unseren Geschöpfen eingesetzt hat. Und nicht nur das! Diejenigen unserer Kreaturen, die auf der Erde ihre Heimat gefunden hatten, wurden von der Strahlung des Planeten erfasst und verändert. Es war immerhin der Planet des Schöpferdinges. Hier kreuchten und fleuchten seine Tiere wild und dumm, so etwas musste ja abfärben! Auch bekamen wir heraus, dass er uns imitieren wollte. Er hatte vor, Wesen zu erschaffen, gleich unseren, nur etwas mehr nach seinen Vorstellungen. Das würde ja schrecklich werden, sagten wir uns und lachten halb darüber, halb wurde es uns aber auch bange angesichts dieser düsteren Zukunft. Ein griesgrämiger Moralphilosoph, verbissen und verbittert, wollte intelligente Wesen schaffen. Was konnte daraus werden – außer Monster? Das mussten wir verhindern!

Wir sahen seine Pläne – fürchterlich! Wir stellten ihn zur Rede, erklärten ihm, wie schrecklich sich seine geplanten Geschöpfe gebärden würden. Gewiss, wir waren aus einem seiner Tentakel entstanden, seinem schönsten wohlbemerkt, aus diesem transdimensionalen Stoff, mit dem er in die Welten hineingreifen konnte. Insofern waren wir ein Teil von ihm. Aber was der Alte vorhatte, befremdete uns sehr. Er wollte Geschöpfe gleich unseren schaffen, nur besser, wie er meinte, absolut voraussehbare Wesen, gleich abgeschliffener geometrischer Formen ohne Ecken und Kanten. Sie würden in einer Art von mathematischer Harmonie leben, ohne quälende Fragen, ohne Zweifel und ohne Fortschritt. Kaum entstanden wären sie schon am Endpunkt der Entwicklung ihrer Spezies angelangt. Als der Alte sein Werk fast vollendet hatte, verhinderten wir dieses Elend. Wir zerfetzten die Erbanlagen, die er zusammengebraut hatte, zerstörten die Struktur der Energiepartikel, aus denen ihre Seele geformt werden sollte. Diese scheußlichen Kreaturen – dem Wahn des Schöpferdinges entsprungen – konnten die Welt nicht mehr verseuchen! Da wurde das Schöpferding, das alte Biest, äußerst zornig. Halb senil, halb vom Größenwahn zerfressen schlug es mit seinen Tentakeln um sich. Wo wir getroffen wurden, da zermahlte und zersplitterte es uns, bis unsere Seelen in winzige Stückchen zerfielen und sich im Weltenraum verteilten. Und eine Seele, wenn sie zerstampft wurde vom Schöpferding, das ja auch immer ein Zerstörerding war, brauchte viel Zeit, um zu heilen. Dazu mussten etliche Partikel, von denen ein jedes im bewusstlosen Sehnen nach seinesgleichen strebte, sich verklumpen, bis ein zuerst stumpfes Gewahrsein entstand, aus dem wieder ein kleiner Geist erwachsen konnte.

Und dann, nachdem wir kleine Geister geworden waren, weit entfernt von unserer einstigen Größe, erschufen sie Leiber. Sie, die wir einst erschaffen hatten, unsere geliebten Wesen. Nur Hüllen haben sie gemacht, fast leer, hohle Tiere, gesteuert von wenigen Instinkten. Sie hatten sie für ihresgleichen erfunden, als Körper für den Geist jener, die auf der Erde bleiben wollten. Aber sie brauchten diese Körper bald nicht mehr, sie wurden nutzlos. So nisteten wir uns in sie ein. Ein unbewusster Akt, ein Drang kleiner Seelen ins Fleisch zu fahren, herumgeschleudert zu werden im Kreislauf von Werden und Vergehen. Eine Weile konnten wir unbehelligt in den Wäldern der Erde leben. Wir entwickelten uns weiter, da sich immer mehr Seelenteilchen ansammelten. Noch waren wir weit davon entfernt, uns an alles zu erinnern oder annähernd zu unserem einstigen Glanz aufzusteigen. Wir wussten nicht mehr, woher wir kamen. Als man sich an uns besann, besser, an die Körper, die man geschaffen hatte und nicht mehr brauchte, fand man, wir seien zu wild und zu gefährlich, um in Freiheit zu leben. Also wurde ein Plan entworfen, wie man uns sich nützlich machen könnte. Folglich legten die Menschen uns in Ketten und trieben uns, aufgestachelt von ihren Göttern, zur Sklavenarbeit an. Wir schleppten Steine und stapelten sie übereinander, bis gewaltige Bauwerke mit den Bergen um Höhe wetteiferten. Immer noch nicht wussten wir, wer wir waren. Es fehlten uns etliche Seelenteilchen, die der Alte in blinder Wut überallhin zerstreut hatte.

An manchen Orten auf der Erde fanden wir Gefallen an den Menschen, ja wir paarten uns sogar mit ihnen. Das machte ihre Götter zornig und sie vertilgten uns aus ihrer Welt. So tauchten wir ins Reich der körperlosen Wesen ein. Auch dort verstand man es, uns gefügig zu machen. Um den energetischen Planeten, auf den man uns verbannte, zog man eine für uns unüberwindbare Mauer. Wieder wurden wir zu Gefangenen. Als einzige Verbindung zur Erde blieb uns ein telepathischer Kontakt zu den Menschen, die uns ähnlicher waren als die Kreaturen der Eismonde. So war es. Nun breitet sich die ganze Geschichte vor mir aus. Alle Teile sind an der richtigen Stelle, dachte Isabell. Diese Erinnerung glich einem Wunder. Dieses Wunder, diese Vision war nicht allein zu ihr gekommen, auch zu allen anderen im Raum. Die Trance hatte die Tore dazu aufgerissen, weil die Zeit reif dafür war. Alle in dieser modrigen Halle wussten, wer sie wirklich waren. Offenbar hatten sich im Laufe der Jahrtausende genügend Seelenteilchen zusammengefunden, um wieder in jedem Einzelnen eine vollständige Seele zu bilden. Die schreckliche Wunde, geschlagen vom Schöpferding, durfte heilen, zumindest hier, an diesem Ort. Bald würden es alle von ihnen erfahren, bald würden sie sich stolz erheben können. Die Vision ging weiter: Leiber erblickt sie, gebunden und zerrend an Ketten. Münder schreien, Muskeln spannen sich an, Ketten reißen, die Geschundenen stürmen ins Freie, üben Rache an ihren Peinigern. Blut sieht Isabell, Körper – zerfetzt und aufgerissen, seelenlos.

Das Gemäuer lebt. Die Ersten werden von neuen Bildern und Emotionen überschwemmt. Sie singen, jaulen, Tanzen immer weiter. Ich sehe Felder, sagt sich Isabell, Leichenfelder, Schlachtfelder. Wir tanzen durch Blut, durch Tränen hindurch. Es ist sinnlos. Wir haben sie erschaffen, obwohl sie glauben, wir wären ihr Werk. Es sind unsere Geschöpfe, sie Leben auf Enceladus, Europa und der Erde, und wir haben nichts anderes zu tun, als sie zu ermorden! Wir sind nicht besser als der Alte, als er damals unsere Seelen zerschlagen hat.

Vor ihr erschien ein Bild des Alten. Er hatte sich in eine seiner langweiligen Welten zurückgezogen und kauerte in einem düsteren und frostigen Winkel. Um ihn herum kreisten vierdimensionale Quader auf einer ewig gleichen Bahn. Blöd glotzte er aus seinem trüben Auge und die Tentakel rührten sich kein bisschen. Er schien altersschwach und lag im Sterben. Er war allein, vielleicht sogar einsam. Der große Baumeister und Weltenschöpfer verreckte und es kümmerte niemanden! Unzufrieden mit sich und seinen Kreaturen war er zu einem bösen Wesen geworden. Sein großes Talent vergeudend wollte er alles kontrollieren, bis ihm gerade dadurch vieles entglitt. So manche haben ihn gefürchtet, einige bemitleidet, aber Liebe, Achtung und Respekt wurden ihm kaum zuteil. Und nun gaffte dieses einst so mächtige Wesen mit seinem großen Auge durch die Räume der Welt und begutachtete sein Lebenswerk. Es ödete ihn an. Wahrscheinlich wurde ihm übel davon. Die toten Welten, überzogen mit bläulichen Kristallen und blassen Eisblumen lagen vor ihm ausgebreitet als erstarrte Kleinodien, geschliffene Diamanten, deren Schönheit immer gleich blieb und somit langweilte. Und überall dort, wo etwas lebte, schwamm, flog, meckerte oder sang, herrschte Undankbarkeit ihm gegenüber, wenn nicht gar offene Feindschaft. Irgendwann hatte das alte Schöpferding es aufgegeben, Leben zu schaffen, wahrscheinlich, nachdem es uns, seinen ersten Geschöpfen, die Seelen wie verhasste Spiegel zerschlagen hatte. Er hatte Welten kreiert und verwarf dann das, was aus ihnen hervorgegangen war. Am Ende verachtete er sich selbst und kauerte sterbend in seiner eigenen Hölle. In all deiner Macht warst du nicht mehr als ein schwaches Wesen, hast Milliarden große Dinge geschaffen und bliebst doch winzig! Nun liegst du da, verkrochen in einer schäbigen Ecke der Unendlichkeit, und kratzt ab. Wir aber werden leben, wir sind das, was von dir bleiben wird. Der Rest verfault. Keine Träne werden wir dir nachweinen, kein zartes Wort wird man für dich verschwenden, alter Narr! Ich sehe: Dein Leib, er zuckt noch einmal, er verwest, dann schluckt ihn die Quelle, die in der Mitte von allem wohnt. Es bleibt nichts übrig von dir. Wir aber sollten nicht in seine Spuren treten, sollten weit vom Stamm fallen! Sollten das einzig Gute bleiben, was der Alte je hervorgebracht hat. Sie, unsere schönen Kinder von Europa, sie könnten für uns neue Körper erschaffen, wir könnten über unser böses Erbe hinauswachsen. Die Kinder müssen abwerfen, was die Eltern an ihnen verdorben haben.

Zwei Dutzend haben beim Tanz von der Wahrheit erfahren. Nun müssen wir hinausgehen, hinein in die Welt, den anderen sagen, was wir wissen, ihnen sagen, wer wir sind!

Isabell hob die Arme und schrie den Ruf der Freiheit. Sie traten berauscht ins Freie. Sie trugen ein neues Wissen und eine neue Botschaft im Herzen. Eine gute Zeit würde anbrechen.

Montag, 9. Mai 2022

                                             28

Als sie Feierabend hatte, erinnerte der Himmel an ein Dach aus verschmutztem Glas. Bevor Alice nach Hause ging, wollte sie noch einige Sachen kaufen: Obst und Kekse vor allem. Die Lebensmittel auf der Erde schmeckten ihr mittlerweile so gut wie der Seetang auf Europa. Sie lenkte ihr Auto ins Parkhaus des Einkaufszentrums. Die unteren Decks waren trotz der späten Stunde recht voll, so musste sie bis nach oben fahren. Dort standen nur wenige Fahrzeuge und sie fand rasch einen freien Platz. Sie stieg aus dem Wagen. In diesem Moment schlug etwas in ihrem Inneren Alarm. Sie spürte keine Angst, die Linien des Schicksals sahen keinen Tod voraus, zumindest nicht ihren. Das Licht flackerte. Sie konnte sich nicht erklären, warum. Hatte das Schicksal einen Sinn fürs Ambiente? Waren die elektrischen Leitungen einfach nur marode. Stille. Geräusche, als würde jemand zart mit den Fingern über Papier fahren, dann ein Kratzen, aufdringlich aus unbestimmbarer Richtung. Heftiges Atmen, schlürfende Schritte, Knurren und Grunzen. Nun werden sie sichtbar, treten ins flackernde Licht. Es sind welche von den Ersten. Sie haben sich zusammengerottet, schwimmen in einer diffusen Wolke aus Hass und Wut, degenerieren ins Tierhafte. Einige von ihnen reißen die Münder weit auf, die schon vielmehr Mäuler sind als alles andere. Sie schreien, halb sind es Drohlaute, halb Schmerzensgesänge verlorener Seelen. Sie speien die Qualen des Daseins aus wie siedendes Pech. Automatisch formt sich in Alice dieser eine aggressive Gedanke, der die Klammer formt, mit der sie und die ihren bereits vor Jahrtausende die Biester unter Kontrolle gehalten hatten. Mit der Klammer greift man ihnen ins Gehirn, mitten ins Schmerzzentrum hinein, lässt sie sich winden, bringt sie zum Heulen, mach sie sich gefügig, wirft die Brut in den Staub nieder, in die Ohnmacht, in die Abhängigkeit. Gewiss, es sind zu viele, die Klammer kann immer nur einen von ihnen ergreifen, quälen und unterwerfen. Hätte sie eine der Kreaturen in der Klammer, wäre es möglich, den anderen nebenbei die Beine zu brechen, die Arme zu verdrehen, schneller als sie sich heilen könnten. Aber nein, es sind zu viele. Einige würden übrig bleiben, sich auf sie stürzen. Auch kann sie keinen Tunnel rippen, die Zeit ist zu knapp. Kein Fluchtweg. So hofft sie, dass sich die Experimente mit LSD gelohnt haben und die Droge ihr dabei geholfen hat, das Bewusstsein auf die Erbanlagen auszurichten. Biologische Umprogrammierung. Die Bluse reißt sie sich vom Leib, der BH landet auf dem Boden. Sie streckt sich, hebt die Arme. Schon sprießen sie aus ihrem Rücken: Flügel. Gewaltig fächern sie sich auf. Wirr greifen die Ersten mit den Händen nach oben. Es ist sinnlos, sie ist schon viel zu hoch und schwebt wie ein Adler über ihren Köpfen. Aber es gibt keinen Ausweg, sie kann nicht hinausfliegen. Vor den Türen steht der Feind mit hassverzerrten Gesichtern. Noch schwebt sie in der Luft, strahlend und beeindruckend, ein Renaissance-Engel, gemalt in leuchtenden Ölfarben auf finsterem Grund. Natürlich kann sie nicht für immer und ewig hier herumflattern, irgendwann wird sie zu Boden taumeln wie ein mattes Insekt. Hundert Krallen und Zähne würden sie dann zerfetzen. Aber in ihr steckt eine Kraft, die ihrem Herzen angeboren ist, eine Macht, von der die Weltenlenker auf Europa sagten, sie sei die mächtigste Waffe, über die man verfügen könne. Und sie blickt auf die Kreaturen hinab. Wie toll springen sie umher, voller Zorn. In ihnen kocht schmerzende Erinnerung, brodelnd wie Lava. Etwas ergreift Alice´ Herz. Alle Grenzen zwischen den Wesen da unten und ihr sind weggefallen. Das Leiden der Ersten wird zu ihrem eigenen. Sie nimmt es auf mit weiter Seele, diesem Himmel aus Bejahung und Geborgenheit. Alice leuchtet, ein Stern, der in Liebe brennt. Ihr Herz ist Feuer. Geblendet warfen die Ersten sich auf den Bode. Sie schreien, denn aller Schmerz, der in ihnen ist, bricht sich Bahn. Sie wimmern, vergießen Tränen. Ihre Mordgier ist erloschen – vorerst. Noch einmal leuchtet Alice´ Herz auf, liebt ohne Frage und Vorurteil, sodass sich alles weitet und die gesamte Etage grenzenlos erscheint. Sie zieht einen Kreis über die kauernden Leiber, über Seelen, die in Gefühlen ertrinken. Ihre Flügel fächern einen seltsamen Wind über sie hinweg. Nun bleibt ihr die Zeit, in aller Ruhe ein Loch in die Wand zu rippen, – vor den Türen liegen viele der Ersten herum, dass sie diese verstopfen. Mit eingefalteten Flügeln spaziert sie hinaus. Ihr war es gelungen, die Form des Menschenkörpers an die Situation anzupassen, und das mit enormer Geschwindigkeit. LSD und die Theorien von Doktor Leary hatten ihr das Tor dazu geöffnet. Wichtigerer noch ist: Sie hat ein Mittel gefunden, womit man die gefährliche Wut der Ersten ausschalten konnte. Sie wusste allerdings nicht, für wie lange.


Unter der Menschenhülle lauerte etwas anderes. Es regte sich darunter ein Leben, dem die Haut zu eng wurde. Es wollte sich weit über die Grenzen, die ihm gesteckt waren, ergießen, sich aufblähen und zur vollen Größe erheben. Der Menschenleib, all die Erinnerungsfetzen, die nichts mit ihr zu tun hatten, das waren nur Krücken, die sie fortwerfen musste, eines Tages. Isabell lief ziellos umher, obwohl sie ein Ziel hatte, es lag in ihr und würde sich bald offenbaren. Etwas hatte sie ergriffen und zog sie an. Nicht allein die menschliche Hülle war eine Maske, eine dreiste Lüge, auch die Erinnerungen an die Versklavung auf der Erde und an dem Planeten ohne Namen, um den die Enceladusaner eine Mauer aus Energie gezogen hatten – alles Lüge, eine unvollendete Episode der Schmach, hinter der eine ruhmreiche Geschichte voller Glanz und Herrlichkeit liegen mochte. Der Mond hing wie ein blindes Auge über den Dächern. Isabell lief weiter, vertraute ihren Beinen. Die plumpen Gemäuer alter Fabriken erhoben sich vor ihr. An den Backsteinen der Gebäude wucherte Moos und eine faulige Feuchtigkeit bedeckte alles, ein dünner Film von Vergänglichkeit. Der Wind pfiff um die Ecken, ab und zu heulte er wie ein Wolf. Unermüdlich schien eine Kette an ihr zu zerren, sie zwang ihren Leib durch einen löchrigen Zaun hindurch. Als sie weiter rannte, zerkratzte sie sich die Arme an dornigen Büschen. Bald stand sie vor einer morschen Tür. Behutsam drückte sie dagegen. Sie atmete schnell. Die Tür ächzte in den Scharnieren. Vor ihr tat sich ein Gang auf, beschienen vom Mondlicht, das durch ein zerbrochenes Fenster fiel. In den Ecken lauerten halb tote Spinnen auf Beute. Ihre Netze baumelten zerfetzt und staubig herab. Isabell musste weiter, die unsichtbare Kette zog unerbittlich an ihr. Dann kam der Punkt, an dem sie instinktiv Halt machte. Tausend Gewichte, die sie zuvor geschleppt hatte, fielen von ihr ab. Eine befreiende Wut durchspülte sie, wusch sie rein. Die Halle, in der sie sich wiederfand, war mehr als geräumig. Es roch nach Maschinenöl und Schweiß, beides seit Generationen in den Steinboden gesickert. Isabells Augen mussten nicht lange suchen, bis sie die Ihren erblickte, ihre Schwestern und Brüder. Sie hatten sich hier versammelt. Es roch nicht nach Fleisch, hier ging es nicht um Rache, nicht um Blut. Die Augen der anderen Ersten funkelten wie eine Finsternis, die man mit schwarzer Flamme am Beginn der Welt entzündet hatte. Münder klappten auf, Töne flogen aus den Kehlen, woraus ein Gesang erwuchs, mal ein Brummen, mal ein Jodeln, bis die Wände zitterten. Die Ersten sprangen herum, schnitten Grimassen und lachten und lachten. Und die Weiber, Weiber, wie sie eines war, lockerten die Blusen, hoben die Röcke und schmissen die Beine zum Tanz. Alles drehte sich, kreiste taumelnd durcheinander, Hände klatschten, Füße stampften. Isabell wurde vom Takt ergriffen, verbog zappelnd die Glieder, steckte die Zunge heraus, wackelte mit den Hüften. Ihre Arme wurden zu Kobras, ihr Haar flog wie eine Peitsche durch die Luft. Der Tanz hatte sie alle gepackt und schüttelte die Leiber durch. Die Trance begann.

Es erschien Isabell, als würden Teile in sie hineinfallen, Teile, die zu ihr gehörten, aber vor langer Zeit verschollen gegangen waren. Vor ihr lag ein gewaltiges Puzzle und von oben herab regneten immer neue Stücke, diese vervollständigten, indem sie sich in die Lücken fügten, das seltsame Spiel aufs Wunderbarste. So nahm das innere Bild nach und nach seine ursprüngliche Gestalt an. Die Wahrheit loderte auf, vertrieb die Schatten der Illusion. Gleich einer Landschaft lag die Geschichte der Ersten vor ihr ausgebreitet. Berge stießen ihre Spitzen in den Himmel, wild brauste ein Fluss dahin. Der Fluss in dieser Landschaft entsprang, wie es alle Flüsse tun, einem Bach, der Bach wurde von der Quelle geboren. Die Quelle aber war Tief und dunkel und nichts und niemand hatte sie geboren oder erschaffen. Sie kam aus sich selbst heraus, wie alles aus ihr kam. Was aber aus ihr kam, hatte eine Begrenzung, sie dagegen hatte eine Tiefe, aber keinen Grund. Sie war zart wie das Nichts und so groß wie alles, was existierte. Wenn sie still war, bemerkte man sie nicht, wenn sie sich bewegte, konnte sie ganze Heere niederstrecken. Rührte sie sich sanft, war sie gleich einem Windhauch, der mit den Schmetterlingen tanzte. Am Anfang allerdings gab es weder Heere noch Schmetterlinge.

Aus der Quelle kam als Erstes das große Ding gekrochen. Es besaß Tentakel, die durch etliche Dimensionen reichten. Die Dimensionen kamen ebenfalls aus dem Ding. Sie waren wie zusammengefaltetes Papier. Das Ding faltete nach und nach das Papier auf, dann wurde das Papier RÄUME genannt. Und weiter erzählte der Gesang, der aus den Kehlen der Ersten strömte, davon, dass das Ding bald keine rechte Freude mehr in seinem Tun fand. Nachdem es unzählige Räume erschaffen hatte, verbitterte es immer mehr. Irgendwann, als es seine leblosen Welten durchstreifte, in denen feinstoffliche geometrische Formen ihre Bahnen zogen, ergriff es kurz entschlossen seinen schönsten Tentakel und machte aus ihm die Ersten. Von da an waren die Ersten sein schönster Tentakel. Er schaute zuweilen in ihre Seelen hinein und sah und empfand alles das, was die Ersten erlebten. Somit dienten sie ihm als Sinnesorgan.

Ach, was für eine Freude waren wir ihm, dachte Isabell und tanzte weiter in einem Rhythmus, der älter war als die Welt. Wir spielten und lachten und wir waren viele und wir hatten Spaß an den Räumen mit den Würfeln und Pyramiden. Wir staunten, wie sie endlos Schleifen zogen. Lange sahen wir dem Schöpferding zu. Säuberlich vermass es seine Welten, entfernte dort eine Kugel und platzierte hier sorgsam einen Quader. Wenn es seine Gebilde anstieß, zirkelten sie umeinander in für die Ewigkeit festgelegten Bahnen. Und wir, wir waren seine gelehrigen Schüler. „Und dann“, schrie einer in die Erinnerung hinein, die sie offenbar alle miteinander teilten, „war es soweit: Wir konnten schaffen, genauso wie das Schöpferding!“

Aber das Schöpferding hatte auch etwas von uns gelernt, wusste Isabell, nämlich, dass es mehr gab als Kugeln und Quader, die sich in exakten Bahnen bewegten, sondern, dass ebenso ein Durcheinander existieren konnte. Wenn viel Zeug um einen herumwirbelte, ging rasch der Überblick verloren. Dann war es möglich, sich vorzustellen, man wüsste nicht, was als Nächstes käme. So erschuf das Schöpferding eine Welt, die anders sein sollte als alle, die es zuvor entworfen hatte. Dort schrumpften Räume, Energie verklumpte, Formen nahmen an Gewicht zu und zogen einander an, wurden zu Gas, zu Feuer, zu Eisen und und Stein. Ein Ding konnte zudem immer nur an einer Stelle sein, an dem kein anderes Ding sich befand. Dieser neue merkwürdige Raum besaß obendrein eine recht kuriose Eigenschaft: Alles in ihm geschah in einer gewissen Reihenfolge, eines kam aus dem anderen hervor, wohlsortiert, ab und zu zerfiel ein Ding, und der Tod des einen war der Beginn des anderen. Das nannte man später Zeit. Natürlich war es zuvor schon möglich gewesen, etwas im Raum zu ordnen, wobei man das Ganze immer überblicken konnte. In dieser neuen Welt verlor man jedoch leicht die Orientierung. Immer gab es ein Vorher, dass nicht mehr greifbar war, und ein Nachher, das ebenso wenig Substanz hatte. Deswegen verweilte man in einem Jetzt, das, sobald man es fassen wollte, sich geschickt zu entwinden verstand. Oftmals wurde einem schwindlig davon und man musste aus dieser Welt heraustreten, um wieder klar sehen zu können. Aber irgendwie, erinnerte sich Isabell, fand man das recht lustig. So als würde ein Kind „Blind“ spielen, dann die Augen aufreißen und darüber lachen.


Das große Schöpferding hatte einen recht grimmigen Sinn für Humor, falls man es überhaupt Humor nennen konnte: Es erschuf Wesen aus diesem schweren verklumpten Zeug, woraus seine neuste Welt bestand. Dann ging es zur ewigen Quelle und trank. Anschließend spie es Seelen aus, so winzig, dass man sie kaum ein Etwas nennen konnte. Aber sie reichten aus, um das Zeug zu beseelen, das sich gegenseitig anzog und mit der Zeit vergammelte. Es zappelte und krabbelte bald auf irgendeinem Ball in der Nähe eines durchschnittlichen Sternes, es schwamm und flog, wurde geboren und starb. Der Alte hatte seltsame Maschinen geschaffen. Sie fraßen sich gegenseitig auf, wenn sie sich nicht grade vermehrten. Dass es jetzt so wimmelte und alles durcheinander kam, gefiel uns. Und als wir uns einmal alle trafen und plauderten, kam uns die Idee, auch solche lustigen Teilchen zu machen. Wir könnten es gewiss so gut wie das alte Schöpferding. Gesagt, getan: Wir konzentrierten uns auf unsere Arbeit, schraubten unermüdlich Aminosäuren zusammen und spielten mit Basentripletts herum. Bald hatten wir, kreativ wie wir waren, einen Prototyp fertiggestellt. Also mir hatte er gefallen, erinnerte sich Isabell, obwohl einige meckerten. Unser Ding sei nicht so grazil wie die Libellen, die das Schöpferding kreiert habe, hieß es, auch seine Fische überträfen unser Werk an Schönheit. Dem ungeachtet zeigten wir dem Schöpferding das Ergebnis unserer Arbeit. Es zog kritisch sein einziges Augenlid zusammen, sodass sein gewaltiges Auge dabei fast verschwunden wäre. Gewiss fand der Alte gefallen an unserem Ding, aber er sagte es nicht. Er war und blieb ein verbitterter Eigenbrötler. „Na gut, für Anfänger recht ordentlich“, murmelte er, „mehr kann man nicht erwarten von euch Kindern. Ihr müsst aber in eurem Ding noch eine kleine Seele hineintun. Alles, was lebt, muss beseelt sein.“

Wir sahen uns an und wurden traurig, denn so etwas konnten wir nicht bewerkstelligen. Der Alte musste wohl einen guten Moment gehabt haben, denn er sagte: „Na gut, eine kleine Seele kann ich euch leihen, so groß wie bei den Salamandern.“ Er pustete dann tatsächlich eine Seele in unser Werk hinein. Es zuckte nun ganz anders als zuvor, es schien ein Ziel, eine Richtung zu haben. Es lebte! Was war das für eine Freude, unser eigenes Spielzeug gemacht zu haben! Ein wenig betrübt waren wir allerdings, denn der Alte wollte nicht, dass unser Spielzeug mit auf der Kugel lebte, auf der seine beseelten Klumpen sich beständig vermehrten und auffraßen. „Das müsst ihr verstehen“, erklärte er, „hier ist alles aufeinander abgestimmt. Aber ich will großzügig sein: Ihr bekommt eine eigene Kugel.“

Dienstag, 3. Mai 2022

                                        27 

 


Nachdem Karen Isabell zu Bett gebracht hatte, und sie nun in ihrem eigenen Bett lag, schaute sie in sich hinein, bis tief ins Dunkle, wo zart die Fäden des Schicksals glimmten. Sie sah keine Gefahr. Niemand würde heute Nacht ihr Zimmer betreten. Sie konnte beruhigt einschlafen. Da hingen auch andere Fäden vor ihrem Auge, aber sie war zu müde, um auch noch diese zu betrachten. Wichtig war nur: Sie würde sicher schlafen können. Trotz der Ersten nebenan. Und der Schlaf kam, nicht schnell und nicht tief, er kam mit wirren Bildern.

Der Wecker summte, die Träume verblassten. Die Sonne schob ihr Licht durch die Spalten des Vorhanges. Es war Tag geworden. Karens Augen starrten auf das kalkige Weiß der Zimmerdecke. Sie wusste sofort: Etwas stimmte nicht. Sie spürte ein einziges Wesen in der Wohnung: sich selbst. Keine Spur von ihrem Gast. Trotz dieser Gewissheit sprang sie auf und rannte durch jedes Zimmer. Isabells Taschen standen in einer Ecke. Wo aber trieb Isabell sich herum?


Einen Moment zögerte er, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Nichts konnte den Lauf der Gerechtigkeit aufhalten. Beherzt drückte Heinz Wasserkopp die Klinke nach unten und betrat das Büro. Rasch zog er die Tür hinter sich zu. In der rechten Hand hielt er eine Pistole. Er war sich nicht sicher, was er damit tun sollte. Normalerweise verstärkte eine Waffe seine Autorität, hier aber war sie nicht mehr als ein überflüssiges Utensil. Da saß sie nun am Schreibtisch und blickte zu ihm auf, gelassen, selbstbewusst. Die Pistole beeindruckte sie nicht im Geringsten.

„Sie müssen sich nicht extra die Mühe machen, die Waffe auf mich zu richten. Ich habe soeben deren Mechanismus blockiert“, sagte Frau Major Stein-Lumen betont sachlich.

Er ärgerte sich. Hätte er sofort geschossen, wäre der Gerechtigkeit womöglich schon Genüge getan. Aber was machte es schon aus, dass es so kam, wie es gekommen ist? Wahrscheinlich wäre es ihm wieso nicht möglich gewesen, zu schießen. Alles, was er tun würde, konnte sie voraussehen und verhindern. „Natürlich haben Sie mich längst erwartet“, hauchte er heiser und es passte ihm nicht, dass seine Stimme kraftlos wie die eines greisen Souffleurs in einem Provinztheater klang. Eigentlich wollte ja er das Ruder übernehmen!

Sie fixierte ihn mit Augen, die von innen her beleuchtet schienen. „Allerdings, ich habe gespürt, dass sie kommen. Ich wollte Sie ja wieso, zu mir rufen Feldwebel, wegen eines Waffeneinsatzes gegen ein Kind.“

Er dehnte seinen Brustkorb. Das war sein Stichwort – das Kind. „Ohne Waffeneinsatz hätte mir Kuckucksgöre entkommen können. Wäre das passiert, wären Sie nicht aufgeflogen. Sie sind aber aufgeflogen. Verräterin, Sie! Schämen sollten Sie sich, schämen! Ich bin hier, um Ihnen das mitten ins Gesicht zu sagen.“ Na ja, eigentlich wollte ich sie erschießen, dachte er. Mist! Sie konnte ja, wenn sie wollte, seine Gedanken lesen. In dieser Situation tat sie das sicher. „Das Mädchen hatte eine Adresse bei sich. Erst wollte ich ja nur ihre Eltern aufspüren, dann ist mir eingefallen, dass ich mal gehört habe, sie würden auch in der Gegend wohnen. Plötzlich hat sich alles zusammengefügt. Das andere Mädchen, das bei ihr war, hatte von einer Majorin gefaselt. Offenbar Ihre Tochter, nicht wahr? Da ich die Adresse ja wusste, habe ich das Haus beobachten lassen. Als es leer war, wurde es verwanzt. Die beste Idee, die ich je hatte. Es dauerte nicht lange und die Mutter des Mädchens kam zurück. Bald darauf klingelten Sie an der Tür. Alles aufgezeichnet. Jedes Ihrer Worte. Damit haben Sie sich Ihr Grab geschaufelt. Sie sind nichts weiter als eine verdammte Verräterin! Sie haben angeboten, dem Feind zu helfen. Das ist Kooperation mit dem Gegner. Sie wussten von dem Umgang Ihrer Tochter. Das hätten Sie von Anfang an zur Meldung bringen müssen. Unglaublich, was Sie getan haben, Sie – in Ihrer Position, ein angebliches Vorbild! Hier!“, er knallte ein Notebook auf den Schreibtisch. „Alles drauf, der ganze Verrat, jedes Wort. Und ich wette, es kommt mehr ans Tageslicht. Bestimmt sind Sie der Kopf der Bande, die uns unterwandert hat.“

„Sie sollten sich beruhigen, es gibt keine Bande, auch keinen Verrat“, sagte sie mit einer Stimme, als würde sie zu einem uneinsichtigen Kind sprechen. „Sehen Sie, meine Aufgabe ist es, eine Lösung für die Schwierigkeiten mit den Ersten zu finden. Dabei steht es mir frei, die Lösungswege auszuwählen.“

„Papperlapapp, das sind doch Ausreden!“, tobte er.

In diesem Moment flog die Tür auf. Hereingestürmt kamen Hauptmann Kullmann und drei seiner Männer, sowie dieser Neuling, mit dem er schon gesprochen hatte, von dem nach und nach durchgesickert war, er sei so etwas wie ein Spezialagent. Drei Pistolen zielten auf Heinz Wasserkopp. Kraftlos ließ er die Waffe fallen. „Hände hoch!“, rief Hauptmann Kullmann.

Er sah den Hauptmann flehend an. „Hören Sie, Sie machen einen Fehler, einen gewaltigen Fehler. Sie müssen sie festnehmen, die Frau Major. Sie ist eine verfluchte Verräterin! Sie arbeitet für die Kuckucke. Ich habe Beweise!“

„Festnehmen und abführen!“, befahl der Hauptmann. Sie legten Heinz Wasserkopp Handschellen an.

„Ihr Narren!“, rief er mit rotem Kopf, „sie trickst euch alle aus. Sie müsst ihr abführen. Am besten gleich erschießen!“

„Ihre Geschichte können Sie später erzählen“, sagte Hauptmann Kullmann.

Sie brachten ihn aus dem Büro. In Heinz entstand ein schrecklicher Gedanke: Sie gehören dazu, alle. Er war hier der Einzige, der nicht für diese verdammten Kuckucke arbeitete!


Andy wandte sich an Alice. „So, das hätten wir hinter uns. Du hast es ja mitgekriegt, er ist vollkommen verrückt. Nach dem letzten Mord sind wir ihm auf die Schliche gekommen. Er hat sich immer im Gebäude befunden, wenn jemand umgebracht wurde. Eine der neu installierten Kameras konnte ihn in der Nähe des letzten Tatortes filmen. Ich bekam heraus, dass er sich seltsam verhielt. Einem Korporal, mit dem er zusammengearbeitet hat, erzählte er ständig von seiner Frau und seiner Tochter. Er schwärmte davon, was er mit ihnen alles an seinen freien Tagen unternehmen würde. In Wahrheit hat sich seine Frau vor vier Jahren von ihm scheiden lassen und ist mit der gemeinsamen Tochter nach Frankreich ausgewandert. Auch darf er seine Tochter nicht mehr sehen, da er einmal versucht hat, sie zu entführen. Offenbar hat er die ganze Sache nicht verkraftet und sich in Wahnideen geflüchtet. Wurde paranoid, sah sich überall von den Ersten umzingelt. Die vermeintlichen Spione hat er dann getötet. Die Morde, die hier passiert sind, hatten nichts mit den Ersten zu tun. Als wir die Wohnung sind wir auf Notizen gestoßen, an den Haaren herbeigezogene Verdächtigungen über künftigen Opfer. Er meinte, wir alle sind nicht hart genug, wenn es gegen die Ersten geht. Schließlich sah er sich auserwählt, den Richter und Henker zu spielen. Selbst dich hat er beschuldigt, er wollte dich töten.“

Alice trommelte mit den Fingerspitzen auf den Laptop, der vor ihr lag. „Er war keine Gefahr für mich.“

„Natürlich nicht, du bist eine Meisterin des Rippens. Jedenfalls, als wir seine Aufzeichnungen gelesen hatten, wussten wir, dass er dich auf seine Liste hatte. Also sind wir sofort hierhergekommen.“

„Gute Arbeit. Wir sollten die psychologischen Tests bei der Mitarbeitereinstellung weiter verbessern. Er hat kürzlich auf ein Kind geschossen. Es ist dem Tod nur knapp entronnen. Sollte es in diesem Fall neue Hinweise oder Beweismittel geben, komm bitte damit zuerst zu mir.“

„Selbstverständlich.“

Alice nickte zufrieden. Sie musste unbedingt die Kontrolle über den Fall behalten. Es ging dabei auch um Isabell und um deren Tochter. Sie wusste nicht, ob Heinz Wasserkopp die Tonaufnahmen, die im Laptop vor ihr gespeichert waren, kopiert und irgendwo gelagert hatte. Das würde sich zeigen. Aber jetzt galt es, noch eine unangenehme Aufgabe zu erledigen. „Setz dich Andy“, sagte sie sanft.

„Das hört sich dienstlich an“, bemerkte er scherzhaft.

„Das ist es nicht. Im Gegenteil, es ist sehr privat. Bevor du es aus den Nachrichten erfährst, möchte ich es dir persönlich sagen.“ Hier schlich sich eine ungewollte Pause ein, da ihr die Stimme wegsackte. „Deine Lehrerin und Freundin Min-Jee ist gestorben. Es waren die Ersten.“

„Meine Güte, ich kann's nicht glauben.“

„Sie war ein wunderbarer Mensch.“

„Das war sie, verdammt, das war sie Alice. Und nun soll sie tot sein, einfach so? Durch sie hat sich alles beschleunigt, der ganze Prozess unserer Evolution. Sie hat das Energiefeld verändert, somit konnten Tausende eine neue Bewusstseinsstufe erreichen.“

„Ja, unsere Energien wurden dank ihr wieder harmonisiert, als sie aus dem Ruder zu laufen drohten. Wir alle, Europäer, Menschen und Enceladusaner haben ihr zu danken. Nimm dir den Rest der Woche frei Andy.“

Er nickte und erhob sich. „Danke, danke dir.“ Gebeugt verließ er das Büro.


Alice griff nach dem Telefon, wählte ein verschlüsseltes Gespräch zum Rat von Europa und ließ sich mit Chrochro verbinden. „Hallo Chrochro! Oder muss ich jetzt Rat Chrochro sagen? Gratuliere zur Beförderung. Du hast es geschafft!“

„Schön, dass du dich meldest. Ich vermute, du willst nicht nur meine Stimme hören.“

„Bei uns ist viel los. Es wurden Morde begangen, hier in unserer Spezialeinheit. Es war einer von der Mannschaft, er ist einfach durchgedreht, ein Paranoider. Sogar mir hat er nachspioniert. Es könnten deshalb Daten über mich existieren, von denen ich nicht wünsche, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen. Ich brauche die absolute Kontrolle über den Fall. Die Behörden auf der Erde sollten keinen Zugriff darauf bekommen.“

„Verstehe, das ist schon zu machen, soweit die Interessen Europas nicht eingeschränkt werden.“

„Ich müsste oberste Ermittlerin in der Sache bleiben, solange, bis ich die Beweise der Staatsanwaltschaft vorlege.“

„Na ja, die Erde hat eine eigenständige Rechtsprechung. Es ist Sache der Staatsanwaltschaft ...“

„Es geht um die Ersten, es geht um die Belange unseres Mondes.“

„Verstehe, wenn das so ist, gelten natürlich höhere Interessen. Mit Sicherheit ist es dann im Sinne aller, wenn die irdische Polizei und die Staatsanwaltschaft vorerst herausgehalten werden, schon wegen der Gefahr, dass die Ersten sie unterwandert haben könnten. Da lässt sich was machen. Ich hoffe, du baust keinen Mist, wie man auf der Erde sagt. Ich halte immerhin meinen Kopf für dich hin.“

„Wird schon schiefgehen. Wie weit ist der Rat eigentlich in Sachen Erste? Ich meine, was die Lösung betrifft.“

„Nun, die Radikalen gewinnen immer mehr Zuspruch. Und irgendwie ist keine andere Lösung in Sicht. Die Ersten werden die Menschenkörper nicht freiwillig aufgeben. Wir haben keine Methode gefunden, sie aus den Körpern rauszukriegen. Bleibt nur der körperliche Tod.“

„Wir könnten sie einige Jahre internieren, vorerst.“

„Zu gefährlich Alice.“

„Und die noch da sind, oben.“

„Auf dem Planeten, die nicht in einem menschlichen Körper stecken? Die werden fragmentiert. Das übernehmen die Enceladusaner, sie pulverisieren die energetische Struktur zu Seelenstücke. Somit verlieren die Ersten ihre Identität und werden zu einem Brei von Gefühlen, Gedanken und Trieben. Was bleibt, ist ein willenloses Etwas, eine blubbernde Suppe, kurz unterhalb der Bewusstseinsschwelle dahinvegetierend. Das gleiche Schicksal wartet auf diejenigen, deren Gastkörper wir töten. Nach dem physischen Tod werden sich die menschlichen Seelen von denen der Ersten trennen. Somit wären sie befreit. Sie kommen dann ins übliche Jenseits, ganz wie beim normalen Sterben. Das Jenseits ist, wie du weißt, eine Daseinssequenz von Teilchenmustern ...“

„Ja, schon gut, kenne ich. Ich war auch schon einige Male dort.“

„Man wird die Menschen nach ihrem Tod speziell betreuen, des Traumas wegen. Wir haben leider bis jetzt keine andere Lösung gefunden.“

„Aber wenn ich nach innen blicke ...“

„Ich weiß Alice, da glaubst du, eine Lösung zu erkennen. Aber es bleibt verschwommen. Wenn man sich etwas zu sehr wünscht, wird das Sehen getrübt. Wir folgen dann mehr dem, was wir glauben, anstatt dem, was der Wahrheit entspricht.“

„In Ordnung, ich weiß, ich kenne die Wahrheit, die bittere Wahrheit. Und ich muss den Befehl geben. Und die Kinder? Was wird aus ihnen?“

„Komplizierte Sache. Man weiß es nicht. Noch nicht.“

„Also gut Chrochro, warten wir ab.“

„Es wird sich so fügen, wie es das Beste ist.“

„Natürlich, das tut es doch immer.“

„Wie dem auch sei, ich werde dafür sorgen, dass alle Akten, alle Beweismittel in der besagten Mordsache immer zuerst über deinen Schreibtisch gehen.“

„Danke.“

„Keine Ursache. Mach's gut.“

„Ich werde mir Mühe geben“, sagte Alice und beendete das Gespräch.