Montag, 9. Mai 2022

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Als sie Feierabend hatte, erinnerte der Himmel an ein Dach aus verschmutztem Glas. Bevor Alice nach Hause ging, wollte sie noch einige Sachen kaufen: Obst und Kekse vor allem. Die Lebensmittel auf der Erde schmeckten ihr mittlerweile so gut wie der Seetang auf Europa. Sie lenkte ihr Auto ins Parkhaus des Einkaufszentrums. Die unteren Decks waren trotz der späten Stunde recht voll, so musste sie bis nach oben fahren. Dort standen nur wenige Fahrzeuge und sie fand rasch einen freien Platz. Sie stieg aus dem Wagen. In diesem Moment schlug etwas in ihrem Inneren Alarm. Sie spürte keine Angst, die Linien des Schicksals sahen keinen Tod voraus, zumindest nicht ihren. Das Licht flackerte. Sie konnte sich nicht erklären, warum. Hatte das Schicksal einen Sinn fürs Ambiente? Waren die elektrischen Leitungen einfach nur marode. Stille. Geräusche, als würde jemand zart mit den Fingern über Papier fahren, dann ein Kratzen, aufdringlich aus unbestimmbarer Richtung. Heftiges Atmen, schlürfende Schritte, Knurren und Grunzen. Nun werden sie sichtbar, treten ins flackernde Licht. Es sind welche von den Ersten. Sie haben sich zusammengerottet, schwimmen in einer diffusen Wolke aus Hass und Wut, degenerieren ins Tierhafte. Einige von ihnen reißen die Münder weit auf, die schon vielmehr Mäuler sind als alles andere. Sie schreien, halb sind es Drohlaute, halb Schmerzensgesänge verlorener Seelen. Sie speien die Qualen des Daseins aus wie siedendes Pech. Automatisch formt sich in Alice dieser eine aggressive Gedanke, der die Klammer formt, mit der sie und die ihren bereits vor Jahrtausende die Biester unter Kontrolle gehalten hatten. Mit der Klammer greift man ihnen ins Gehirn, mitten ins Schmerzzentrum hinein, lässt sie sich winden, bringt sie zum Heulen, mach sie sich gefügig, wirft die Brut in den Staub nieder, in die Ohnmacht, in die Abhängigkeit. Gewiss, es sind zu viele, die Klammer kann immer nur einen von ihnen ergreifen, quälen und unterwerfen. Hätte sie eine der Kreaturen in der Klammer, wäre es möglich, den anderen nebenbei die Beine zu brechen, die Arme zu verdrehen, schneller als sie sich heilen könnten. Aber nein, es sind zu viele. Einige würden übrig bleiben, sich auf sie stürzen. Auch kann sie keinen Tunnel rippen, die Zeit ist zu knapp. Kein Fluchtweg. So hofft sie, dass sich die Experimente mit LSD gelohnt haben und die Droge ihr dabei geholfen hat, das Bewusstsein auf die Erbanlagen auszurichten. Biologische Umprogrammierung. Die Bluse reißt sie sich vom Leib, der BH landet auf dem Boden. Sie streckt sich, hebt die Arme. Schon sprießen sie aus ihrem Rücken: Flügel. Gewaltig fächern sie sich auf. Wirr greifen die Ersten mit den Händen nach oben. Es ist sinnlos, sie ist schon viel zu hoch und schwebt wie ein Adler über ihren Köpfen. Aber es gibt keinen Ausweg, sie kann nicht hinausfliegen. Vor den Türen steht der Feind mit hassverzerrten Gesichtern. Noch schwebt sie in der Luft, strahlend und beeindruckend, ein Renaissance-Engel, gemalt in leuchtenden Ölfarben auf finsterem Grund. Natürlich kann sie nicht für immer und ewig hier herumflattern, irgendwann wird sie zu Boden taumeln wie ein mattes Insekt. Hundert Krallen und Zähne würden sie dann zerfetzen. Aber in ihr steckt eine Kraft, die ihrem Herzen angeboren ist, eine Macht, von der die Weltenlenker auf Europa sagten, sie sei die mächtigste Waffe, über die man verfügen könne. Und sie blickt auf die Kreaturen hinab. Wie toll springen sie umher, voller Zorn. In ihnen kocht schmerzende Erinnerung, brodelnd wie Lava. Etwas ergreift Alice´ Herz. Alle Grenzen zwischen den Wesen da unten und ihr sind weggefallen. Das Leiden der Ersten wird zu ihrem eigenen. Sie nimmt es auf mit weiter Seele, diesem Himmel aus Bejahung und Geborgenheit. Alice leuchtet, ein Stern, der in Liebe brennt. Ihr Herz ist Feuer. Geblendet warfen die Ersten sich auf den Bode. Sie schreien, denn aller Schmerz, der in ihnen ist, bricht sich Bahn. Sie wimmern, vergießen Tränen. Ihre Mordgier ist erloschen – vorerst. Noch einmal leuchtet Alice´ Herz auf, liebt ohne Frage und Vorurteil, sodass sich alles weitet und die gesamte Etage grenzenlos erscheint. Sie zieht einen Kreis über die kauernden Leiber, über Seelen, die in Gefühlen ertrinken. Ihre Flügel fächern einen seltsamen Wind über sie hinweg. Nun bleibt ihr die Zeit, in aller Ruhe ein Loch in die Wand zu rippen, – vor den Türen liegen viele der Ersten herum, dass sie diese verstopfen. Mit eingefalteten Flügeln spaziert sie hinaus. Ihr war es gelungen, die Form des Menschenkörpers an die Situation anzupassen, und das mit enormer Geschwindigkeit. LSD und die Theorien von Doktor Leary hatten ihr das Tor dazu geöffnet. Wichtigerer noch ist: Sie hat ein Mittel gefunden, womit man die gefährliche Wut der Ersten ausschalten konnte. Sie wusste allerdings nicht, für wie lange.


Unter der Menschenhülle lauerte etwas anderes. Es regte sich darunter ein Leben, dem die Haut zu eng wurde. Es wollte sich weit über die Grenzen, die ihm gesteckt waren, ergießen, sich aufblähen und zur vollen Größe erheben. Der Menschenleib, all die Erinnerungsfetzen, die nichts mit ihr zu tun hatten, das waren nur Krücken, die sie fortwerfen musste, eines Tages. Isabell lief ziellos umher, obwohl sie ein Ziel hatte, es lag in ihr und würde sich bald offenbaren. Etwas hatte sie ergriffen und zog sie an. Nicht allein die menschliche Hülle war eine Maske, eine dreiste Lüge, auch die Erinnerungen an die Versklavung auf der Erde und an dem Planeten ohne Namen, um den die Enceladusaner eine Mauer aus Energie gezogen hatten – alles Lüge, eine unvollendete Episode der Schmach, hinter der eine ruhmreiche Geschichte voller Glanz und Herrlichkeit liegen mochte. Der Mond hing wie ein blindes Auge über den Dächern. Isabell lief weiter, vertraute ihren Beinen. Die plumpen Gemäuer alter Fabriken erhoben sich vor ihr. An den Backsteinen der Gebäude wucherte Moos und eine faulige Feuchtigkeit bedeckte alles, ein dünner Film von Vergänglichkeit. Der Wind pfiff um die Ecken, ab und zu heulte er wie ein Wolf. Unermüdlich schien eine Kette an ihr zu zerren, sie zwang ihren Leib durch einen löchrigen Zaun hindurch. Als sie weiter rannte, zerkratzte sie sich die Arme an dornigen Büschen. Bald stand sie vor einer morschen Tür. Behutsam drückte sie dagegen. Sie atmete schnell. Die Tür ächzte in den Scharnieren. Vor ihr tat sich ein Gang auf, beschienen vom Mondlicht, das durch ein zerbrochenes Fenster fiel. In den Ecken lauerten halb tote Spinnen auf Beute. Ihre Netze baumelten zerfetzt und staubig herab. Isabell musste weiter, die unsichtbare Kette zog unerbittlich an ihr. Dann kam der Punkt, an dem sie instinktiv Halt machte. Tausend Gewichte, die sie zuvor geschleppt hatte, fielen von ihr ab. Eine befreiende Wut durchspülte sie, wusch sie rein. Die Halle, in der sie sich wiederfand, war mehr als geräumig. Es roch nach Maschinenöl und Schweiß, beides seit Generationen in den Steinboden gesickert. Isabells Augen mussten nicht lange suchen, bis sie die Ihren erblickte, ihre Schwestern und Brüder. Sie hatten sich hier versammelt. Es roch nicht nach Fleisch, hier ging es nicht um Rache, nicht um Blut. Die Augen der anderen Ersten funkelten wie eine Finsternis, die man mit schwarzer Flamme am Beginn der Welt entzündet hatte. Münder klappten auf, Töne flogen aus den Kehlen, woraus ein Gesang erwuchs, mal ein Brummen, mal ein Jodeln, bis die Wände zitterten. Die Ersten sprangen herum, schnitten Grimassen und lachten und lachten. Und die Weiber, Weiber, wie sie eines war, lockerten die Blusen, hoben die Röcke und schmissen die Beine zum Tanz. Alles drehte sich, kreiste taumelnd durcheinander, Hände klatschten, Füße stampften. Isabell wurde vom Takt ergriffen, verbog zappelnd die Glieder, steckte die Zunge heraus, wackelte mit den Hüften. Ihre Arme wurden zu Kobras, ihr Haar flog wie eine Peitsche durch die Luft. Der Tanz hatte sie alle gepackt und schüttelte die Leiber durch. Die Trance begann.

Es erschien Isabell, als würden Teile in sie hineinfallen, Teile, die zu ihr gehörten, aber vor langer Zeit verschollen gegangen waren. Vor ihr lag ein gewaltiges Puzzle und von oben herab regneten immer neue Stücke, diese vervollständigten, indem sie sich in die Lücken fügten, das seltsame Spiel aufs Wunderbarste. So nahm das innere Bild nach und nach seine ursprüngliche Gestalt an. Die Wahrheit loderte auf, vertrieb die Schatten der Illusion. Gleich einer Landschaft lag die Geschichte der Ersten vor ihr ausgebreitet. Berge stießen ihre Spitzen in den Himmel, wild brauste ein Fluss dahin. Der Fluss in dieser Landschaft entsprang, wie es alle Flüsse tun, einem Bach, der Bach wurde von der Quelle geboren. Die Quelle aber war Tief und dunkel und nichts und niemand hatte sie geboren oder erschaffen. Sie kam aus sich selbst heraus, wie alles aus ihr kam. Was aber aus ihr kam, hatte eine Begrenzung, sie dagegen hatte eine Tiefe, aber keinen Grund. Sie war zart wie das Nichts und so groß wie alles, was existierte. Wenn sie still war, bemerkte man sie nicht, wenn sie sich bewegte, konnte sie ganze Heere niederstrecken. Rührte sie sich sanft, war sie gleich einem Windhauch, der mit den Schmetterlingen tanzte. Am Anfang allerdings gab es weder Heere noch Schmetterlinge.

Aus der Quelle kam als Erstes das große Ding gekrochen. Es besaß Tentakel, die durch etliche Dimensionen reichten. Die Dimensionen kamen ebenfalls aus dem Ding. Sie waren wie zusammengefaltetes Papier. Das Ding faltete nach und nach das Papier auf, dann wurde das Papier RÄUME genannt. Und weiter erzählte der Gesang, der aus den Kehlen der Ersten strömte, davon, dass das Ding bald keine rechte Freude mehr in seinem Tun fand. Nachdem es unzählige Räume erschaffen hatte, verbitterte es immer mehr. Irgendwann, als es seine leblosen Welten durchstreifte, in denen feinstoffliche geometrische Formen ihre Bahnen zogen, ergriff es kurz entschlossen seinen schönsten Tentakel und machte aus ihm die Ersten. Von da an waren die Ersten sein schönster Tentakel. Er schaute zuweilen in ihre Seelen hinein und sah und empfand alles das, was die Ersten erlebten. Somit dienten sie ihm als Sinnesorgan.

Ach, was für eine Freude waren wir ihm, dachte Isabell und tanzte weiter in einem Rhythmus, der älter war als die Welt. Wir spielten und lachten und wir waren viele und wir hatten Spaß an den Räumen mit den Würfeln und Pyramiden. Wir staunten, wie sie endlos Schleifen zogen. Lange sahen wir dem Schöpferding zu. Säuberlich vermass es seine Welten, entfernte dort eine Kugel und platzierte hier sorgsam einen Quader. Wenn es seine Gebilde anstieß, zirkelten sie umeinander in für die Ewigkeit festgelegten Bahnen. Und wir, wir waren seine gelehrigen Schüler. „Und dann“, schrie einer in die Erinnerung hinein, die sie offenbar alle miteinander teilten, „war es soweit: Wir konnten schaffen, genauso wie das Schöpferding!“

Aber das Schöpferding hatte auch etwas von uns gelernt, wusste Isabell, nämlich, dass es mehr gab als Kugeln und Quader, die sich in exakten Bahnen bewegten, sondern, dass ebenso ein Durcheinander existieren konnte. Wenn viel Zeug um einen herumwirbelte, ging rasch der Überblick verloren. Dann war es möglich, sich vorzustellen, man wüsste nicht, was als Nächstes käme. So erschuf das Schöpferding eine Welt, die anders sein sollte als alle, die es zuvor entworfen hatte. Dort schrumpften Räume, Energie verklumpte, Formen nahmen an Gewicht zu und zogen einander an, wurden zu Gas, zu Feuer, zu Eisen und und Stein. Ein Ding konnte zudem immer nur an einer Stelle sein, an dem kein anderes Ding sich befand. Dieser neue merkwürdige Raum besaß obendrein eine recht kuriose Eigenschaft: Alles in ihm geschah in einer gewissen Reihenfolge, eines kam aus dem anderen hervor, wohlsortiert, ab und zu zerfiel ein Ding, und der Tod des einen war der Beginn des anderen. Das nannte man später Zeit. Natürlich war es zuvor schon möglich gewesen, etwas im Raum zu ordnen, wobei man das Ganze immer überblicken konnte. In dieser neuen Welt verlor man jedoch leicht die Orientierung. Immer gab es ein Vorher, dass nicht mehr greifbar war, und ein Nachher, das ebenso wenig Substanz hatte. Deswegen verweilte man in einem Jetzt, das, sobald man es fassen wollte, sich geschickt zu entwinden verstand. Oftmals wurde einem schwindlig davon und man musste aus dieser Welt heraustreten, um wieder klar sehen zu können. Aber irgendwie, erinnerte sich Isabell, fand man das recht lustig. So als würde ein Kind „Blind“ spielen, dann die Augen aufreißen und darüber lachen.


Das große Schöpferding hatte einen recht grimmigen Sinn für Humor, falls man es überhaupt Humor nennen konnte: Es erschuf Wesen aus diesem schweren verklumpten Zeug, woraus seine neuste Welt bestand. Dann ging es zur ewigen Quelle und trank. Anschließend spie es Seelen aus, so winzig, dass man sie kaum ein Etwas nennen konnte. Aber sie reichten aus, um das Zeug zu beseelen, das sich gegenseitig anzog und mit der Zeit vergammelte. Es zappelte und krabbelte bald auf irgendeinem Ball in der Nähe eines durchschnittlichen Sternes, es schwamm und flog, wurde geboren und starb. Der Alte hatte seltsame Maschinen geschaffen. Sie fraßen sich gegenseitig auf, wenn sie sich nicht grade vermehrten. Dass es jetzt so wimmelte und alles durcheinander kam, gefiel uns. Und als wir uns einmal alle trafen und plauderten, kam uns die Idee, auch solche lustigen Teilchen zu machen. Wir könnten es gewiss so gut wie das alte Schöpferding. Gesagt, getan: Wir konzentrierten uns auf unsere Arbeit, schraubten unermüdlich Aminosäuren zusammen und spielten mit Basentripletts herum. Bald hatten wir, kreativ wie wir waren, einen Prototyp fertiggestellt. Also mir hatte er gefallen, erinnerte sich Isabell, obwohl einige meckerten. Unser Ding sei nicht so grazil wie die Libellen, die das Schöpferding kreiert habe, hieß es, auch seine Fische überträfen unser Werk an Schönheit. Dem ungeachtet zeigten wir dem Schöpferding das Ergebnis unserer Arbeit. Es zog kritisch sein einziges Augenlid zusammen, sodass sein gewaltiges Auge dabei fast verschwunden wäre. Gewiss fand der Alte gefallen an unserem Ding, aber er sagte es nicht. Er war und blieb ein verbitterter Eigenbrötler. „Na gut, für Anfänger recht ordentlich“, murmelte er, „mehr kann man nicht erwarten von euch Kindern. Ihr müsst aber in eurem Ding noch eine kleine Seele hineintun. Alles, was lebt, muss beseelt sein.“

Wir sahen uns an und wurden traurig, denn so etwas konnten wir nicht bewerkstelligen. Der Alte musste wohl einen guten Moment gehabt haben, denn er sagte: „Na gut, eine kleine Seele kann ich euch leihen, so groß wie bei den Salamandern.“ Er pustete dann tatsächlich eine Seele in unser Werk hinein. Es zuckte nun ganz anders als zuvor, es schien ein Ziel, eine Richtung zu haben. Es lebte! Was war das für eine Freude, unser eigenes Spielzeug gemacht zu haben! Ein wenig betrübt waren wir allerdings, denn der Alte wollte nicht, dass unser Spielzeug mit auf der Kugel lebte, auf der seine beseelten Klumpen sich beständig vermehrten und auffraßen. „Das müsst ihr verstehen“, erklärte er, „hier ist alles aufeinander abgestimmt. Aber ich will großzügig sein: Ihr bekommt eine eigene Kugel.“