3.Teil
Er drehte sich vom Monitor weg, starrte ins Nichts. Unvermittelt erschien vor ihm ein seltsamer Raum. Die Umgebung wirkte unklar, wie durch Nebel gesehen. Er erblickte die Szene nicht von hier aus, von seinem Stuhl, der in dem kleinen Hotelzimmer stand. Nicht einmal durch die eigenen Augen sah er. Es waren die Augen seiner Schwester. Durch sie nahm er alles um sich herum wahr. Auf eine merkwürdige Weise befand er sich in ihr, während er gleichsam sie war. Der Körper dort, in diesem fremden Raum, er konnte sich nicht rühren. War er gefesselt? Ein Gedanke blitzte auf, ein Gedanke von Alice, sie dachte an ihn. Sie stellte sich vor, wie er in einem Hotelzimmer saß und an sie dachte. Bald verblasste diese Vorstellung. Übrig blieb nur ein diffuses Gefühl.
Ihm schwindelte, die Welt schien sich aufzulösen. Wer, fragte er sich, war er eigentlich? War er eine Frau, die in einem nebligen Raum saß und an ihren Bruder dachte, oder war er dieser Mann hier in dem Hotelzimmer? Er wusste es nicht. Seine Gedanken schienen ihm unzuverlässige Zeugen. Sie redeten, wie sie wollten, einmal so, ein andermal andersherum. Eine winzige Störung im Hirnstoffwechsel könnte eine andere Realität erzeugen. Langsam kam er zu sich, riss die Augen auf, suchte seine Tasche und nahm einen Beutel mit Kratom heraus. Er schüttete die pulverisierten Blätter in ein Glas mit Leitungswasser. Das Blattpulver schwamm oben, so schluckte er die Droge äußerst vorsichtig herunter, damit er nicht an ihr erstickte. Nach wenigen Minuten spürte er die betäubende Wirkung des Kratoms. Die Welt war wieder in Ordnung. Er legte sich hin, kroch unter die Decke, kauerte im rechten Winkel zur Banalität. Die Opioide saugen ihn an, bis in den süßen Tod hinein, der dann doch nicht kommt, stattdessen aber ein abgrunddurchtränktes Traumgewebe, lockiges Haar, hinter dem ein Lächeln blitzt wie der Urknall. Daraus kriechen alternative Welten hervor, diamantbesetzte Würmer. Er schwebt, Stille, ist ein Blatt im Windhauch, balanciert über die Bodenlosigkeit, während er gleichsam schon längst angekommen ist in der anderen Welt, in der ein weiteres pulsierendes Leben wartet wie eine überreife Frucht. Zucker rieselt aus den Sekunden. Ein Netz aus Düften und Offenheit siebt die Lichtpartikel des Tages, bevor endgültig die Realität mit der Wahrscheinlichkeit ausgetauscht ist. Und die Stimme einer toten Sängerin zwängt sich satt zwischen träge Luftmoleküle, gasige Zellen, wabernd, unsichtbare Kristallgitter, Glasfasern zwischen Seelen gespannt, fett eingewickelt in Geschichten ohne Sinn. Und das Lächeln ist wie ein Beil. Es spaltet den Augenblick, färbt ihn lippenrosa.
Als sein Smartphone läutete, wusste er nicht recht, was er tun sollte. Er fragte sich, ob auch eingehende Gespräche abgehört werden konnten, oder ob man nur Telefonate registrierte, die er selbst anfing, indem er eine Nummer wählte. Mutig nahm er das Gespräch entgegen. Es war Elmar, sein Kumpel aus alten Zeiten. Der Kontakt zu ihm war eingeschlafen, ohne dass es, soweit er sich entsann, dafür einen besonderen Grund gegeben hätte. Er hatte nicht damit gerechnet, wieder einmal mit ihm zu sprechen. Philip versicherte Elmar, dass es ihm gut ginge. Ja, er wohne noch in derselben Bude wie damals. Im Moment allerdings habe er woanders Quartier bezogen, in einer Notunterkunft. Es möge seltsam erscheinen, aber er könne nicht sagen, wo. „Es sind zurzeit spezielle Umstände. Meine Schwester, musst du wissen, ist verschwunden. Aber das ist eine lange Geschichte. Klar, wir können uns treffen. Ja, am alten Bahnhof. Um fünfzehn Uhr? In Ordnung. Bis dann!“
Philip war froh, jemanden gesprochen zu haben, den er von früher kannte, jemanden, dem er vertrauen konnte. Er sackte zufrieden in den abgewetzten Sessel.
Elmar wartete am Bahnhofseingang. Philip fand, dass er kaum älter ausschaute als damals, nur ein wenig dicker. Seine Augen hatten an Lebendigkeit verloren und die Mundwinkel zuckten seltsam. Sie gingen in ein Café, bestellten Buttercremetorte und redeten. Elmar sagte, es ginge ihm gut, er habe eine anständige Stellung bei der Post, in der Verwaltung. Philip erzählte, was kürzlich alles geschehen war. „Meine Schwester Alice ist weg, einfach weg! Du hast bestimmt von dieser Sache gehört, es kommt ja ständig in den Nachrichten. Ich meine das mit Europa, diesem Jupitermond.“ Er breitete die ganze Geschichte vor Elmar aus.
Der nickte bedächtig, als Philip nichts mehr zu erzählen wusste. „Da solltest du vorsichtig sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass du beobachtet wirst, ist recht hoch. Am besten, du verhältst dich ruhig. Wer weiß denn außer dir von der Sache?“
„Dieser Kommissar.“
„Dabei sollte es auch bleiben. Wenn sie das Verschwinden einer ganzen Gruppe von Leuten verheimlicht wollen, wird alles getan, damit das auch gelingt. Sie werden sämtliche Mittel einsetzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Eventuell ist dein Leben gefährdet, oder sie stecken dich in den Knast, indem sie dir etwas unterschieben. Offiziell werden sie dir nichts tun, klar, wir leben ja in einem Rechtsstaat. Aber du sagtest ja, dass solche Geheimtypen mitmischen. Und wenn sie selbst die Polizei von dem Fall abgezogen haben, dann ist das ein ganz großes Ding, eine Staatssache von höchster Wichtigkeit sozusagen! O Mann, ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Aber ich kann dir helfen. Ich kenne da den Portier eines kleinen Hotels. Dort könntest du dir unter falschem Namen ein Zimmer mieten. Am besten noch heute. Wo du jetzt wohnst, finden sie dich irgendwann. Und ich werde dir ein Handy besorgen, ein sauberes Handy, eines mit anonymer Karte.“
„Ja danke, prima Idee. Was aber wird aus Alice, wenn ich nicht nach ihr suchen kann?“
„Tu jetzt nur nichts Unüberlegtes. Wir wissen ja gar nicht, was mit ihr los ist. Kann sein, sie wurde in Sicherheit gebracht, unter Schutz gestellt, was auch immer. Im Prinzip kannst du nichts machen. Du willst etwas unternehmen, das ist verständlich; wenn du allerdings darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass du nichts tun kannst, weil du nicht weißt, was du tun sollst.“
Philip presste die Lippen zusammen, sagte dann: „Ich könnte die Presse ...“
„Um Gotteswillen!“, fiel ihm Elmar ins Wort, „das wäre doch dein Todesurteil. Wahrscheinlich hat die Presse wieso Schreibverbot, was dieses Thema betrifft.“
„Aber wir haben doch eine freie Presse, es gibt Rechte.“
Elmar lachte auf: „Wer sagt das?“
„Der Staat garantiert ...“
„Ja, die Freiheit und unsere Rechte sind ein hohes Gut. Dafür muss gekämpft werden. Die Verteidigung der Freiheit beinhaltet zumeist eine Einschränkung der Freiheit. So verhält es sich auch mit unseren Rechten. So wird das Böse oft angewendet, damit man das Gute schützen kann.“
Philip stopfte sich ein Stück Torte in den Mund und zerkaute es nachdenklich.
Das neue Hotelzimmer glich dem alten, nur die Tapete war ein wenig vergilbter. Er saß hier herum und hatte keine Ahnung, was er unternehmen sollte. Einerseits musste er etwas tun, denn er wollte Alice nicht im Stich lassen; andererseits konnte er nichts tun, jedenfalls nichts, was nicht auffallen würde. Wenn sie ihn beobachteten, wäre alles auffällig, egal was er tat. Er starrte auf einen imaginären Punkt im Raum. Eine Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Gewiss, das war sie, mit ihr war er zusammengeprallt. Deutlich konnte er ihr Gesicht erkennen. Ihre Lippen formten ein Wort: Schicksal! Er versuchte, seine Vision abzuschütteln. Es gelang, bald schien alles wieder normal. Dass er aber das Wort Schicksal gehört hatte, mit eigenen Ohren, laut und klar, war eine nicht zu leugnende Tatsache.
Dieser merkwürdige Vorfall für sich genommen hätte nicht die Kraft gehabt, sein Weltbild ins Wanken zu bringen, wenn nicht am nächsten Tag Folgendes passiert wäre: Der Vormittag war lichtvoll und wohlig warm, so wollte er ein wenig Luft schnappen. Er ging spazieren. Flott liefen die Leute auf der Straße hin und her, stürmten in die Geschäfte, stürmten aus ihnen wieder heraus. Gehetzt blickten sie auf ihre Uhren und rannten drauf los, als wäre der Teufel hinter ihrer Seele her. Er glaubte, er befände sich in einer Welt voller ruheloser Geister, alle dazu verdammt, in einem Bereich zwischen Leben und Tod ihr Dasein zu fristen. Das ist ja die Welt der Schatten, hier wohnt ja gar nicht das Leben, dachte er. In diesem Moment legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er blickte sich um und sah sie, diese Frau, diese Karen.
„Glauben Sie an das Schicksal?“, wollte sie wissen.
Er fühlte sich unbehaglich, da seine Vision von gestern Abend und das Jetzt sich auf erschreckende Weise deckten. Ein Zittern wanderte durch seinen Körper, es war Angst.
„Nun ja“, stammelte er, „vor Kurzem hätte ich mit einem Nein geantwortet und gesagt, dass der Glaube an ein Schicksal eine Art von Schwäche ist, eine Entschuldigung, um keine Verantwortung zu übernehmen. Aber jetzt, in diesem Moment, da bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Verzeihen Sie, ich rede konfus, aber mir ist so zumute, als hätte ich mich gestern an etwas erinnert, was soeben erst passiert ist.“
Sie lächelte ihn an, lange genug, bis er sich unwohl fühlte. „Hört sich ja interessant an“, sagte sie, „wir sollten das Thema irgendwann vertiefen. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich. Es liegt keine Absicht in dem, was ich sage. Ich folge nur dem Schicksal, obwohl das nicht ganz korrekt ausgedrückt ist. Natürlich folge ich dem Schicksal nicht wirklich, das hieße ja, ich würde ihm hinterherlaufen. Das Schicksal ist das, was passiert – man ist nicht getrennt davon. Aber lassen wir dieses Gerede mal. Die Wahrheit ist, Sie sind in Gefahr. Sie sollten sich in Acht nehmen.“
Und wieder schwankte ihm der Boden unter den Füßen. Was hatte das zu bedeuten? Wusste sie, was los war? Wenn ja, so war sie gewiss eine von denen, eine Agentin der Erdsicherheit, des IES. Somit war es alles andere als ein Zufall, dass er mit ihr zusammengestoßen ist. Nein, es gehörte mit zum Plan. Offenbar hatte man sie auf ihn angesetzt. Also wollte sie ihm damit drohen, wenn sie ihm sagte, er solle ich in Acht nehmen. Er erinnerte sich an Elmars warnende Worte.
„Ich weiß, was Sie denken“, behauptete sie.
„So?“
„Sie meinen, ich sei eine von denen. Sie wissen schon, die in der Jupitersache ermitteln und vertuschen wollen, dass ...“
„Sie wissen davon? Wer sind Sie?“
„Ich bin keine von denen. Ich gehöre zur anderen Seite!“
„Sie sympathisieren mit den Aliens?“
Sie lachte laut auf und hakte sich vertraulich bei ihm ein. „Gehen wir einen Kaffee trinken, ja?“
Das Café war fast leer. Sie bestellte einen Milchkaffee, nahm einen Schluck und wischte sich einige Blasen des Schaumes von der Oberlippe. „Alien-Sympathisanten sind zumeist harmlose Spinner mit esoterischem Hintergrund. Sie erhoffen sich das Paradies, wenn sie endlich den Außerirdischen begegnen. Glauben Sie, dass ich zu denen gehöre?“
Philip sah sie an und ließ dabei den Blick eine Weile auf ihrem Gesicht ruhen. Etwas geschah dabei, er konnte nicht sagen, was es war, aber es schien so, als würde eine unsichtbare Hand in ihn hineingreifen und seine Seele berühren. „Sie wollen mir nicht wirklich erzählen, dass Sie eine Außerirdische sind?“, fragte er hart, obwohl er innerlich weich wurde und zu zerfließen begann.
Sie lächelte. „Ich sehe doch nicht so aus, wie jemand, der unter Wasser lebt?“
Er pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Sie sind eine Agentin von ihnen, von diesen geheimnisumwobenen Europabewohnern!“
„Sie sollten weniger Vorstellungen haben. Sie verwirren sich damit nur. Es ist nicht klug, alles zu glauben, nur weil es so aussieht, als würden Sie es selbst denken. Das, was ich bin, übersteigt im Moment noch Ihre Vorstellungskraft. Und ich bin nicht allein. Bis jetzt ist niemand wirklich an den Europabewohnern interessiert. Sie sind nur ein Vorwand, damit die Mächtigen ihre Herrschaft ausbauen können. Nebenbei versuchen sie, uns zu eliminieren, mich und die, die so sind wie ich.“
„Sie meinen, man hat auf dem Jupitermond nichts entdeckt?“
„Sie haben etwas gefunden. Daraus wurde dann die Geschichte gewoben, die großartige Story von der bedrohten Erde.“
Ihm schwindelte. „Die Erde ist gar nicht in Gefahr?“
Sie nickte. „Doch, sie wird allerdings von denen bedroht, die die angebliche Bedrohung abwenden wollen, klar?“
„Wenn Sie so viel wissen, wie Sie vorgeben, dann sagen Sie mir doch, wo meine Schwester ist!“
Karen schaute durch das Fenster des Cafés auf die Straße hinaus. „Alles hat seine Zeit. Jetzt ist die Zeit, um zu verschwinden. Sie warten da hinten in dem blauen Wagen.“
Er sah nach draußen. Ja, dort stand ein Wagen, protzig und dunkelblau. Allerdings besagte das nichts. „Wollen Sie mir Angst einjagen, oder werde ich wirklich verfolgt?“, fragte er mit brüchiger Stimme.
„Wir sollten jetzt gehen, bevor sie noch Verstärkung anfordern. Übrigens – Sie werden nicht verfolgt. Das haben die nicht nötig. Sie sind eine zu leichte Beute, da lohnt sich keine Hetzjagd. Sie wollen mich. Nebenbei bemerkt – habe ich Ihnen gerade das Leben gerettet. Man wird Ihnen nichts tun, da man glaubt, man bekommt durch Sie Informationen über mich. Derjenige, der Sie erledigen soll, wird noch eine Weile auf seinen Spaß warten müssen. Los komme … kommen Sie mit! Sie können auch hierbleiben. Wenn Sie allerdings mit mir gehen, dann haben Sie die Chance, einige überraschende Dinge zu lernen“, sagte sie und erhob sich hintergründig schmunzelnd.
Er folgte ihr auf die Straße. Der Wagen stand auf der anderen Seite. Türen wurden aufgestoßen und zwei Kerle sprangen heraus, sie zogen Gesichter wie ausgehungerte Bulldoggen.
„In die Ausfahrt rein!“, rief Karen.
Er gehorchte, wusste aber nicht, ob es klug war, ihr zu vertrauen. Eventuell hockten sie jetzt in der Falle.
„Hausaufgang!“
Wieder folgte er ihr. Sie stiegen eine Treppe aufwärts. Im dritten Stockwerk ging es nicht weiter. Von unten her klapperten Schritte.
„Es ist nur einer. Sie haben sich aufgeteilt“, bemerkte Karen trocken und zeigte dabei auf eine Tür. Philip drückte die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen. Sie betraten einen Hängeboden, der schon lange nicht mehr zum Trocknen von Wäsche benutzt wurde, sondern als Abstellraum für alles Mögliche diente. Karen öffnete eine wurmstichige Kiste, die verstaubt in einer Ecke vor sich hin gammelte, entnahm ihr einen Hammer und einen Besenstiel, den sie geschickt unter der Klinke der Eingangstür stemmte. „Das wird uns vierundzwanzig Sekunden Zeit geben“, versprach sie. „Jetzt weiter! Siehst du links von dir einen Draht auf dem Boden liegen?“
Er ließ seinen Blick nach unten wandern. Tatsächlich lag dort ein dicker Draht! Verwundert hob er ihn auf. Sie nahm ihm das Fundstück aus der Hand und strahlte. „Ja, das ist er.“ Sie verbog den Draht mit geschickten Händen, „Unser Schlüssel für die Tür dahinten.“
Philip rüttelte an der besagten Tür. Sie war verschlossen.
„Vierundzwanzig Sekunden Zeit.“
Philip musterte Karen und war sich nicht klar, ob er eine Irre vor sich hatte, oder eine Frau, die haargenau wusste, was sie tat. Karen schob den Dietrich ins Schlüsselloch und öffnete mühelos die Tür. Sie fanden sich in einem weiteren Treppenhaus wieder.
Karen ließ den Dietrich fallen. „Das ist das Nebenhaus. Der Dachboden verbindet die beiden Treppenaufgänge“, belehrte sie Philip. Sie warf die Tür hinter sich zu. Sie besaß keine Klinke, nur einen Knauf, der sich nicht drehen ließ, was den Verfolger einige Sekunden lang aufhalten würde.
Von unten hallten Schritte. „Der andere Mann“, sagte Karen, „aber keine Angst: Hier im Treppenhaus wird er nicht schießen. Außerdem habe ich mir ja den Hammer aus der Kiste mitgenommen. Mit welcher Faust schlägst du härter zu? Mit der rechten oder der linken?“
Philip stutzte. „Äh, ich weiß nicht.“
„Aha, habe ich mir gedacht. Deswegen der Hammer. Dann los, nach unten!“, befahl Karen.
Sie liefen abwärts, dem anderen Verfolger entgegen, der die Treppe hoch hastete. In der zweiten Etage blieb Karen abrupt stehen, schwang den Hammer und schlug damit gegen die Türen, bis Farbe von ihnen absprang und das Holz splitterte. Jetzt war der von unten kommende Verfolger nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Ein junger Mann mit kalten Augen. Zackig lief er auf sie zu. Karen warf den Hammer in seine Richtung. Der Mann fing ihn reflexartig. In diesem Augenblick flogen fast gleichzeitig alle Türen der Etage auf. Ebenso überrascht wie wutschnaubend kamen die Mieter aus ihren Wohnungen heraus und gafften fragend auf die drei Fremden. Schließlich blieben ihre Blicke an dem Mann mit dem Hammer hängen. Von oben her erschütterte weiterer Lärm das Haus, der daher rührte, dass der zweite Verfolger inzwischen die Tür des Dachbodens aufgestemmt hatte.
„Das ist sein Komplize, es sind Einbrecher! Man muss sofort die Polizei alarmieren. Halten Sie die beiden fest, sonst entwischen diese dreisten Gauner noch!“, brüllte Karen und entwand dem verwirrt gaffenden Mann den Hammer mit einem flinken Griff. Das Werkzeug fiel polternd zu Boden, der junge Mann starrte vor sich hin und versuchte vergeblich, die Situation zu verstehen, in der er sich befand. Ehe er sich‘s versah, hatten die Mieter ihn umzingelt. Schon kam sein Kollege die Treppe herunter. Er wurde sogleich von einem kräftigen Hausbewohner beim Kragen gepackt und durchgeschüttelt. Karen und Philip nutzten die Situation aus. Sie machten sich auf und davon.
Wieder auf der Straße angelangt blieb Philip keine Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Ohne Vorwarnung stieß Karen ihn zur Seite. Er stolperte und fand taumelnd erst auf der Fahrbahn das Gleichgewicht wieder. Ein heranfahrendes Auto bremste. Mit quietschenden Reifen kam es grade noch rechtzeitig zum Stehen. Das nachfolgende Fahrzeug wäre beinahe aufgefahren. Das dritte Auto aber knallte mit einen ordentlichen Rums gegen den zweiten Wagen. Airbags blähten sich auf, Autotüren wurden aufgerissen. Geschrei und Flüche übertönten den Verkehrslärm.
„Rasch, komm fort von hier!“, rief Karen und zog Philip mit sich.
„Was war denn das?“, beschwerte er sich bei ihr, „war das ein Mordversuch?“
„Es bestand keine Gefahr.“
„Ach, keine Gefahr? Man hätte mich beinahe überfahren. Was sollte das nur?“
Karen schlug einen versöhnlichen Ton an. „Philip, du wärst nicht überfahren worden, da es nicht dein Schicksal ist, unter einem Auto zu sterben. Ja, es war vielleicht nicht angenehm für dich, dieser kleine Schubser, aber er war notwendig. Da saß nämlich die Verstärkung unserer Verfolger drin, im letzten Auto, das aufprallte. Ich habe eine hilfreiche Handlungskette in Gang gesetzt. Du warst nie in Gefahr!“
„Das konntest du doch gar nicht wissen“, tobte Philip, „und auch konntest du nicht vorhersehen, dass ausgerechnet das dritte Auto auffahren würde.“
„Ich habe getan, was zu tun war. Im Moment ist deine Sichtweise zu begrenzt, um das zu verstehen. Deswegen regst du dich auf.“
„Willst du damit sagen, ich bin zu dumm und verstehe deswegen nicht, was du meinst?“
„Es ist keine Frage von Dummheit oder Intelligenz. Es entzieht sich einfach deinem Verständnis“, sagte sie mit der Gewissheit, dass er ihre Worte nicht verstehen würde.
Unterdessen waren sie einige Straßenecken weitergekommen. Philip erinnerte sich an die Mahnung des Kommissars, niemanden zu vertrauen. „Na wenigstens sind wir ihnen entwischt“, sagte er mehr zu sich als zu Karen.
„Du bist ihnen nicht entkommen! Sie waren hinter mir her, also keine Sorge. Vorerst bist du in Sicherheit. Sie werden dich weiterhin beobachten, hoffen, dass sie etwas durch dich über mich herausbekommen. Irgendwann aber ... Ach, denke nicht an die Zukunft: Am Ende wird alles gut.“
Er schaute Karen durchdringend an. „Eine Frage bleibt allerdings: Wer bist du eigentlich? Und warum gab es diesen zufälligen Zusammenstoß mit mir, der wahrscheinlich nicht zufällig war. Und was weißt du wirklich alles?“
Karen lachte auf: „Du hast dein Vertrauen ins Leben verloren! Wer? Wie? Wo? Was? Warum? Das alles sind vollkommen unnötige Fragen. Sie haben nicht den geringsten Wert. Bedeutungslose Fragen können nur zu bedeutungslosen Antworten führen. Bedeutungslose Antworten führen zu törichten Taten. Wenn du wissen willst, was mit deiner Schwester Alice ist, musst du es herausfinden. Wir, sie und ich, sind uns schon begegnet. Sie würde nicht wollen, dass ich dir etwas über sie sage. Verlass dich nicht auf mich. Du musst dein Schicksal erfüllen. Eines Tages wirst du alles verstehn und über deine Dummheit kichern. Du weißt, ich werde gejagt und bin schwer zu fangen. Jetzt müssen wir uns trennen, sonst machen wir es den Jägern zu leicht. Ich werde aber trotzdem immer da sein, auch dann, wenn du mich nicht siehst. Ich sehe dich, wir sehen dich. Wir sind bei dir. Habe keine Angst und vertraue allem, was dir begegnet. Vertraue, vertraue, vertraue!“
Philip bemühte sich, ihre Worte zu verstehen, aber als er sie mit dem Verstand fassen wollte, war ihre Bedeutung schon verblasst und es schien ihm, als hätte Karen nie etwas gesagt. Er schaute ihr in die Augen, oder vielleicht waren es auch ihre Blicke, die seine magisch anzogen. Ihre Augen waren wie die Ewigkeit, sie schienen alles auszudrücken und doch befand sich nichts in ihnen. Sie blickten aus einer anderen Welt zu ihm, aus der Zeitlosigkeit hinein in die Zeit, in der er gefangen im Kreise schwamm, ein Goldfisch im Glas. Die die Gegenwärtigkeit Ihres Lächelns schwebte noch als ungreifbare Ahnung vor ihm, als sie schon längst fortgegangen war.