Sonntag, 7. November 2021

                                                 3.Teil

Er drehte sich vom Monitor weg, starrte ins Nichts. Unvermittelt erschien vor ihm ein seltsamer Raum. Die Umgebung wirkte unklar, wie durch Nebel gesehen. Er erblickte die Szene nicht von hier aus, von seinem Stuhl, der in dem kleinen Hotelzimmer stand. Nicht einmal durch die eigenen Augen sah er. Es waren die Augen seiner Schwester. Durch sie nahm er alles um sich herum wahr. Auf eine merkwürdige Weise befand er sich in ihr, während er gleichsam sie war. Der Körper dort, in diesem fremden Raum, er konnte sich nicht rühren. War er gefesselt? Ein Gedanke blitzte auf, ein Gedanke von Alice, sie dachte an ihn. Sie stellte sich vor, wie er in einem Hotelzimmer saß und an sie dachte. Bald verblasste diese Vorstellung. Übrig blieb nur ein diffuses Gefühl.

Ihm schwindelte, die Welt schien sich aufzulösen. Wer, fragte er sich, war er eigentlich? War er eine Frau, die in einem nebligen Raum saß und an ihren Bruder dachte, oder war er dieser Mann hier in dem Hotelzimmer? Er wusste es nicht. Seine Gedanken schienen ihm unzuverlässige Zeugen. Sie redeten, wie sie wollten, einmal so, ein andermal andersherum. Eine winzige Störung im Hirnstoffwechsel könnte eine andere Realität erzeugen. Langsam kam er zu sich, riss die Augen auf, suchte seine Tasche und nahm einen Beutel mit Kratom heraus. Er schüttete die pulverisierten Blätter in ein Glas mit Leitungswasser. Das Blattpulver schwamm oben, so schluckte er die Droge äußerst vorsichtig herunter, damit er nicht an ihr erstickte. Nach wenigen Minuten spürte er die betäubende Wirkung des Kratoms. Die Welt war wieder in Ordnung. Er legte sich hin, kroch unter die Decke, kauerte im rechten Winkel zur Banalität. Die Opioide saugen ihn an, bis in den süßen Tod hinein, der dann doch nicht kommt, stattdessen aber ein abgrunddurchtränktes Traumgewebe, lockiges Haar, hinter dem ein Lächeln blitzt wie der Urknall. Daraus kriechen alternative Welten hervor, diamantbesetzte Würmer. Er schwebt, Stille, ist ein Blatt im Windhauch, balanciert über die Bodenlosigkeit, während er gleichsam schon längst angekommen ist in der anderen Welt, in der ein weiteres pulsierendes Leben wartet wie eine überreife Frucht. Zucker rieselt aus den Sekunden. Ein Netz aus Düften und Offenheit siebt die Lichtpartikel des Tages, bevor endgültig die Realität mit der Wahrscheinlichkeit ausgetauscht ist. Und die Stimme einer toten Sängerin zwängt sich satt zwischen träge Luftmoleküle, gasige Zellen, wabernd, unsichtbare Kristallgitter, Glasfasern zwischen Seelen gespannt, fett eingewickelt in Geschichten ohne Sinn. Und das Lächeln ist wie ein Beil. Es spaltet den Augenblick, färbt ihn lippenrosa.

Als sein Smartphone läutete, wusste er nicht recht, was er tun sollte. Er fragte sich, ob auch eingehende Gespräche abgehört werden konnten, oder ob man nur Telefonate registrierte, die er selbst anfing, indem er eine Nummer wählte. Mutig nahm er das Gespräch entgegen. Es war Elmar, sein Kumpel aus alten Zeiten. Der Kontakt zu ihm war eingeschlafen, ohne dass es, soweit er sich entsann, dafür einen besonderen Grund gegeben hätte. Er hatte nicht damit gerechnet, wieder einmal mit ihm zu sprechen. Philip versicherte Elmar, dass es ihm gut ginge. Ja, er wohne noch in derselben Bude wie damals. Im Moment allerdings habe er woanders Quartier bezogen, in einer Notunterkunft. Es möge seltsam erscheinen, aber er könne nicht sagen, wo. „Es sind zurzeit spezielle Umstände. Meine Schwester, musst du wissen, ist verschwunden. Aber das ist eine lange Geschichte. Klar, wir können uns treffen. Ja, am alten Bahnhof. Um fünfzehn Uhr? In Ordnung. Bis dann!“

Philip war froh, jemanden gesprochen zu haben, den er von früher kannte, jemanden, dem er vertrauen konnte. Er sackte zufrieden in den abgewetzten Sessel.


Elmar wartete am Bahnhofseingang. Philip fand, dass er kaum älter ausschaute als damals, nur ein wenig dicker. Seine Augen hatten an Lebendigkeit verloren und die Mundwinkel zuckten seltsam. Sie gingen in ein Café, bestellten Buttercremetorte und redeten. Elmar sagte, es ginge ihm gut, er habe eine anständige Stellung bei der Post, in der Verwaltung. Philip erzählte, was kürzlich alles geschehen war. „Meine Schwester Alice ist weg, einfach weg! Du hast bestimmt von dieser Sache gehört, es kommt ja ständig in den Nachrichten. Ich meine das mit Europa, diesem Jupitermond.“ Er breitete die ganze Geschichte vor Elmar aus.

Der nickte bedächtig, als Philip nichts mehr zu erzählen wusste. „Da solltest du vorsichtig sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass du beobachtet wirst, ist recht hoch. Am besten, du verhältst dich ruhig. Wer weiß denn außer dir von der Sache?“

„Dieser Kommissar.“

„Dabei sollte es auch bleiben. Wenn sie das Verschwinden einer ganzen Gruppe von Leuten verheimlicht wollen, wird alles getan, damit das auch gelingt. Sie werden sämtliche Mittel einsetzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Eventuell ist dein Leben gefährdet, oder sie stecken dich in den Knast, indem sie dir etwas unterschieben. Offiziell werden sie dir nichts tun, klar, wir leben ja in einem Rechtsstaat. Aber du sagtest ja, dass solche Geheimtypen mitmischen. Und wenn sie selbst die Polizei von dem Fall abgezogen haben, dann ist das ein ganz großes Ding, eine Staatssache von höchster Wichtigkeit sozusagen! O Mann, ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Aber ich kann dir helfen. Ich kenne da den Portier eines kleinen Hotels. Dort könntest du dir unter falschem Namen ein Zimmer mieten. Am besten noch heute. Wo du jetzt wohnst, finden sie dich irgendwann. Und ich werde dir ein Handy besorgen, ein sauberes Handy, eines mit anonymer Karte.“

„Ja danke, prima Idee. Was aber wird aus Alice, wenn ich nicht nach ihr suchen kann?“

„Tu jetzt nur nichts Unüberlegtes. Wir wissen ja gar nicht, was mit ihr los ist. Kann sein, sie wurde in Sicherheit gebracht, unter Schutz gestellt, was auch immer. Im Prinzip kannst du nichts machen. Du willst etwas unternehmen, das ist verständlich; wenn du allerdings darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass du nichts tun kannst, weil du nicht weißt, was du tun sollst.“

Philip presste die Lippen zusammen, sagte dann: „Ich könnte die Presse ...“

„Um Gotteswillen!“, fiel ihm Elmar ins Wort, „das wäre doch dein Todesurteil. Wahrscheinlich hat die Presse wieso Schreibverbot, was dieses Thema betrifft.“

„Aber wir haben doch eine freie Presse, es gibt Rechte.“

Elmar lachte auf: „Wer sagt das?“

„Der Staat garantiert ...“

„Ja, die Freiheit und unsere Rechte sind ein hohes Gut. Dafür muss gekämpft werden. Die Verteidigung der Freiheit beinhaltet zumeist eine Einschränkung der Freiheit. So verhält es sich auch mit unseren Rechten. So wird das Böse oft angewendet, damit man das Gute schützen kann.“

Philip stopfte sich ein Stück Torte in den Mund und zerkaute es nachdenklich.


Das neue Hotelzimmer glich dem alten, nur die Tapete war ein wenig vergilbter. Er saß hier herum und hatte keine Ahnung, was er unternehmen sollte. Einerseits musste er etwas tun, denn er wollte Alice nicht im Stich lassen; andererseits konnte er nichts tun, jedenfalls nichts, was nicht auffallen würde. Wenn sie ihn beobachteten, wäre alles auffällig, egal was er tat. Er starrte auf einen imaginären Punkt im Raum. Eine Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Gewiss, das war sie, mit ihr war er zusammengeprallt. Deutlich konnte er ihr Gesicht erkennen. Ihre Lippen formten ein Wort: Schicksal! Er versuchte, seine Vision abzuschütteln. Es gelang, bald schien alles wieder normal. Dass er aber das Wort Schicksal gehört hatte, mit eigenen Ohren, laut und klar, war eine nicht zu leugnende Tatsache.

Dieser merkwürdige Vorfall für sich genommen hätte nicht die Kraft gehabt, sein Weltbild ins Wanken zu bringen, wenn nicht am nächsten Tag Folgendes passiert wäre: Der Vormittag war lichtvoll und wohlig warm, so wollte er ein wenig Luft schnappen. Er ging spazieren. Flott liefen die Leute auf der Straße hin und her, stürmten in die Geschäfte, stürmten aus ihnen wieder heraus. Gehetzt blickten sie auf ihre Uhren und rannten drauf los, als wäre der Teufel hinter ihrer Seele her. Er glaubte, er befände sich in einer Welt voller ruheloser Geister, alle dazu verdammt, in einem Bereich zwischen Leben und Tod ihr Dasein zu fristen. Das ist ja die Welt der Schatten, hier wohnt ja gar nicht das Leben, dachte er. In diesem Moment legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er blickte sich um und sah sie, diese Frau, diese Karen.

„Glauben Sie an das Schicksal?“, wollte sie wissen.

Er fühlte sich unbehaglich, da seine Vision von gestern Abend und das Jetzt sich auf erschreckende Weise deckten. Ein Zittern wanderte durch seinen Körper, es war Angst.

„Nun ja“, stammelte er, „vor Kurzem hätte ich mit einem Nein geantwortet und gesagt, dass der Glaube an ein Schicksal eine Art von Schwäche ist, eine Entschuldigung, um keine Verantwortung zu übernehmen. Aber jetzt, in diesem Moment, da bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Verzeihen Sie, ich rede konfus, aber mir ist so zumute, als hätte ich mich gestern an etwas erinnert, was soeben erst passiert ist.“

Sie lächelte ihn an, lange genug, bis er sich unwohl fühlte. „Hört sich ja interessant an“, sagte sie, „wir sollten das Thema irgendwann vertiefen. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich. Es liegt keine Absicht in dem, was ich sage. Ich folge nur dem Schicksal, obwohl das nicht ganz korrekt ausgedrückt ist. Natürlich folge ich dem Schicksal nicht wirklich, das hieße ja, ich würde ihm hinterherlaufen. Das Schicksal ist das, was passiert – man ist nicht getrennt davon. Aber lassen wir dieses Gerede mal. Die Wahrheit ist, Sie sind in Gefahr. Sie sollten sich in Acht nehmen.“

Und wieder schwankte ihm der Boden unter den Füßen. Was hatte das zu bedeuten? Wusste sie, was los war? Wenn ja, so war sie gewiss eine von denen, eine Agentin der Erdsicherheit, des IES. Somit war es alles andere als ein Zufall, dass er mit ihr zusammengestoßen ist. Nein, es gehörte mit zum Plan. Offenbar hatte man sie auf ihn angesetzt. Also wollte sie ihm damit drohen, wenn sie ihm sagte, er solle ich in Acht nehmen. Er erinnerte sich an Elmars warnende Worte.

„Ich weiß, was Sie denken“, behauptete sie.

„So?“

„Sie meinen, ich sei eine von denen. Sie wissen schon, die in der Jupitersache ermitteln und vertuschen wollen, dass ...“

„Sie wissen davon? Wer sind Sie?“

„Ich bin keine von denen. Ich gehöre zur anderen Seite!“

„Sie sympathisieren mit den Aliens?“

Sie lachte laut auf und hakte sich vertraulich bei ihm ein. „Gehen wir einen Kaffee trinken, ja?“

Das Café war fast leer. Sie bestellte einen Milchkaffee, nahm einen Schluck und wischte sich einige Blasen des Schaumes von der Oberlippe. „Alien-Sympathisanten sind zumeist harmlose Spinner mit esoterischem Hintergrund. Sie erhoffen sich das Paradies, wenn sie endlich den Außerirdischen begegnen. Glauben Sie, dass ich zu denen gehöre?“

Philip sah sie an und ließ dabei den Blick eine Weile auf ihrem Gesicht ruhen. Etwas geschah dabei, er konnte nicht sagen, was es war, aber es schien so, als würde eine unsichtbare Hand in ihn hineingreifen und seine Seele berühren. „Sie wollen mir nicht wirklich erzählen, dass Sie eine Außerirdische sind?“, fragte er hart, obwohl er innerlich weich wurde und zu zerfließen begann.

Sie lächelte. „Ich sehe doch nicht so aus, wie jemand, der unter Wasser lebt?“

Er pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Sie sind eine Agentin von ihnen, von diesen geheimnisumwobenen Europabewohnern!“

„Sie sollten weniger Vorstellungen haben. Sie verwirren sich damit nur. Es ist nicht klug, alles zu glauben, nur weil es so aussieht, als würden Sie es selbst denken. Das, was ich bin, übersteigt im Moment noch Ihre Vorstellungskraft. Und ich bin nicht allein. Bis jetzt ist niemand wirklich an den Europabewohnern interessiert. Sie sind nur ein Vorwand, damit die Mächtigen ihre Herrschaft ausbauen können. Nebenbei versuchen sie, uns zu eliminieren, mich und die, die so sind wie ich.“

„Sie meinen, man hat auf dem Jupitermond nichts entdeckt?“

„Sie haben etwas gefunden. Daraus wurde dann die Geschichte gewoben, die großartige Story von der bedrohten Erde.“

Ihm schwindelte. „Die Erde ist gar nicht in Gefahr?“

Sie nickte. „Doch, sie wird allerdings von denen bedroht, die die angebliche Bedrohung abwenden wollen, klar?“

„Wenn Sie so viel wissen, wie Sie vorgeben, dann sagen Sie mir doch, wo meine Schwester ist!“

Karen schaute durch das Fenster des Cafés auf die Straße hinaus. „Alles hat seine Zeit. Jetzt ist die Zeit, um zu verschwinden. Sie warten da hinten in dem blauen Wagen.“

Er sah nach draußen. Ja, dort stand ein Wagen, protzig und dunkelblau. Allerdings besagte das nichts. „Wollen Sie mir Angst einjagen, oder werde ich wirklich verfolgt?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

„Wir sollten jetzt gehen, bevor sie noch Verstärkung anfordern. Übrigens – Sie werden nicht verfolgt. Das haben die nicht nötig. Sie sind eine zu leichte Beute, da lohnt sich keine Hetzjagd. Sie wollen mich. Nebenbei bemerkt – habe ich Ihnen gerade das Leben gerettet. Man wird Ihnen nichts tun, da man glaubt, man bekommt durch Sie Informationen über mich. Derjenige, der Sie erledigen soll, wird noch eine Weile auf seinen Spaß warten müssen. Los komme … kommen Sie mit! Sie können auch hierbleiben. Wenn Sie allerdings mit mir gehen, dann haben Sie die Chance, einige überraschende Dinge zu lernen“, sagte sie und erhob sich hintergründig schmunzelnd.

Er folgte ihr auf die Straße. Der Wagen stand auf der anderen Seite. Türen wurden aufgestoßen und zwei Kerle sprangen heraus, sie zogen Gesichter wie ausgehungerte Bulldoggen.

„In die Ausfahrt rein!“, rief Karen.

Er gehorchte, wusste aber nicht, ob es klug war, ihr zu vertrauen. Eventuell hockten sie jetzt in der Falle.

„Hausaufgang!“

Wieder folgte er ihr. Sie stiegen eine Treppe aufwärts. Im dritten Stockwerk ging es nicht weiter. Von unten her klapperten Schritte.

„Es ist nur einer. Sie haben sich aufgeteilt“, bemerkte Karen trocken und zeigte dabei auf eine Tür. Philip drückte die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen. Sie betraten einen Hängeboden, der schon lange nicht mehr zum Trocknen von Wäsche benutzt wurde, sondern als Abstellraum für alles Mögliche diente. Karen öffnete eine wurmstichige Kiste, die verstaubt in einer Ecke vor sich hin gammelte, entnahm ihr einen Hammer und einen Besenstiel, den sie geschickt unter der Klinke der Eingangstür stemmte. „Das wird uns vierundzwanzig Sekunden Zeit geben“, versprach sie. „Jetzt weiter! Siehst du links von dir einen Draht auf dem Boden liegen?“

Er ließ seinen Blick nach unten wandern. Tatsächlich lag dort ein dicker Draht! Verwundert hob er ihn auf. Sie nahm ihm das Fundstück aus der Hand und strahlte. „Ja, das ist er.“ Sie verbog den Draht mit geschickten Händen, „Unser Schlüssel für die Tür dahinten.“

Philip rüttelte an der besagten Tür. Sie war verschlossen.

„Vierundzwanzig Sekunden Zeit.“

Philip musterte Karen und war sich nicht klar, ob er eine Irre vor sich hatte, oder eine Frau, die haargenau wusste, was sie tat. Karen schob den Dietrich ins Schlüsselloch und öffnete mühelos die Tür. Sie fanden sich in einem weiteren Treppenhaus wieder.

Karen ließ den Dietrich fallen. „Das ist das Nebenhaus. Der Dachboden verbindet die beiden Treppenaufgänge“, belehrte sie Philip. Sie warf die Tür hinter sich zu. Sie besaß keine Klinke, nur einen Knauf, der sich nicht drehen ließ, was den Verfolger einige Sekunden lang aufhalten würde.

Von unten hallten Schritte. „Der andere Mann“, sagte Karen, „aber keine Angst: Hier im Treppenhaus wird er nicht schießen. Außerdem habe ich mir ja den Hammer aus der Kiste mitgenommen. Mit welcher Faust schlägst du härter zu? Mit der rechten oder der linken?“

Philip stutzte. „Äh, ich weiß nicht.“

„Aha, habe ich mir gedacht. Deswegen der Hammer. Dann los, nach unten!“, befahl Karen.

Sie liefen abwärts, dem anderen Verfolger entgegen, der die Treppe hoch hastete. In der zweiten Etage blieb Karen abrupt stehen, schwang den Hammer und schlug damit gegen die Türen, bis Farbe von ihnen absprang und das Holz splitterte. Jetzt war der von unten kommende Verfolger nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Ein junger Mann mit kalten Augen. Zackig lief er auf sie zu. Karen warf den Hammer in seine Richtung. Der Mann fing ihn reflexartig. In diesem Augenblick flogen fast gleichzeitig alle Türen der Etage auf. Ebenso überrascht wie wutschnaubend kamen die Mieter aus ihren Wohnungen heraus und gafften fragend auf die drei Fremden. Schließlich blieben ihre Blicke an dem Mann mit dem Hammer hängen. Von oben her erschütterte weiterer Lärm das Haus, der daher rührte, dass der zweite Verfolger inzwischen die Tür des Dachbodens aufgestemmt hatte.

„Das ist sein Komplize, es sind Einbrecher! Man muss sofort die Polizei alarmieren. Halten Sie die beiden fest, sonst entwischen diese dreisten Gauner noch!“, brüllte Karen und entwand dem verwirrt gaffenden Mann den Hammer mit einem flinken Griff. Das Werkzeug fiel polternd zu Boden, der junge Mann starrte vor sich hin und versuchte vergeblich, die Situation zu verstehen, in der er sich befand. Ehe er sich‘s versah, hatten die Mieter ihn umzingelt. Schon kam sein Kollege die Treppe herunter. Er wurde sogleich von einem kräftigen Hausbewohner beim Kragen gepackt und durchgeschüttelt. Karen und Philip nutzten die Situation aus. Sie machten sich auf und davon.

Wieder auf der Straße angelangt blieb Philip keine Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Ohne Vorwarnung stieß Karen ihn zur Seite. Er stolperte und fand taumelnd erst auf der Fahrbahn das Gleichgewicht wieder. Ein heranfahrendes Auto bremste. Mit quietschenden Reifen kam es grade noch rechtzeitig zum Stehen. Das nachfolgende Fahrzeug wäre beinahe aufgefahren. Das dritte Auto aber knallte mit einen ordentlichen Rums gegen den zweiten Wagen. Airbags blähten sich auf, Autotüren wurden aufgerissen. Geschrei und Flüche übertönten den Verkehrslärm.

„Rasch, komm fort von hier!“, rief Karen und zog Philip mit sich.

„Was war denn das?“, beschwerte er sich bei ihr, „war das ein Mordversuch?“

„Es bestand keine Gefahr.“

„Ach, keine Gefahr? Man hätte mich beinahe überfahren. Was sollte das nur?“

Karen schlug einen versöhnlichen Ton an. „Philip, du wärst nicht überfahren worden, da es nicht dein Schicksal ist, unter einem Auto zu sterben. Ja, es war vielleicht nicht angenehm für dich, dieser kleine Schubser, aber er war notwendig. Da saß nämlich die Verstärkung unserer Verfolger drin, im letzten Auto, das aufprallte. Ich habe eine hilfreiche Handlungskette in Gang gesetzt. Du warst nie in Gefahr!“

„Das konntest du doch gar nicht wissen“, tobte Philip, „und auch konntest du nicht vorhersehen, dass ausgerechnet das dritte Auto auffahren würde.“

„Ich habe getan, was zu tun war. Im Moment ist deine Sichtweise zu begrenzt, um das zu verstehen. Deswegen regst du dich auf.“

„Willst du damit sagen, ich bin zu dumm und verstehe deswegen nicht, was du meinst?“

„Es ist keine Frage von Dummheit oder Intelligenz. Es entzieht sich einfach deinem Verständnis“, sagte sie mit der Gewissheit, dass er ihre Worte nicht verstehen würde.

Unterdessen waren sie einige Straßenecken weitergekommen. Philip erinnerte sich an die Mahnung des Kommissars, niemanden zu vertrauen. „Na wenigstens sind wir ihnen entwischt“, sagte er mehr zu sich als zu Karen.

„Du bist ihnen nicht entkommen! Sie waren hinter mir her, also keine Sorge. Vorerst bist du in Sicherheit. Sie werden dich weiterhin beobachten, hoffen, dass sie etwas durch dich über mich herausbekommen. Irgendwann aber ... Ach, denke nicht an die Zukunft: Am Ende wird alles gut.“

Er schaute Karen durchdringend an. „Eine Frage bleibt allerdings: Wer bist du eigentlich? Und warum gab es diesen zufälligen Zusammenstoß mit mir, der wahrscheinlich nicht zufällig war. Und was weißt du wirklich alles?“

Karen lachte auf: „Du hast dein Vertrauen ins Leben verloren! Wer? Wie? Wo? Was? Warum? Das alles sind vollkommen unnötige Fragen. Sie haben nicht den geringsten Wert. Bedeutungslose Fragen können nur zu bedeutungslosen Antworten führen. Bedeutungslose Antworten führen zu törichten Taten. Wenn du wissen willst, was mit deiner Schwester Alice ist, musst du es herausfinden. Wir, sie und ich, sind uns schon begegnet. Sie würde nicht wollen, dass ich dir etwas über sie sage. Verlass dich nicht auf mich. Du musst dein Schicksal erfüllen. Eines Tages wirst du alles verstehn und über deine Dummheit kichern. Du weißt, ich werde gejagt und bin schwer zu fangen. Jetzt müssen wir uns trennen, sonst machen wir es den Jägern zu leicht. Ich werde aber trotzdem immer da sein, auch dann, wenn du mich nicht siehst. Ich sehe dich, wir sehen dich. Wir sind bei dir. Habe keine Angst und vertraue allem, was dir begegnet. Vertraue, vertraue, vertraue!“

Philip bemühte sich, ihre Worte zu verstehen, aber als er sie mit dem Verstand fassen wollte, war ihre Bedeutung schon verblasst und es schien ihm, als hätte Karen nie etwas gesagt. Er schaute ihr in die Augen, oder vielleicht waren es auch ihre Blicke, die seine magisch anzogen. Ihre Augen waren wie die Ewigkeit, sie schienen alles auszudrücken und doch befand sich nichts in ihnen. Sie blickten aus einer anderen Welt zu ihm, aus der Zeitlosigkeit hinein in die Zeit, in der er gefangen im Kreise schwamm, ein Goldfisch im Glas. Die die Gegenwärtigkeit Ihres Lächelns schwebte noch als ungreifbare Ahnung vor ihm, als sie schon längst fortgegangen war.

Dienstag, 2. November 2021

                                                        TEIL 2


Philip starrte auf das summende Smartphone. Ein Anruf von seinem Exschwager. Er wunderte sich, da er mit ihm kaum noch Kontakt hatte.

Philip, falls du deine Schwester erreichen willst: Sie ist nicht da, sie ist verschwunden“, sprach es aus dem Lautsprecher. „Laura ist vorerst bei mir und es geht ihr gut, obwohl sie ihre Mutter vermisst.“

Philip war sich nicht klar, ob er alles verstanden hatte. „Was heißt das: Alice ist nicht da?“

Verschwunden, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Laura hat sich an die Nachbarn gewandt, die haben dann die Polizei benachrichtigt. Die Polizei wird sich bestimmt auch bei dir melden. Du weißt nicht zufällig was?“

Ich? Nein! Ich weiß nur, dass sie an diesem Projekt arbeitet, diesem außerirdischen Zeug, wovon sie im Fernsehen berichtet haben.“

Ich hoffe das Beste, dass sie bald wieder auftaucht. Machs gut Philip!“

Er legte das Smartphone aus der Hand, die jetzt kraftlos an seinem Arm hing. Er fragte sich, ob er den Anruf soeben wirklich geführt hatte. Es gab nichts daran zu rühren, es war kein Traum gewesen, sondern die absurde Realität, die einem immer wieder neue Fragen vor die Füße warf. Wie konnte seine Schwester nur verschwinden? Sie wäre niemals einfach losgegangen und hätte die kleine Laura zurückgelassen! Etwas musste passiert sein, etwas Unvorhersehbares, Schreckliches. Er betete, dass sie noch lebte.

Er durfte nicht nur warten und nichts tun! Er musste sich aufraffen, seine Trägheit abschütteln, etwas unternehmen. Nein, Alice konnte nicht tot sein, das akzeptierte er nicht. Sie lebte, irgendwo, sie wartete und brauchte Hilfe. Er fühlte sich seltsam, ihm kam es so vor, als hätte er für Sekunden durch ihre Augen geschaut. Ein abgeschlossener Raum. Er fror. Sie hockte in einer Ecke und sah zu, wie eine Spinne ein Netz webte. Er spürte nicht seinen, sondern den Körper seiner Schwester, ihre Gedanken schwammen in seinem Kopf. Zwischen ihm und Alice gab es keine Grenze. Zitternd saß er in diesem Gefängnis. Als er tief ausatmete, fand er sich in seiner Wohnung wieder. Hastig sprang er auf, steckte Kreditkarte und Schlüssel ein und rannte panisch aus dem Haus.

Vor dem Grundstück seiner Schwester angekommen, fragte er sich, was er hier überhaupt wollte. Er hatte keine Ahnung. Irgendetwas führte ihn, lenkte seine Schritte, ein Instinkt, der mehr wusste als sein Verstand. Es herrschte Betrieb. Männer schleppten Kisten aus dem Haus. Unsicher ging Philip zur Eingangstür, vor der er sogleich angesprochen wurde. Er solle doch bitte weitergehen, hier werde gearbeitet.

Aber das ist das Haus meiner Schwester!“

Aha“, sagte der Mann, der sich vor ihm aufgebaut hatte, „Sie sind das.“

Es hört sich an, als hätten Sie auf mich gewartet. Man scheint ja das ganze Haus leerräumen zu wollen. Ist das so üblich bei einem Vermisstenfall?“, wollte Philip wissen.

Der Mann nickte. „Das Verschwinden Ihrer Schwester ist kein gewöhnlicher Fall. Wie Sie wissen, arbeitete sie für die Weltraumbehörde ESA. Es müssen Unterlagen sichergestellt werden.“

Verstehe“, sagte Philip mit nachdenklicher Miene, „haben Sie schon eine Spur, einen Verdacht, wo sie sein könnte?“

Der Polizist presste seine Lippen zu einem Strich zusammen. „Nein, ich gehöre nicht zu dieser Art Polizei. Dafür ist eine andere Abteilung zuständig.“

Zu welcher Art von Polizei gehören Sie denn, wenn ich fragen darf?“

Zu der Art, von der man selten hört. Wir sind für die nationale Sicherheit zuständig. Wir sorgen dafür, dass wichtige Informationen nicht in die falschen Hände geraten. Der dahinten, der kleine Dicke neben der Birke, der ist von der normalen Polizei. Aber sollten Sie etwas von Ihrer Schwester hören, melden Sie sich zuerst bei uns, das hat absoluten Vorrang!“, sagte der Mann vom Geheimdienst und überreichte Philip eine Karte mit einer Telefonnummer.

Philip bedankte sich oberflächlich und lief zum kleinen Dicken hinüber. „Ich bin der Bruder der Vermissten, Philip Stein.“

Der Ermittler schaute ihn traurig von unter her an. „Ich bin Polizeioberkommissar Lehmann. Sehen Sie, alles weg, alle Hinweise sind weg. Sie räumen alles leer – die sind von der Regierung. Ach, was rede ich: Die sind mehr als die Regierung!“

Philip nickte. „Ich weiß. Haben Sie Spuren, Anhaltspunkte?“

Spuren? Nö – Sie ist verschwunden, hat keine Hinweise hinterlassen. Sagen Sie: War ihre Schwester vielleicht in einer gewissen Form lebensmüde, depressiv? Entschuldigen Sie, aber ich muss diese Fragen stellen. Reine Routine.“

Philip schüttelte den Kopf. „Sie hätte niemals ihre Tochter alleine gelassen.“

Der Ermittler nickte, wobei sein Doppelkinn wackelte. „Hören Sie, wenn Sie etwas Neues erfahren sollten, sagen Sie mir gleich Bescheid. Ich meine, wirklich gleich. Nicht erst denen da, der Geheimpolizei. Falls ihre Schwester noch lebt – verzeihen Sie meine direkte Rede – dann sind die Chancen so etwas größer, sie zu finden. Die da hinten sind nur an Informationen interessiert, am beschaffen von Daten und an Geheimhaltung von Daten, nicht an Menschen.“

Philip ergriff die Visitenkarte, die der Kommissar ihm reichte. „Verstehe“, sagte er, drehte sich um und verließ das Grundstück. Kurz dachte er daran, des Nachts hier aufzutauchen und heimlich ins Haus zu gelangen. Aber er verwarf das schnell wieder. Sie würden gewiss Wachen aufstellen. Es musste ja verdammt wichtig sein, dieses Projekt, sagte er sich, diese Erforschung des Apparates vom Mond Europa. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er war nicht besonders gut darin.

Alice war fort, einfach so. Der Geheimdienst trieb sich in ihrem Haus rum. Die Kriminalpolizei schickte einen traurigen, fetten Ermittler vorbei, der wahrscheinlich gar nicht ermitteln durfte, der auch nichts zu ermitteln hatte, da alle Beweismittel weggeschafft wurden. Er stellte sich die Frage, wie viel der Geheimdienst wirklich wusste und was er vertuschte?

Philips Kopf schmerzte und seine Gedanken wurden zu flinken Fischen, von denen nicht ein einziger zu fassen war. Er wollte sich an etwas erinnern. Da war aber nichts in ihm. Nicht vielmehr als ein Nebel, ein milchiger Vorhang, hinter dem sich alles Mögliche verbergen mochte. War es Alzheimer, war es Ausdruck der großen Müdigkeit, die ihm seit Langem schon befallen hatte, und die er mit sich schleppte wie einen monströsen Stein? In der Krone einer Pappel trällerte eine Amsel. Ein Pfauenauge taumelte wie sterbend durch den Augenblick. Seine Schwester, ja, er wollte seine Schwester suchen. Sie lebt, sagte er sich, sie lebt! Unvermittelt schaute er abermals durch Alices Augen. Eine Spinne ließ sich an einem Faden von einer Decke herab. Etwas holte ihn ruckartig wieder auf die Straße zurück. Er stand in der Siedlung neben all den teuren Häusern. Dieses Unbekannte, das ihn ergriffen hatte, rüttelte etwas in ihm wach. Vielleicht gab es ja Engel. Er fand diese Vorstellung schön und lächelte. Eine Stimme in ihm sprach: „Ab jetzt wirst du Wunder erleben!“

Er schauderte, eine unsichtbare Hand hatte ihn gepackt und die Führung über sein Leben übernommen.

Ein Expertenteam, hieß es, sollte das Gerät vom Jupitermond Europa untersuchen. Philip sagte sich, dass er jemanden von diesem Team ausfindig machen müsse. Mit diesen Leuten hatte Alice viel Zeit verbracht. So könnte er gewiss etwas erfahren.

Er schloss die Tür auf, war wieder daheim. Nachdem er seinen Computer hochgefahren hatte, gab er ROBOTER VON EUROPA in die Suchmaschine ein. Es erschienen jede Menge Artikel über den Jupitermond, zumeist reißerisch aufgemacht, aber er fand darin kaum Hinweise über die Wissenschaftler, die an dem außerirdischen Artefakt forschten. Erst nach langer Suche stieß er auf die Namen von zwei Leuten. Scheinbar hatten beide an dem Projekt mitgearbeitet. Weiter war nichts zu erfahren. Er wollte sich die Facebook-Seite seiner Schwester ansehen. Seine Bemühungen blieben vergeblich, die Seite lud nicht. Er sah seine Mails durch: Reklame; die Mahnung, dass die Ausleihfrist eines Buches bald abgelaufen sei; eine Nachricht mit der Aufschrift: BITTE ÖFFNEN!! Vermutlich Spam, entschied er. Als er grade dabei war, sie zu löschen, brachte ihn ein Impuls dazu, sie dennoch anzuklicken. Die Mail beinhaltete einen der beiden Namen, die er im Internet gefunden hatte. Darunter stand eine Adresse. Die Mail stammte von einem anonymen Server. Ihm wurde klar, dass hier etwas nicht stimmte: Erst schienen alle Informationen, die er gesucht hatte, gelöscht worden zu sein, nun bekam er eine von den Adressen, die ihn interessierten, einfach so zugeschickt! Morgen nahm er sich vor, würde er diesen Mann besuchen. Jetzt war er zu müde dazu.

Er mixte sich einen Smoothie, gab Kratom mit hinein und schluckte die leicht bittere Masse. Nach wenigen Minuten wirkte die Droge. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihm aus, sein Kiefer wurde taub. Er setzte sich vor seinen Computer und klickte einige Musikvideos auf Youtube an. Beim Hören der Melodien redete er sich ein, die Welt sei vollkommen in Ordnung.


Der Ton des alten TV-Gerätes drang an sein Ohr, aber der Schlaf zog Philip langsam und zwingend wieder in die Tiefe. Bilder flatterten vorbei, er sah Fäden, weitverzweigt, die Zukunft und Vergangenheit durchwebten. Abrupt verschwanden diese Erscheinungen und machten einer grauen Weite Platz. Jemand schien zu rufen: 'Wir sind hier!' – Diese Worte hallten nicht laut. Man konnte sie nur innerlich hören. Er fand sich am Rand von etwas Gewaltigem wieder. Es handelte sich um ein Loch oder Tunnel, um einen Pfad zu einer versteckten Wahrheit. „Wir sehen dich!“, rief es aus unbestimmbarer Richtung. „Wir sind hier!“ Der Abgrund übte einen unheimlichen Sog auf ihn aus, er zog, zerrte und saugte mit aller Kraft. Es lag eine betörende Süße in der Luft, gleichzeitig aber umklammerte ihn die Angst und er fror. Er riss die Augen auf! Sein Schlafanzug war durchgeschwitzt. Erbarmungslos schien die Sonne ins Zimmer und ließ Tausende von Staubteilchen aufleuchten, die wie verlorene Seelen im Raum hingen. Er kroch aus dem Bett, schleppte sich zum Badezimmer und warf sich zwei Hände voll Wasser ins Gesicht.


Einige Zeit später stand er vor dem Haus mit der Adresse, die ihm in der anonymen Mail zugesandt worden war. Nachdem er geläutet hatte, erschien eine rundliche Dame an der Tür.

Guten Tag, ich möchte gerne ihren Mann sprechen“, sagte er.

Meinen Mann? Ich dachte schon, Sie sind einer von denen, die gestern hier waren, von diesen Geheimheinies. Aber dann wüssten Sie ja, dass er nicht hier ist. Mein Mann ist fort, verschwunden, einfach so. Aber eigentlich soll ich es ja niemanden sagen. Also vergessen Sie es besser wieder.“

Wie? Sie haben Redeverbot? Aufgrund welchen Gesetzes eigentlich?“

Irgendetwas wegen der inneren Sicherheit oder so, glaube ich zumindest“, sagte die Frau zögernd.

Hören Sie: Ich bin hier, weil meine Schwester Alice, Alice Stein-Lumen, verschwunden ist, genauso wie Ihr Mann. Beide waren Kollegen.“

Ja, und der Freund meines Mannes ist auch nicht mehr zu erreichen. Mit dem hat er ebenfalls zusammengearbeitet!“

Sieht aus, als wären alle fort, die an dem Projekt beteiligt waren. Sie wissen, dieses Europa-Projekt.“

Die Frau begann zu flüstern: „Es kann sein, dass sie uns beschatten. Ich traue denen nicht. Besser, Sie gehen.“ Sie drückte die Tür vor seiner Nase zu.

Er blickte sich um: Niemand war zu sehen, aber vielleicht saß jemand in einem der Autos auf der anderen Straßenseite und beobachtete ihn durch abgetönte Wagenscheiben. Selbst in den Häusern konnten sie sich verschanzt haben. Wer auch immer: der Geheimdienst, die Polizei, Agenten einer feindlichen Macht oder sogar Außerirdische. Er spürte Blicke, kalte Augen starrten ihn an. Er schüttelte sich und versuchte, diese schreckliche Vorstellung loszuwerden. Nein, da war gewiss niemand, ganz bestimmt nicht! Es lag an den Nerven. Er war nicht verrückt. Er war gesund! Zumindest wollte er daran glauben.

Er lief und lief und achtete nicht darauf, wohin seine Schritte ihn führten.

Hey!“, rief ihm unvermittelt jemand zu.

Philip zuckte zusammen und schaute sich um. Er erkannte Kommissar Lehmann, den Polizisten, den er vor dem Haus seiner Schwester getroffen hatte. „Sie?“, fragte er überrascht.

Der Kommissar nickte. „Ich konnte es nicht lassen. Ich habe Sie beobachtet.“

Gott sei Dank“, sagte Philip, froh darüber, dass sein Gefühl von vorhin keine Einbildung war. Er war offenbar nicht paranoid. Er wurde wirklich verfolgt.

Wie bitte?“

Ach, schon gut. Bin ich verdächtig?“

Kommissar Lehmann schüttelte den Kopf. „Sie sind der unverdächtigste Kerl, der mir je über den Weg gelaufen ist. Hören Sie zu, die Sache ist so: Die Akte ist geschlossen. Heute kam die Nachricht von der Staatsanwaltschaft. Ihre Schwester geht mich offiziell nichts mehr an.“

Philip schaute verständnislos drein. „Aber Sie verfolgen mich trotzdem. Warum?“

Sehen Sie“, sagte der Kommissar und versuchte dabei, seine Stimme ein wenig förmlich klingen zu lassen, „es ist doch so, man hat mir den Fall entzogen und ... Haben Sie schon die Nachrichten gehört?“

Hatte er nicht. Er informierte sich nur unregelmäßig darüber, was die Meinungsindustrie der Masse zum Fraß vorwarf. „Nur wenn ich mich langweile oder mich ärgern will, tu ich mir das an.“

Die Meldungen von heute sind besonders interessant: Außerirdisches Leben gilt als bewiesen. Und man redet hier nicht von Mikroben in irgendeiner Schleimbrühe. Man geht von einer ganzen Zivilisation aus. Diese Apparatur, an der Ihre Schwester geforscht hat, ist weder aus China, noch aus Korea, sondern definitiv nicht von dieser Welt! Nachdem man das festgestellt hat, wurde sofort eine neue Behörde gegründet. Ich nehme an, dort arbeiten Leute vom BND und dem Verfassungsschutz.“

Philip griff sich an die Stirn. „Moment mal, wieso BND und Verfassungsschutz?“

Na wegen der Gefahr einer feindlichen Übernahme!“

Feindliche Übernahme? Wäre da nicht eher das Militär gefragt? Zur Abwehr der Raumschiffe, falls diese Fische oder was sie immer auch sind, uns angreifen werden.“

Der Kommissar schüttelte energisch seinen Kopf: „Nein, nein – wir sind hier in keinem Science-Fiction-Film. Man geht nicht davon aus, dass sie mit Raumschiffen ankommen, um alles kurz und klein zu schießen. Vielmehr vermutet man, dass sie schon hier sind!“

Dass Fische vom Mond Europa bei uns in den Teichen schwimmen?“

Mag sein, vielleicht nicht in den Teichen, aber in der Tiefsee. Das wäre noch nicht weiter schlimm, allerdings geht man davon aus, dass sie schon seit längerer Zeit ihre Leute hier bei uns haben. Also nicht ihre eigenen, aber Menschen, die für sie arbeiten, Sympathisanten. Diese Verblendeten träumen von einer neuen, einer besseren Welt unter der Herrschaft der Außerirdischen.“

Philip lachte auf. „Vollkommen absurd!“

Kommissar Lehmann stimmte ihm zu. „Wahrscheinlich, aber die meisten Politiker beurteilen die Situation kritisch und warnen vor den Gefahren staatsfeindlicher Umtriebe, vor Terrorismus. Reine Hypothesen. Man hat aber vorsorglich schon einmal eine neue Behörde gegründet, den sogenannten TAD, den Terrestrischen Abwehrdienst. Eine ähnliche europäische Behörde soll bald folgen.“

Aber das ist doch Schwachsinn!“

Gewiss, ich sagte ja, die Politiker ...“

Man hat noch gar keinen Kontakt zu diesen Europabewohnern. Vielleicht gibt es sie gar nicht. Dieses Gerät, das man entdeckt hat, kann von ganz woanders herkommen.“

Na ja, das Eis ist da oben eben zu dick“, überlegte Kommissar Lehmann laut, „noch hat man sich nicht durchschmelzen können. Aber man wird alles Mögliche unternehmen. Und Bomben werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch hochschicken, der Vorsorge halber.“

Und was hat das alles damit zu tun, dass Sie mir auf den Fersen sind? Und wer verdammt kümmert sich jetzt um meine Schwester?“, wollte Philip wissen.

Der Kommissar machte eine entschuldigende Geste. „Nun, offiziell habe ich Sie nicht beschattet. Ich hoffe auch, dass Sie nicht von anderen ins Visier genommen werden. Ich will den Fall weiter verfolgen, privat. Ich werde der Einzige sein, der sich um ihre Schwester kümmert.“

Warum?“

Keine Ahnung, es ist wie ein Trieb. Ich will den Fall nicht aufgeben! Es ist vielleicht der größte und geheimnisvollste, den ich je hatte. Mag sein, ich bin nur auf der Welt wegen dieses einen Falles. Nennen Sie es Besessenheit oder Idiotie. Ich kann nicht anders!“

Hören Sie, jetzt wo ich langsam begreife, welche Zusammenhänge es gibt, frage ich mich, warum ich Ihnen trauen sollte!“

Der Kommissar presste die Lippen zusammen. „Sie können nicht wissen, ob mir zu trauen ist. Vertrauen bedeutet, ohne Netz zu springen.“

Philip nickte bedächtig. „Sie haben es gewiss schon herausbekommen, nicht nur meine Schwester ist verschwunden, sondern das ganze Forschungsteam.“

Tja, das ist das, was Sie und ich wissen. Es ist das Einzige, was wir wissen. Ich melde mich wieder. Und trauen Sie niemanden!“

Gewiss“, sagte Philip, „Misstrauen bedeutet, nicht zu springen, obwohl es so ausschaut, als würde man von einem Netz aufgefangen!“

Kommissar Lehmann lächelte bitter und ging seines Weges. Philips Schädel brummte.


Geschäftiges Treiben herrschte auf der Straße. Die Menschen rannten gehetzt und schnappten kurzatmig nach Luft. Eine Mischung aus Feindseligkeit und Verblödung drückte sich in ihrer Mimik aus. Gedankenverloren trottete Philip den Fußweg entlang, kam aber ruckartig zu sich, als ihm eine Frau vor die Füße stolperte. Sie prallten zusammen. Ihre Handtasche fiel zu Boden. Unzählige nutzlose Dinge purzelten durcheinander und bedeckten einen guten Teil des Bürgersteiges.

Heute ist der Tag der seltsamen Zufälle“, meinte die Frau.


Hans Lehmann blickte in den Spiegel. „Nein, ich werde nicht gehen, werde nicht in das Krankenhaus gehen, nur um möglichst unbequem zu verrecken!“

Sterben hatte eigentlich nicht auf seiner Liste gestanden, zumal kam ihm das ungelegen, jetzt, wo er bald hätte Opa werden sollen! Außerdem gab es da eine Aufgabe, den letzten Fall, der zu lösen war. Er würde sich unauffällig verhalten und weiter seinem Job nachgehen. Nebenher könnte er das Puzzle lösen, das ihm das Schicksal auf den letzten Metern des Weges vor die Füße geworfen hatte. Mochte der Krebs ihn auch zerfressen, der letzte Fall stellte eine heilige Mission dar; sie erforderte Inbrunst und eine Leidenschaft, die kein Zögern duldete.

Es läutete an der Tür. Es musste seine Tochter sein. Er hörte die Schritte seiner Frau über den Flur klappern. Die Haustür wurde geöffnet und gedämpfte Stimmen drangen von außen ins Zimmer. Er blieb stehen, konnte nicht loskommen von seinem Spiegelbild. Das bin also ich, stellte er fest. Ihm war sogleich klar, dass dieser Gedanke nicht stimmte. In Wahrheit wusste er nicht, wer er war. Er dachte an den Schock, nachdem der Arzt die Diagnose gestellt hatte. Am nächsten Tag kam die Verzweiflung, gefolgt von einer ständigen Trauer, die Trauer über sich, über das, was war, und über das, was noch käme. Wie Sand schien das Leben. Es rann ihm durch die Finger. Tränen rollten vereinzelt übers Gesicht. Seltsamerweise war ihm so zumute, als würde er sich in dieser Trauer seit Langem wieder selbst spüren. Auch das verschwand bald, wurde zu Sand, den man nicht greifen, nicht halten konnte. Die Welt hatte sich verändert, sie war lebendiger geworden, direkter, farbig, die Augenblicke wogen schwerer in diesem Gewahrsein von Vergänglichkeit. Er wurde zu einem Schwamm, sog alles auf, bis er mit Lebendigkeit gefüllt lächelte. Wie seine Seele voll mit Leben war, so war sein Leib angefüllt mit Tod, mit wuchernden Zellen. Er drehte sich um und ließ den Spiegel hinter sich.

Auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen seine Tochter und sein Schwiegersohn. Er hörte, wie seine Frau in der Küche Kaffee kochte.

Schön, dass ihr da seid“, sagte er.

Hallo Papa, gehts dir gut?“

Ja, prima, fühle mich großartig.“

Du schaust auch gut aus“, bemerkte sein Schwiegersohn.

Hans Lehmann schmunzelte über den Witz, den er als Einziger im Raum verstand. Es war schön, dass er noch gut aussah am Ende seines Lebens. – O ja, man blüht immer auf, bevor man abtritt! – hätte er sagen können. Ja, irgendwann sollte er es jemanden sagen – oder nicht. Vielleicht war alles bedeutungslos und es zählte nur der Moment, immer wieder, bis in alle Ewigkeit.

Seine Frau betrat das Zimmer, eine Kanne mit heißem Kaffee in der Hand. Es duftete nach Nachmittag. Die Dinge schienen zu lächeln. Die Zeit stand still.


Philip lag auf dem Bett. Die Bilder des Tages spulten sich vor dem inneren Auge ab. Er sah die Frau des Wissenschaftlers vor sich, den Kommissar, die Tasche auf dem Boden, aus der viele Gegenstände herauspurzelten und sich als buntes Chaos auf dem Gehweg verteilten. So war es: Lauter Gegenstände liegen auf der Straße, man kann nicht genau sagen, was es da zu sehen gibt. Eben alles so Sachen sind es, überflüssiges Zeug, eigens erschaffen, um Damentaschen zu füllen. Ihr Gesicht zerfließt. Die Erinnerung wird ungenau. Ihre Nase sieht er, sie zeigt sie ein wenig aufwärts, adlig und fein. Die Frau nennt ihren Namen: Karen. Sie betont das K dabei, als läge darin ein Geheimnis. Er reicht ihr einen Kamm, den er mit anderem Zeug hastig vom Fußweg aufgelesen hat. Sie lächelt verlegen, stopft alles zurück in die Tasche und sagt: „Ich denke, wir sehen uns wieder!“

Schon ist sie weg, als hätte sie sich aufgelöst. Er fragt sich, wie sie nur darauf gekommen ist, dass sie ihn wiedersehen wird! Die Erinnerung versickert. Ihm wird mulmig, er weiß nicht, ob er einen Fehler begangen hat, indem er auf eigene Faust losgezogen ist, um mehr über seine Schwester zu erfahren. Er muss fort, fort von hier, raus aus der Wohnung, aus der mickrigen Höhle, in die er sich immer hatte zurückziehen können, um sich zu reinigen von der schmutzigen Welt da draußen. Jetzt ist er heimatlos. Sie beobachten ihn, das spürt er. Er muss los, aufstehen und fliehen, aufstehen und überleben!

Er sprang aus seinem Bett, schnappte eine Reisetasche und stopfte allerlei hinein: Einen Schlafanzug, den Rasierer, ein T-Shirt, alles an Kratom, was er besaß, ein zweites Hemd. Mit zitternder Hand nahm er sein Smartphone vom Tisch und wollte nachschauen, welches Hotel Zimmer frei hatte. „Nein, nur nicht das Smartphone benutzen!“, schrie eine Stimme in ihm. Er durfte keine Spuren hinterlassen. Gewiss wurde das Smartphone abgehört. Er steckte es trotzdem ein, vielleicht um irgendwann einmal damit falsche Spuren legen zu können, oder auch nur, weil es teuer war.

Was aber, fragte er sich, wenn keine Gefahr für ihn bestünde? Was, wenn er sich das lediglich einbildete? Allerdings hatte der Kommissar einen starken Verdacht geäußert. Andererseits benahmen sich Polizisten meistens ziemlich paranoid. Das war ihre Berufskrankheit. Dieser spezielle Polizist schien noch mehr durchzudrehen als seine Kollegen. Er sah nicht nur überall Verbrechen, sondern ahnte eine Verschwörung. War das nicht der Übergang von der partiellen Paranoia zur generellen, von der Neurose zur Psychose? Oder konnte der Kommissar vielmehr als ein bedachter und vernünftiger Mann gelten? Er wusste es nicht, er wusste nicht das Geringste! Diese Erkenntnis reichte ihm aus. Er verließ sein Zimmer und suchte sich eine andere Bleibe.


Das Hotel machte einen schäbigen Eindruck, aber es war günstig. Die Farbe an den Wänden bröckelte ab. Der Teppich in der Vorhalle hätte durchaus wieder einmal gereinigt werden können. Das Zimmer roch muffig, aus einem rissigen Holzschrank dünstete das Aroma von Mottenkugeln und biss in die Nase. Immerhin stand ein Computer auf dem Tisch, was sein Herz höherschlagen ließ. So musste er nicht nur herumsitzen und die kahle Wand angaffen.

Er setzte sich auf den etwas zu harten Sessel und schaltete den Computer an. Bald war er auf der Website mit den neusten Nachrichtenclips. Ein blasser Sprecher starrte in die Richtung der Zuschauer. „... der Datenschützer. Die Persönlichkeitsrechte blieben selbstverständlich gewahrt, hieß es seitens des Innenministeriums. Nach Stellungnahmen des Verfassungsschutzes sowie des Bundesnachrichtendienstes sei nicht auszuschließen, dass die sogenannten Europabewohner bereits in den meisten Ländern der Erde Menschen als Agenten angeheuert hätten, die bereit seien, gegen die Interessen ihrer eigenen Regierungen zu handeln. Zweifelsfreie Beweise habe man bisher noch nicht beibringen können. Jedoch lägen gewisse Verdachtsmomente vor, die Anlass zu ernsthafter Sorge gäben. Man werde unter anderem verstärkt alienfreundliche Vereinigungen ins Visier der Ermittlungen nehmen. Zu diesem Zweck habe der TAD, der Terrestrische Abwehrdienst, eine Unterabteilung ins Leben gerufen, das IES, das Institut für Erdsicherheit.

Das Verteidigungsministerium arbeite daran, zur Sicherheit der Bevölkerung eine neue Abschreckungsstrategie zu entwickeln, dies erfordere eine engere Zusammenarbeit mit der ESA. Eine Aufstockung des Verteidigungshaushaltes sei dazu unverzichtbar, betonte der Regierungssprecher. Die Bedrohung durch eine außerirdische Macht ...“

Philip stoppte das Video. Meine Güte, sagte er sich, da braut sich ja was zusammen! Bedrohung aus dem All. Das war ja wie in einem miserablen Science-Fiction-Roman.