Dienstag, 22. Februar 2022

                                               18

 

 

Das Zimmer war von mittlerer Größe und nobel eingerichtet.

„Nicht so toll wie die Zimmer auf Europa, aber recht ansehnlich“, sagte Alice.

„Ich bin zufrieden, äußerer Komfort bedeutet mir nichts.“

„Du solltest menschlicher reagieren, du fällst sonst noch auf. Du solltest sagen: Prima, danke für das Zimmer, wäre doch nicht nötig gewesen! – Schon damals warst du immer ein wenig steif und reserviert, was dich schließlich wohl starrsinnig hat werden lassen. Du warst einer der Klügsten, aber deine Klugheit wirkte kalt und gnadenlos. Wie gesagt, wir sind nicht der Feind, also werde locker. Wir bilden ab jetzt ein Team. Probiere mal das! Sie verkaufen es heutzutage an jeder Ecke, vor einigen Jahren war es sogar verboten. Stattdessen haben die Leute ätzende Flüssigkeiten getrunken, die ihre Gehirnzellen abtöteten und ihnen die Leber auflöste. Jetzt verdampfen sie lieber dieses Gras; es beseitigt den Cannabinoidmangel im menschlichen Gehirn.“

Alice stopfte das Kraut in die Öffnung ihres Vaporizers und schaltete ihn ein. Zehn Minuten später schien der Hanf bei Christian anzuschlagen. Er sah entspannt aus.

Karen wandte sich an ihn: „Ich kann nichts dafür, dass Sie mich nicht mögen. Aber vielleicht haben Sie recht damit: Ich mag Sie ja auch nicht sonderlich. Schon wegen Philip.“

„Das war nichts Persönliches“, sagte Christian, „ich halte nur die Menschheit für gefährlich. Sie kennen ja die Geschichte Ihrer Spezies. Ein einziges Wort kommt immer vor: Krieg. Der Kampf ist hier das Mittel der Politik. Und was haben die großen Führer angerichtet? Denken Sie an Stalin, Hitler, Mao. Die Menschheit läuft immer wieder über Leichenberge, hält dabei die Siegesfahne jubelnd hoch. Sie haben nichts gelernt aus ihren Kriegen. Während man schöne Worte macht, Worte von Freiheit und Gerechtigkeit, ist schon wieder einen neuer Feind geortet, den man mit gutem Recht ausrotten kann. Trotz Ihres erweiterten Bewusstseins, das Sie als Infizierte haben, ruhen die alten Gewohnheiten Ihrer Art auch in Ihnen. Was, wenn diese wieder Oberhand gewinnen, wenn der Blutdurst erwacht? Jetzt, wo Sie über eine gewaltige Kraft verfügen?

Auch unsere Art trägt Regungen aus alten Zeiten in sich, Regungen, die nicht immer friedfertig sind. Zumeist können wir sie anschauen, ohne ihnen folgen zu müssen. Es gibt aber auch Situationen, da erfordert es Kraft, diese Verblendungen von der Wahrheit zu trennen. Werden Sie stark genug sein, wenn Ihre finstere Stunde kommt?“

„Ich hoffe es, mehr kann ich nicht tun“, antwortete Karen.

Christian setzte nach: „Die Menschen sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sagen Sie mir, wenn die Hoffnung gestorben ist, werden Sie dann noch stark genug sein?“

Karen schwieg. Alice ergriff das Wort: „Was du da von dir gegeben hast, mag zutreffen oder nicht, deine Formulierung war dabei allerdings so gewählt, dass du Karen damit in die Ecke gedrängt hast. Du musst viel über die menschliche Kommunikation lernen. Es gibt dabei immer einen inhaltlichen Aspekt, der das ausmacht, über was man redet, und einen Aspekt, der die Beziehung betrifft, die zwischen denen, die sich austauschen, besteht. Also zusammengefasst: Alles, was man sagt, betrifft nicht nur den Inhalt dessen, worüber gesprochen wird, sondern definiert ebenso die Beziehung zwischen denen, die am Gespräch teilhaben. Das lernt hier jeder Psychologiestudent im ersten Semester. Man sollte immer das Tier im Menschen berücksichtigen.“

„Ich glaube, ich muss mich entschuldigen, dass ich nicht optimal darauf vorbereitet war, mit Menschen zu reden“, sagte Christian förmlich.

„O Mann,“, stöhnte Alice, „ich denke, es wird eine Weile dauern, bis wir einen Menschen aus dir gemacht haben!“ Dann musste sie lachen, und ein eigentümlicher Klang, der heimtückisch am Grunde dieses Augenblicks lauerte, erinnerte daran, dass dem Universum absolut zu trauen war.


Der Vollmond hing wie eine zu helle Lampe am Himmel. Sein Licht fiel blass auf das Haus. Christian presste eine Hand gegen den hohen Zaun und schloss kurz die Augen. Ein Teil des Eisengitters zerbröselte zu Staub. Der Weg war frei.

„Das will ich auch mal machen“, flüsterte Karen.

„Das ist nicht schwer: Man lockert die Metallmoleküle und lässt sie schwingen. Mit ein wenig Übung müsste es funktionieren.“

Alice rief: „Jetzt schnell zum Gebäude! Es sind keine Wachen in der Nähe. Die Kameras habe ich bereits zerstört. Gleich werden sie alle rauskommen, um zu sehen, was los ist. Also rasch!“ Sie rannte voran. Karen und Christian folgten ihr wie Schatten.

An der Hauswand hielten sie inne. Dank ihrer erweiterten Wahrnehmung wusste Alice, was die Wächter vorhatten; gleich würden sie aus der Tür stürmen, da etwas mit den Kameras nicht in Ordnung war. Das bedeutete, sie mussten einen Augenblick warten, sonst könnte man sie entdecken während sie zum Eingang liefen.

„Das Schloss ist kaputt, dafür habe ich grade gesorgt“, sagte Karen nicht ohne Stolz in der Stimme.

„Gut gemacht“, lobte Alice, dann hielt sie kurz inne. „O nein, ich spüre etwas. Die Schicksalsfäden, sie verlaufen jetzt anders. Eine energetische Präsenz befindet sich in der Nähe. Wir werden sie wahrscheinlich nicht umgehen können. Zuerst müssen wir hoch bis zum Flur, zum Zimmer, in dem der Infizierte liegt. Das Pflegepersonal des Gefängniskrankenhauses wird keine Herausforderung darstellen. Halt, jetzt bekomme ich ein klareres Bild: Ein Wachmann, er ist hier im Haus, nicht draußen wegen der defekten Kameras, wie seine Kollegen. Er zeigt hohe, äußerst hohe Energiewerte.“

„Dann los!“, rief Christian und stürmte die Treppe hinauf. Alice und Karen konnten kaum folgen.

„Jetzt kriegen wir es auch noch, mit diesem komischen energetischen Wachmann zu tun, bevor wir den armen Infizierten, den sie im künstlichen Koma halten, rausholen können“, fluchte Alice, als sie sich ihrem Ziel näherten.

Lange ließ der Wachmann nicht auf sich warten. Als sie oben angekommen waren, sprang er, die Brust imponierend aufgebläht, hinter einer Ecke hervor und positionierte sich direkt vor ihnen. Mit einer geübten Bewegung entsicherte er die Pistole. Alice sah, wie die Fäden des Schicksals vor ihren Augen verschwammen. Sie konnte kein klares Bild erkennen; der Blick auf die künftigen Ereignisse wurde ihr versperrt. Es war ihr unmöglich voraussehen, was der Wachmann als Nächstes tun würde, sie fühlte sich blind. Etwas schien die Zeit zu beschleunigen. Wenn ihre Sinne die Welt nicht anhalten konnten, war sie machtlos. Ihr Bewusstsein musste sich außerhalb der Zeit begeben, dann stünde das Bild einer ausgedehnten Gegenwart vor ihr und es wäre möglich, die nächsten Schritte des Wachmannes vorauszuahnen. Aber genau das funktionierte nicht. Es war für sie immer normal gewesen, für eine kurze Zeitspanne in die Zukunft zu blicken. Nun fühlte sie sich, als müsste sie durch einen finsteren Raum stolpern, die Augen verklebt, die Hände tastend ausgestreckt. Diese Störung der Sinne ging von dem Mann vor ihr aus. Er beschleunigte alles, was um ihn herum existierte.

Christian schien die Situation zu begreifen. Ihm wurde klar, dass er rippen musste, damit er die Waffe des Mannes blockieren konnte, und zwar schnell. Es gelang aber nicht. Mit dem Rippen verhielt es sich ähnlich wie mit dem Blick in die Zukunft: Der Lauf der Welt, der im zeitlosen Bewusstsein erschien, musste einen Moment lang angehalten werden. Der Tanz der Energie stoppte für gewöhnlich, wenn man ihn mit den Augen des reinen Sehens fixierte. Man sah dann eine Blaupause vor sich, ein Datenabbild des Augenblicks, den man verändern wollte. Es war unmöglich, die Realität zu manipulieren, wenn sie sich schlichtweg weigerte, stillzustehen. Genau das tat sie aber. Der Wachmann verstärkte den Energiestrom, der alles in der Umgebung durchzog. Es war kein klares Bild zu bekommen, somit, so erkannte Alice, konnte Christian die Daten, aus denen die Welt bestand, nicht austauschen.

Seiner Fähigkeiten beraubt, sprang er auf den Wachmann zu und umklammerte dessen Handgelenk, um einen gezielten Schuss aus der Pistole des Kerls zu verhindern. Mit rasender Geschwindigkeit wurde Christian herumgewirbelt. Er klatschte gegen die Flurwand. Im Moment seines Aufpralles zeigte die Wand die Struktur von Schaumstoff, weshalb er ohne Knochenbrüche davonkam. Alice hatte gerade noch rechtzeitig den Beton auf der Molekülebene verändern können. es dem Wachmann nicht möglich, auf sie Offenbar war alle drei gleichzeitig achten. Bevor Christian wieder zu sich kam, zischte ein Energieball durch die Luft. Alice duckte sich. Wie ein Blitz schlug er in eine der Türen hinter ihr ein Er hinterließ einen schwarzen Brandfleck. Karen schrie wie irre, ergriff einen von den Stühlen, die hier überall herumstanden, und drosch damit auf den Wachmann ein. Er sackte zu Boden. Christian beugte sich über ihn, streckte seine Hände vor, wie um etwas zu erspüren. „O je, das kann nicht wahr sein“, murmelte er. „Aber holen wir erst einmal den Infizierten.“

Der Infizierte lag in einem typischen Krankenbett. Drei Schläuche versorgten ihn mit dem Wesentlichsten. Man hatte ihn ins Koma versetzt, so konnte man ihn sicher festhalten. „Ich baue einen Tunnel“, sagte Christian. „Die anderen Wachleute werden bald zurück sein, nachdem sie die Kameras auf dem Hof untersucht haben.“

Christian öffnete den Tunnel. Es war, als würde ein Loch in der Welt entstehen. Sie traten ein und im Nu befanden sie sich bei Alice Zuhause.

„Du bist einer der wenigen, die das so perfekt beherrschen: Du hast ihn samt Bett mit in den Tunnel gezogen und mitgenommen“, sagte Alice anerkennend.

„Dennoch, der Wachmann hätte mich beinahe erledigt. Ohne euch wäre ich kaum so glimpflich davongekommen“, stellte Christian fest. „Unser Gegner ist gefährlicher, als ich vermutet habe. Die Kraft, der wir begegnet sind, stammt nicht von der Erde! Es ist die Kraft von Enceladus.“

„Enceladus?“, fragte Alice ungläubig.

„Zweifellos, als er bewusstlos dalag, habe ich in ihn hineingeschaut. Seine Energiebahnen waren nach der Methode von Enceladus geöffnet worden.“

„Könnt ihr mich bitte einmal aufklären, was das zu bedeuten hat?“, fragte Karen ungeduldig.

Alice erklärte: „Europa ist nicht der einzige bewohnte Mond im Sonnensystem. Enceladus besitzt wie Europa einen unterirdischen Ozean. Die Bewohner dieses Mondes hausen in Höhlen unter dem Meeresboden. Seit Langem ist der diplomatische Kontakt zu ihnen abgebrochen. Sie führen immer etwas im Schilde, niemand weiß genau, was. Die elektromagnetischen Eigenschaften von Enceladus haben dazu beigetragen, dass sich dort spezielle Nervensysteme herausbilden konnten. Sie sind fähig, jede Form von Energie zu produzieren und zu manipulieren. Ihre gesamte Wissenschaft basiert aufeine Technik, die feine Energieströme nutzt. Aber das geht weit über den momentanen Erkenntnisstand der Menschen hinaus. Offensichtlich haben sie Kontakt zu den Erdenbewohnern aufgenommen. Ein gefährliches Spiel, denn niemand kann sagen, wie sich die Veränderung des Energieniveaus im menschlichen Körper auswirkt. Sie haben, wie es aussieht, einen Weg gefunden, ihre Energie zu übertragen, um sich die Menschen nützlich zu machen. Die Bewohner von Enceladus verlassen ihren Mond ungern, deshalb brauchen sie die Menschen. Sie benutzen sie als Soldaten. Es hat ein Krieg begonnen,ein krieg gegen Europa.

„Das hört sich nicht gut an“, bemerkte Karen, „aber was sollen wir jetzt machen?“

„Vorerst abwarten, bis die Regierung auf Europa sich dazu äußert“, meinte Christian.

„Zuallererst müssen wir zusehen, dass dieser Infizierte hier aus dem Koma erwacht“, sagte Alice und wies auf den Mann, der vor ihnen wie eine Puppe vim Bett lag.


Dieses Universum schaute aus, als hätte jemand überall farbige Lichter entzündet. Einige Planeten leuchteten so hell, als wollten sie den Sonnen ihren Status streitig machen. Manche von ihnen bewegten sich rätselhaft rhythmisch, wie zu einer improvisierten Musik tanzend. In der Ferne pulsierten Sterne, als wären es brennende Herzen.

Xellox dozierte: „Es gibt Wesen, die diese Ebene des Universums nicht sehen können. Die betreffende Energiefrequenz entzieht sich ihnen gänzlich. Andere können davon etwas während sie schlafen wahrnehmen. Sie leben dann hier in dieser Welt wie die Tiere, da ihr Bewusstsein, ihres Schlafes wegen, sehr getrübt ist. Durchaus gibt es Wesen, die die Dinge klar erkennen und genau wissen, wer sie sind und wo sie sich befinden. In Wahrheit ist es so, dass die Welten sich durchdringen. Manche sind in dieser Welt hier wach, aber wenn sie schlafen, dann nimmt ihr Bewusstsein die andere Welt wahr, nämlich jene, aus der Sie kommen, mein Freund.“

Xellox geleitete Kwang durch bunte Sternennebel, vorbei an seifenblasenähnliche Sonnen, vorbei an Planeten, um die herum transparente Monde tanzten, oder die von Sphären aus Licht und Klängen eingehüllt waren. Vor einem gewaltigen Himmelskörper machte Xellox halt, wandte sich zu Kwang um und sagte: „Zuhause!“

„Aber das ist nicht Enceladus“, widersprach Kwang.

„Das ist Enceladus 2“, entgegnete Xellox. „Auf dem kleinen Saturnmond Enceladus leben nur wenige von uns, eben nur die, welche eine feste Form angenommen haben. Und selbst jene verbringen die meiste Zeit hier.“

„Wenn ihr eigentlich hier lebt, in dieser energetischen Welt, fernab der festen Planeten, warum ist euer Interesse an der Menschheit so groß, dass ihr uns vor diesen anderen Außerirdischen schützen wollt?“

„Nun, das werden Sie rasch begreifen“, sagte Xellox und bedeutete Kwang, ihm zu folgen.

Bald erreichten sie einen seltsamen Himmelskörper. Er bestand aus mehreren durchsichtigen Kugeln, die ineinandersteckten. Xellox behauptete, dass dieses die Erde sei.

„Unmöglich, die Erde schaut ganz anders aus!“, meinte Kwang.

Xellox blieb fest bei seiner Behauptung. Genauso sehe die Erde aus, wenn man ihre stoffliche Natur nicht mehr wahrnähme. Man könne sogar, ein wenig Übung vorausgesetzt, zwischen den Wahrnehmungen wechseln, und somit beide Seiten der Welt sehen. Ein Führer sei fähig, für jemanden, der die Sache noch nicht beherrscht, so etwas zu übernehmen. Wie er es getan habe, als sie Min-Jee besucht hatten. Und für einen Moment schimmerte das satte Blau der Erde durch die glasähnlichen Sphären hindurch. Einen Augenblick später waren nur wieder die durchscheinenden Weltenschalen zu erkennen.

Xellox erklärte: „In der untersten Sphäre existieren diejenigen, die sich kürzlich von ihrem Körper getrennt haben, weil sie schlafen. In der Regel bekommen sie nicht viel mit. Werden sie wach, entsinnen sich mit Mühe an einige Bruchstücke. Diese nennen sie Träume. Aber es gibt auch bewusste Träumer, die sich genauer erinnern. Manche Menschen lösen sich mittels bestimmter Techniken vom Körper. Sie können somit die etwas höheren Sphären besuchen.“

„Davon habe ich gehört, aber ich konnte es nicht glauben. Es werden immer wieder Geschichten von solchen außerkörperlichen Erlebnissen erzählt.“

Xellox nickte zustimmend. Kwang bemerkte, dass sein Begleiter transparent geworden war, ähnlich einem feinen Gewebe.

„Die äußere Form“, erklärte Xellox, „spielt hier keine Rolle. Man nimmt die Form an, die man glaubt, annehmen zu müssen, oder die Form, die man annehmen will.“

Kwang zeigte auf einen Bereich, der recht belebt schien. Er wollte wissen, was sich dort abspiele.

Xellox sagte ruhig zu ihm: „Einen Schritt nach dem anderen. Dieser Ort hat mit Tod und Sterben zu tun.“

Kwang begriff, dass es sich um das sogenannte Jenseits handeln musste. Es war also kein Mythos, es gab eine Existenz nach dem Tod. Sofort bildeten sich unzählige Fragen in seinem Kopf.

„Die Schwierigkeit für die Wesen der Erde, diesen Bereich zu begreifen, liegt an ihrem Zeitverständnis. Für primitive Lebensformen gibt es nur den Augenblick. Entwickelt sich schließlich die Vernunft, bekommt die Vorstellung von Zeit eine übergewichtige Bedeutung. Es werden allerhand Illusionen zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgespannt. Nur vorgeschrittene Wesen haben die Natur der Zeit begriffen, somit auch die Natur der Zeitlosigkeit. Es ist geradezu unmöglich, die Zeit zu begreifen, ohne die Zeitlosigkeit erforscht zu haben. Die wenigsten Menschen können etwas jenseits der Zeit wahrnehmen. Um zum Thema zurückzukommen: Ein Leben nach dem Tod, das ist ein törichter Gedanke und ein Widerspruch.“

„Aber wenn es das nicht geben würde, dann dürfte dieser Jenseitsbereich nicht existieren!“, widersprach Kwang erregt.

„Ein unvollständiges Verständnis der Realität sieht überall Widersprüche“, mahnte Xellox.

Kwang sah ihn scharf an. „Es kommt mir so vor, als wollten Sie mir ausweichen. Ich bin vielleicht nicht so weit entwickelt wie Sie, aber ich bin kein Kind.“

Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich über das durchsichtige Antlitz des Außerirdischen. „Sind Sie sich sicher, dass Sie die Wahrheit verkraften können?“

Kwang nickte.

„Wie Sie wollen. Haben Sie noch existiert, nachdem auf sie geschossen wurde?“

„Sie meinen mit der Betäubungsspritze, die den Stoffwechsel meines Körpers heruntergesetzt hat?“

„Ich meine, nachdem Sie mittels einer Giftspritze erschossen wurden. Erschossen – begreifen Sie Kwang? Ein Betäubungsmittel hat Sie zuerst empfindungslos gemacht, anschließend begann das Gift zu wirken, Ihr Herz hörte auf, zu schlagen, für immer.“

Kwang begriff nicht, wollte nicht begreifen. „Aber ich lebe doch!“, schrie er.

„Man muss nicht immer dort landen, in diesem Jenseits der verwirrten Neuankömmlinge. Für weise Menschen und für jene, die einen Führer haben, gelten andere Regeln.“

Kwang fühlte sich mehr als unbehaglich. „Moment“, sagte er, „Sie machen einen Witz. Das ist Ihre Art von Humor, oder?“

„Wir von Enceladus sind recht humorlos. Aber fahren wir fort, die Situation zu untersuchen! Ihr Herz steht still, Ihr Gehirn wird nicht mehr mit Blut versorgt. Der Körper verliert das Leben. In diesem Zustand befinden Sie sich jetzt. Sie sind nicht tot, Sie sterben gerade!“

„Ich verstehe nichts, gar nichts!“, schrie Kwang. Seine Stimme zitterte. „Wir waren auf der Erde, haben meine Frau besucht, wir sind herumgeflogen, das alles hat Stunden gedauert. Und selbst wenn ich jetzt sterbe, wie kommen Sie hier her? Ich würde, wenn überhaupt, nichts anderes wahrnehmen, als meine eigenen Illusionen.“

Xellox sah ihn mit großen unendlich tiefen Augen an. „Während Ihres Lebens zog das Denken viel Aufmerksamkeit an sich. Das Denken ist stark an die Zeit gebunden. Während des Sterbens verändert sich das herkömmliche Denken, es löst sich vom Zeitempfinden. Dass die Geschehnisse einer gewissen Abfolge von Ursache und Wirkung folgen, liegt allein daran, dass Ihr Geist an Gewohnheiten hängt. In Wahrheit gibt es das alles nicht. Die Wahrnehmung ist ein zeitloser Raum ohne Grenzen, in dem etwas erscheint, was man als Zeit oder Form bezeichnet.“

„Könnte man in dieser unbegrenzten Wahrnehmung alle Träume träumen und gleichsam in jeden Traum hineingehen und ihn für wahr halten?“, wollte Kwang wissen.

„Ja, im Prinzip ist es so. Jeder dieser Träume hätte seine eigene Dauer, Stunden, Monate, Jahre. Aber nur innerhalb der Traumwelt, in Wahrheit vergeht keine Zeit, da alles im endlosen Bewusstsein stattfindet, das zeitlos ist.“

„Wie dem auch sei, aber wie kommen Sie ins Spiel? Sind auch Sie nur ein Traumbild meines sterbenden Gehirns?“

„Noch ist Ihr Geist voller Unwissenheit, Kwang. Sie glauben, das Sterben endet mit dem Tod. Das ist eine Illusion. Sterben ist ein ständiger Prozess, ebenso wie die Geburt. Sterben und geboren werden – daraus formt sich das Leben. Jeder Augenblick wird geboren und stirbt. Nichts ist von Dauer. Auch denken Sie, Sie hätten ein Bewusstsein. Das haben Sie nicht! Derjenige, der Sie meinen zu sein, existiert innerhalb des Bewusstseins. Es ist nur ein Gedanke. Eine vorübergehende Entladung im Gehirn, sonst nichts. Sie haben nie existiert, sie werden niemals existieren! Alle Sterne und Welten befinden sich in einem Raum, der immer ist, war und sein wird, ebenso befinden Sie sich selbst darin. Es ist ein Tanz, der dort stattfindet. Sobald sich eine Tanzbewegung ändert, scheint etwas zu sterben und etwas anderes geboren zu werden. Die Bewegung hat keine unabhängige Existenz. In Wirklichkeit wird nie etwas geboren und nichts stirbt. Aber es sieht so aus, als ob es geschehen würde. Wir blicken wie gebannt auf den Tanz, wir halten die Geschichte, die getanzt wird, für wirklich. Wir mögen Dinge sehen, die wir begehren, Dinge, die wir fürchten, wichtige Dinge, Dinge, die wir hassen. Und wir sehen uns, sehen unsere Meinungen, unsere Vorstellungen, sehen, wie wichtig wir sind. Aber es gibt uns nicht. Nicht als das, was die meisten glauben, zu sein. Es existiert allein der Tanz, der die Tänzer tanzt. Auf der Erde sah ich Ozeane ohne Eisschicht darüber. Auf diesen Ozeanen tanzen Wellen. So sind wir. Wir sind Wellen. Die Wellen aber sind letztlich nur die Bewegung des Wassers. Der Sterbeprozess, den Sie durchmachen, hat die Identifikation mit den Erscheinungen der Materie etwas gelockert. So können Sie sich frei durch den Raum bewegen, ohne Körper. Was unsere Spezies betrifft: Wir müssen nicht erst auf den körperlichen Tod warten; wir können uns zu jeder Zeit vom Stofflichen lösen. Da wir auf mehreren Energieebenen leben, stellt es kein Problem für mich dar, Sie zu begleiten. Für die Menschen allerdings sind Sie nun so etwas wie ein Gespenst. Das reicht vorerst an Erklärungen.“

„Mir dreht sich schon alles. Ich werde nicht zur Erde zurückkommen? Also zumindest nicht körperlich … Ich werde … Meine Güte, Min-Jee, sie ist Witwe! Aber wir wollten ein Kind haben, Eltern sein. Mein Leben, es ist fort. Ein Toter bin ich, dazu verdammt, mich selbst zu überleben! Ich will zurück, ich will mein Leben zurück!“

Nach einem bedeutungsschweren Schweigen sagte Xellox: „Ich habe geahnt, dass Sie sich aufregen werden. Es ist nicht weise, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Aber lassen Sie es sich gesagt sein: Es ist ein guter Tod. Wir bewahrten Sie vor dem ersticken. Eine schreckliche Qual. Und Sie waren nicht allein. Ich bin Ihnen gleich zur Seite gewesen. Sie haben Min-Jee besuchen können. Jetzt können Sie sogar die Erde retten! O ja, ich verstehe die Trauer ihretwegen. Aber das, was an der Liebe egoistisch ist, wird früher oder später vergehen, was an ihr wahr ist, wird bleiben. Es ist eine physikalische Formel, die allerdings auf vielen Welten noch nicht entdeckt wurde. Kommen Sie mit mir, sehen wir uns die inneren Sphären der Erde an!“

Als Xellox den letzten Satz ausgesprochen hatte, fand sich Kwang in einer kuriosen Landschaft wieder. Über allem lag ein Schimmer von Rot und Violett. Er sah viele Menschen um sich herum, sie zankten sich und schlugen aufeinander ein. Sie versuchten, irgendwelche nutzlosen Dinge aufzuheben und in Sicherheit zu bringen. Aber immer wieder wurden ihnen diese Dinge von anderen fortgenommen, weswegen sie verzweifelt fluchten und schrien. Gelang es jemanden, einige sinnlose Sachen beiseitezuschaffen, zerfielen die vermeintlichen Schätze zu Staub. Diese Welt bestand aus Kämpfen und Jammern. Hier konnte niemand Frieden finden. Überall Schmerz und sinnlose Hoffnung.

Kwang bemerkte die schlanke Gestalt seines Führers neben sich. „Sehen Sie sich um“, sagte Xellox, „das ist der größte Bereich des Jenseits der Erde. Stirbt ein Wesen, so entfalten sich hier seine Anlagen ungehinderter als, sie es im stofflichen Körper getan haben. Viele sind angefüllt mit Hass und Gier, sie klammern sich an Dinge und widersetzen sich dem Fluss des Lebens. Ja, auch hier fließt der Fluss des Lebens, hier, im Reich der Toten. Jeder wird von dem Ort angezogen, der seinem Wesen entspricht. An diesem Platz hat man sich eine Art Hölle erschaffen. Alle spielen mit und sind geradezu begeistert, hofft doch ein jeder auf seinen Vorteil oder auf Vergeltung. Dabei ist alles umsonst. Loslassen wäre so einfach. Das Jenseits gleicht dem Diesseits, allerdings mit gesteigerten Begierden.“

„Und ich? Wäre ich dort auch gelandet, ohne Sie?“

„Nein, Sie wären in der Sphäre der depressiven Grübler gelandet und hätten sich heulend an die Ruinen der Vergangenheit geklammert. Dabei ist die Vergangenheit schon vorbei, wenn man sie als Vergangenheit bezeichnet. Aber nun sollten wir diesen Ort verlassen. Sehen Sie das dort, da hinten?“

Kwang nickte. Er erblickte etwas, es schaute aus wie ein metallener Delfin.

„Das ist unser Raumschiff“, erklärte Xellox.

„Wieso Raumschiff? Wir brauchen doch keines. Wir können doch fliegen. Wir sind wie diese gottverdammten Engel!“

„Es ist eine Frage des Ambiente“, entgegnete Xellox. Außerdem wolle er ihm etwas zeigen. Sie schwebten zum Raumschiff, dessen Tür sich von selbst öffnete und den Blick auf eine geräumige Steuerzentrale freigab. Kwang ließ sich auf einen der gelblichen gelatineartigen Sitze fallen, mit dem er fast zu verschmelzen schien. Xellox nahm neben ihm Platz und bediente einen Hebel, der wie ein Tentakel aus dem Sitz herausgewachsen kam. Ein Bildschirm vor ihnen zeigte das feinstoffliche Universum. „Wir müssen ordentlich vergrößern“, murmelte er, „wir werden zwar keine Details erkennen, aber es kommt auf das große Ganze an!“

„Ich sehe ein Spinnennetz aus Lichtfäden. Zwischen den Maschen des Netzes leuchten irgendwelche Punkte.“

„Nun, das sind sie, Kwang. Eure Aliens, die Bewohner von Europa. Das ist ihre bevorzugte Erscheinungsform. Es haben sich hier Tausende von Individuen zusammengeschlossen zu einem Geist. Und es findet mehr statt als nur der Austausch von Informationen. Jeder Einzelne ist auch das Ganze.“

„Und diese großen blauen Flecken, die das Netz umsäumen?“

„Diese Flecken sind ihre Flotte, ihre Kriegsflotte, es sind Waffen. Ihr Ziel sind die Bewohner von Enceladus. Wir befinden uns bereits im Krieg mit ihnen. Es wird nur noch nicht scharf geschossen. Auf der Erde nennt man das einen kalten Krieg.“

„Das heißt, dieser Krieg kann heiß werden“, ergänzte Kwang.

Xellox nickte. „Das ist das Wesen eines Kalten Krieges. Er ist die ständige Androhung von Gewalt.“

„Und jetzt ist der kritische Punkt erreicht?“

„Das stimmt.“

„Es hängt mit der Erde zusammen?“

„Sie sind sehr scharfsinnig Kwang.“

„Warum aber wollen Sie die Menschheit vom Einfluss der Europabewohner befreien? Das kann doch den Krieg auslösen.“

„Unsere Einmischung hat Gründe, wichtige Gründe. Aber alles zu seiner Zeit. Seien Sie versichert, dass Ihr Einsatz und Ihre Beziehung zu Min-Jee eine große Rolle spielen werden. Es geht um das Schicksal von drei Welten. Min-Jee ist der Schlüssel. Sie wird viel Kraft brauchen und viel Wissen.“


Andy war wie gebannt. Min-Jees Haare Standen empor, sie breitete ihre Arme aus, wie um alle zu umfangen, die vor ihr saßen. Funken flogen aus ihrem Kopf, zischten als schlanke Blitze aus ihren Fingern heraus. Energie floss durch den Boden und knisterte in der Luft. Es schien so, als täte sich der Himmel auf, obwohl oben ja die Zimmerdecke hing. Und es war, als regnete es Tropfen aus Licht. Sie gingen einem jeden unter die Haut und tiefer, bis hinein in die Seele. Was da niederregnete, waren die Worte Min-Jees, gleichsam aber auch etwas, was vom Himmel, von den Sternen kam. Min-Jee hob vom Boden ab und schwebte durch den Raum, während sich ein gewaltiger Strom der Gnade über die Anwesenden ergoss. Alle Zweifel wurden weggeschwemmt.

„O Mann, das ist ja geil!“, rief Leo aus.

Beate und Andy stimmten ihm zu, sie waren wie die anderen im Raum in einem himmlischen Zustand. Eine seltsame Energie brannte ihnen süß in den Adern.

Min-Jee sagte: „Einige arbeiten für die Polizei oder einen der Geheimdienste. Manche von denen, die sich hier versammelt haben, mögen das kritisch sehen, da diese Institutionen vom Staat missbraucht wurden. Die Regierung, die das Land seit Monaten aus dem Exil lenkt, konnte den Aliens und deren Agenten nichts entgegensetzen. Stattdessen bespitzelt der Staat die Bürger und missachtet ihre Rechte. Wobei einige das Tun der Regierung rechtfertigen, es als Versuch ansehen, die Welt zu schützen. Wir müssen uns über alle Unterschiede hinwegsetzen, wenn wir uns einig sind, können wir die Gefahr bekämpfen. Wir trinken aus einer Quelle und sollten handeln wie ein einziger Mensch. Viele wurden von den Außerirdischen mit ihrer Weltsicht infiziert. Sie haben gewisse Fähigkeiten von ihnen bekommen, sodass wir gegen sie machtlos waren. Nun wird das Blatt sich wenden. Wir haben ihnen etwas entgegenzusetzen.“

Beate rief: „Ja, und wir sind kurz vor dem Sieg!“

Min-Jee lächelte. „So ist es. Wir können große Erfolge verzeichnen. Wir haben die Invasoren in ihre Schranken verwiesen. Leider mussten wir in Kauf nehmen, dass unser Kampf immer härter wurde und es Opfer zu beklagen gab. Aber sie werden langsam begreifen: Sie können sich nicht so leicht auf unserer Heimatwelt festsetzen. Acht Monate haben wir Schulter an Schulter gekämpft. Bald werden wir die Früchte unserer Taten sehen.“

Min-Jee gab ein Zeichen. Die Versammelten erhoben sich und verließen den Raum glücklich, lächelnd und siegesgewiss.


Draußen erstrahlte die Welt im Sonnenlicht. Die Zeit sei so rasch vergangen, meinte Andy, und es käme ihm überhaupt nicht so vor, dass sie schon monatelang mit den himmlischen Energien gegen die Infizierten und die Außerirdischen kämpften.

„Bald werden sie am Ende sein. Sie werden aufgeben. Die Opfer auf beiden Seiten haben sich gelohnt“, meinte Beate.

In diesem Moment tauchten drei Gestalten vor ihnen auf, zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen stürzten sich auf Andy, indem sie nach seinem Kopf griffen. Er schrie panisch. Der Mann stellte sich ihnen und wollte Beate und Leo den Weg versperren.

„Zur Seite!“, schrie Leo und feuerte einen Energiestrahl von seinen Händen ab. Der Fremde verteidigte sich, er materialisierte blitzschnell einen Schild. Diese drei waren offenbar mächtiger als die meisten Infizierten. Leo feuerte einen weiteren Energiestrahl auf den Mann ab. Die Wucht des Strahles zerfetzte den Arm des Fremden. Es roch nach verbranntem Fleisch. Blut kleckerte aus dem Stumpf und bildete eine Pfütze auf dem Gehweg. Andy bekam mit, wie die beiden Frauen von ihm abließen. Ersah das viele Blut, es bildete eine Pfütze. Beate und Leo standen wie gelähmt herum. Eine der Frauen rief der anderen zu, indem sie auf den Verletzten zeigte, man müsse einen Tunnel bauen, sonst schaffe er es nicht. Ihre Komplizin versprach, dass sie ihr Bestes tun werde. Unversehens tat sich ein Loch auf. Es erinnerte an einen Wasserstrudel und gleichsam an ein gewaltiges Maul.


Grau war die Decke, grau die Wände. „Wo bin ich?“, hörte Andy sich fragen.

„Auf deiner Pritsche, wo sonst?“, murmelte sein Zellengenosse.

„Wieso bin ich wieder hier?“

„Mann, musst du wirre Träume haben!“

„Verdammt, das hat sich aber überhaupt nicht wie ein Traum angefühlt! Monatelang war ich draußen, ich wurde doch entlassen ...“

Sein Zellengenosse winkte ab. „Typisch Knastkoller. Glaube mir, du warst hier, die ganze elende Zeit. Morgen kommst du raus. Jetzt nur nicht noch am letzten Tag durchdrehen!“

„Aber ich war doch bei Min-Jee und dann …“

„War sie gut im Bett?“

„Sie verstärkt Energie“, erklärte Andy, „und dann kamen diese zwei Frauen und sie haben etwas mit meinem Kopf gemacht. Ich habe eine weite Ebene gesehen, darin klaffte ein Loch. Ich fiel hinein, tiefer und tiefer. Unten leuchtete es. Es war verdammt hell. Ich fiel mitten ins Licht hinein. Dann wurde es weit, grenzenlos. Nur noch reines Bewusstsein existierte. Ich verwandelte mich, spürte die Anwesenheit anderer, die mit mir verbunden waren, so als teilten wir einen einzigen Geist. In mir kreiste auch noch die Energie, die ich von Beate – ich glaube, ich habe schon von ihr erzählt, meine Freundin – und von Min-Jee erhalten habe. Min-Jee ist die Quelle der Kraft. Diese Energie vermengte sich mit dem Raum, der Bewusstsein war. Ich erinnerte mich an eine frühe Phase der Menschheit, an so etwas wie einen Ursprung. Aber alles ist wie verschleiert. Dann wurde ich wach.“

„O Mann, du bist echt weit weg gewesen. Das kommt vom Knast, glaube mir Bruder. Weil hier alles eintönig ist, weil du nicht wirklich weißt, warum du hier bist, wird dein Traumleben immer wilder. Ich kenne das, ich kenne das. Morgen bist du draußen Mann. Jetzt drehe nicht durch. Alles wird gut.“

„Du hast wahrscheinlich recht. Es war wohl ein Traum, ein verdammt echter Traum“, sagte Andy, während er genau wusste, dass es kein Traum war. Er hielt es aber für besser, nicht weiter darüber zu reden, zumal er sich immer genauer entsann, was wirklich passiert war: Er lag am Boden, sein Atem hatte angehalten. Seine Augen waren offen, er konnte sie aber nicht bewegen. Dennoch erkannte er, wie das seltsame Loch, durch das die Angreifer geflohen waren, nochmals auftauchte. Ein mächtiger Sog ergriff ihn und nahm ihn mit sich. Er fand sich in einem kargen Zimmer wieder – kahle Wände, einige schmucklose Stühle. Sein Hals weitete sich, Luft strömte in seine Lungen. Ihm wurde das Leben wiedergeschenkt. Er fühlte sich so, als würde etwas Ähnliches wie die Energie Min-Jees in ihn eindringen. Es schien nur stiller zu sein, ein bewegungsloses Fließen, ein Fluss von Anhalten. Es ergab keinen Sinn und konnte nicht erklärt werden. Wenn Min-Jees Energie eine bewegte Ekstase auslöste, einen Tanz mit den Formen der Welt, wurde er nun von einer seltsam stillen Gewalt ergriffen, die einen Teil von ihm in die Tiefe zog, während er gleichzeitig an der Oberfläche blieb, im gegenwärtigen Moment. Er sah, wie eine der Frauen, die seinen Kopf bearbeitet hatten, auf den Mann zuging, dessen Arm von Leos Energiestoß abgefetzt wurde. Sie blieb vor dem Verletzten stehen und breitete die Arme aus. Der Mann hörte abrupt auf zu bluten. Eine Wand öffnete sich und zwei Leute betraten den Raum. Ihre Gesichter wirkten ausdruckslos. Stumm gingen sie auf den Verletzten zu, musterten ihn und verließen mit ihm das Zimmer.

Nun war Andy mit den beiden Frauen alleine. Er verspürte eine unerklärliche Nähe zu ihnen. Der Mann, der soeben den Raum verlassen hatte, schien auch noch seltsam gegenwärtig. Ihm war zumute, als fühle er Tausende, ja Millionen Wesen in sich. Diese trieben auf einem bodenlosen Ozean. Das Universum mit all seinen Sonnenfunken schwamm auf der Oberfläche seines schwarzen Wassers, war nicht mehr als Spiegelung einer fernen Wirklichkeit. Es öffnete sich ein neues Auge, mit dem er besser sehen konnte, als er es jemals zuvor getan hatte.

„Wir besitzen alle dieses Auge“, sagte eine der Frauen, die genau verstand, was in ihm vorging.

„Ich hatte es früher schon gespürt. Hier sammelte sich Energie an. Nun ist es aufgegangen. Einfach aufgegangen.“

Die Frau nickte. „Es wäre irgendwann wieso passiert. Es wird von Energie geöffnet, oder vom Bewusstsein.“

Andy wunderte sich, dass er nicht das Bedürfnis hatte, Fragen zu stellen, Fragen, die angebracht wären, wie: Wo bin ich? Was hat das alles zu bedeuten? Aber ihm wurde klar, dass die Dinge geschahen, wie sie geschehen sollten.

„Ich bin Alice“, sagte eine der Frauen.

„Ich heiße Karen“, sagte die andere.

„Ich bin vom Mond Europa“, ergänzte Alice.

„Ich bin eine Infizierte“, sagte Karen. „Du bist in Sicherheit. Dir wird nichts geschehn.“

Alice nahm den Faden wieder auf, den sie fallen gelassen hatte. „Die beiden Augen, mit der wir die Welt betrachten, blicken nach außen, das dritte Auge schaut nach innen. Die Augen, die nach außen blicken, sehen die Gegensätze, das Auge aber, das nach innen schaut, sieht die Einheit.“

„Ach könnte ich doch immer so sehen, wie ich jetzt sehe“, schwärmte er.

„Es ist das ursprüngliche Sehen“, fuhr Alice fort, „es ist dein natürlicher Blick. Nichts Besonderes. Weil du gelernt hast, ständig nach außen auf die Dinge zu starren, hast du vergessen, dem zu vertrauen, was nach innen schaut. Deshalb erscheint dir der einheitliche Blick so außergewöhnlich. Im Moment siehst du, was sieht. Aber vorerst müssen wir einen Schleier über dieses Sehen legen, zu deiner Sicherheit. Du wurdest auserwählt für eine wichtige Aufgabe.“

Obwohl Andy ein nicht erklärbares Vertrauen zu den beiden Frauen verspürte und zu dem, was Alice gesagt hatte, schoss aus ihm die Frage heraus: „Und was, wenn ich mich weigere?“

„Das wirst du nicht tun“, behauptete Karen und sie schien dabei sehr von ihren Worten überzeugt.

„Das wäre das Ende“, fügte Alice hinzu.

„Das Ende wovon?“, wollte er wissen.

Alice blickte ihm ernst in die Augen. „Das Ende von allem.“

„Von allem?“

„Ja, von allem“, bestätigte Alice. „Das Ende vom Mond Europa und seinen Kolonien, das Ende der Erde und auch das Ende von Enceladus.“

„Enceladus?“

„Das ist die Macht, in deren Auftrag eure Führerin Min-Jee arbeitet“, erläuterte Alice.

„Also stecken auch da Außerirdische dahinter!“

Alice schwieg einen Moment lang, dann fuhr sie fort: „Ja, Außerirdische, die den Planeten Erde an den Abgrund gedrängt haben. Sie halten sich im Hintergrund auf und ziehen die Fäden. Min-Jees Leute wären weniger motiviert, wenn sie wüssten, in wessen Auftrag sie handelt. Aber so sieht es wie der Widerstand der Menschen gegen uns aus. Obwohl er in der Praxis sich gegen andere Menschen richtet.“

„Ja, gegen uns Infizierten“, sagte Karen, „Diese Infektion ist eine freiwillige Sache, sie funktioniert nur bei Menschen, die dazu bereit sind. Es setzt eine Resonanz voraus, ein inneres Einverständnis, um die Hilfe anzunehmen, mit der sich der Geist aus den Verstrickungen der Illusion befreien kann. Dem getrübten Menschengeist, der sich oft mit Gier und Hass vergiftet, musste etwas entgegengestellt werden: eine klare Sichtweise!

Es gibt eine Alternative. Wir müssen uns nicht länger ausrotten und quälen. Das ist es doch, was die Menschheit bisher getan hat, oder? Ja gewiss, es wird vertuscht, man nennt es gesundes Konkurrenzdenken, oder bezeichnet es als Kampf für die Freiheit und Demokratie. Am Ende ist es aber Krieg, natürlich für die gute, gerechte Sache.“

„Und nun hat sich gezeigt: Die Hilfe Außerirdischer, führt zu einer neuen Katastrophe“, unterbrach Andy.

Alice nickte. „Ja, so ist es. Wir rechneten nicht damit, dass die Enceladusaner eingreifen würden. Es hat immer diplomatische Spannungen zwischen uns gegeben, aber nie hätten wir gedacht, dass sie derart aggressiv vorgehen würden. Wir haben die Fäden des Schicksals beobachtet und eine glückliche Zukunft erblickt. Offenbar ist es ihnen gelungen, unsere Wahrnehmung der Schicksalsfäden zu trüben. Die Situation ist ernst. Dein Freund hätte beinahe einen der unsrigen getötet. Die Führung auf Europa muss auf solche Zwischenfälle reagieren. In diesem Moment, in dem wir hier reden, wird das Gleichgewicht der spannungsvollen Koexistenz zwischen Europa und Enceladus zusammenbrechen. Es ist zu spät. Der Krieg hat begonnen und hält die Erde umklammert. Die Menschheit ist bald nur noch Geschichte. Wir befinden uns momentan in unserer Kolonie auf dem Grund der Tiefsee. Selbst hier ist es nicht sicher. Um die Situation zu verändern, brauchen wir Zeit. Die rennt uns leider davon.“

„Bedeutet das, wir können nichts mehr machen, weil die Erde bereits in Flammen steht und jedes Leben ausgelöscht wird?“

„Es ist fünf nach zwölf, wie man auf der Erde sagt.“ Alice blickte in den Raum, wie um nach den richtigen Worten zu suchen. „Manches Mal entstehen Kriege nicht, wie meistens, aus Dummheit, Gier und Ignoranz, sondern dadurch, dass Konflikte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben. Bis zu einem Punkt kann man alles friedlich lösen, wenn die Streitigkeiten klein sind. Etwas später kann man die schlimmsten Folgen mit Mühe abwenden. Danach geht nichts mehr, dann bleibt einem nur noch zuzusehen, wie die Katastrophe sich ausbreitet und alles verschlingt. Bald ist der Punkt ohne Umkehr erreicht. Es gibt noch eine letzte Möglichkeit. Um diese zu nutzen, bist du hier!“

„Ich soll die letzte Chance sein? Der Weltenretter, wie in einem schlechten Roman?“

Karen ergriff das Wort. „Der Keim des Unglücks, das über uns kommt, war harmlos, bevor die Leute Min-Jees die staatlichen Behörden unterstützten. Sobald sie aufgetaucht war, beobachteten wir sie so gut, wie es ging. Außerirdische oder Infizierte konnten ihr aber nie nahekommen, sie hätte uns sofort entdeckt, wegen unserer energetischen Frequenz. Im Augenblick hast du an den Segnungen des Einheitsbewusstseins teil und alles Enge, was du zuvor Ich genannt hattest, ist fort. Wir werden dir dieses neue Sehen wieder nehmen. Eigentlich kann man es ja nicht einfach wegnehmen, aber deine Gedanken werden es überdecken. Somit wird deine Frequenz wieder die eines normalen Menschen werden, unverdächtig für Min-Jee.“

„Aber ihr habt gemeint, es ist schon zu spät. Fünf nach zwölf oder so.“

„Nun höre weiter“, sagte Alice und erklärte Folgendes: „Während unserer Beobachtungen haben wir in den letzten Monaten alle überprüft, die mit Min-Jee Kontakt hatten. Darunter war auch Beate, deine Freundin. Bei weiteren Nachforschungen stießen wir auf deine Geschichte. Du hast im Gefängnis gesessen wegen staatsfeindlicher Umtriebe. Leider beinhaltete deine Ideologie nicht nur eine Ablehnung der Methoden des Staates, sondern du hast auch unsere Politik missbilligt. Somit schien es vorerst so, als wärest du für unsere Zwecke nicht zu gebrauchen. Wir erfuhren, dass du nach deiner Entlassung einer von Min-Jees Anhänger geworden bist. In der verzweifelten Situation, in der wir uns befanden, kam uns die rettende Idee: Noch könnte alles gut werden. Es müsste uns nur gelingen, dich zu überzeugen. Du hast unwissentlich für eine außerirdische Macht gearbeitet, nachdem du zu Min-Jee gegangen bist. Hättest du das vorher gewusst, wären wahrscheinlich deine Handlungen anders gewesen. Jetzt hast du die Chance, es vorher zu wissen. Du kannst alle retten, uns, die Erde, dich und diese verfluchten Enceladusaner!“

„Ich verstehe nichts, gar nichts. Von welcher Chance sprecht ihr?“

Alice sah in fest an. „Es handelt sich um die Möglichkeit, in der Zeit zurückzugehen.“

„Moment mal reden wir hier von einer Zeitreise? So etwas gibt es nur in Filmen. Es ist in der Realität nicht möglich, zumindest nicht zurück in die Vergangenheit.“

Alice sagte: „Die Sache verhält sich so: Eine Reise in die Zukunft ist einfach. Euer Einstein hat die Grundlagen ja berechnet, nur wieder zurück ist schwierig. Nun zur Reise in die Vergangenheit. Sie ist nicht ungefährlich und kann nicht oft durchgeführt werden. In unserem Fall haben wir nichts zu verlieren. Du reist nicht mit dem Körper in die Vergangenheit, sondern deine Erinnerung, dein Geist geht zurück. Das heißt, du wirst nicht zweimal da sein, sondern dich in deinem alten Körper wiederfinden. Die technischen Details würden dich nur langweilen. Wichtig ist: Wir müssen Min-Jee entladen und ihre Energiequelle finden. Min-Jee ist der Schlüssel. Sie ist dazu gezwungen immer neue Energie auf ihre Anhänger übertragen, damit diese nicht ihre energetischen Fähigkeiten verlieren. Mich und Karen würde sie unter normalen Umständen sofort aufspüren, wenn wir ihr nahekämen. Sie besitzt einen starken inneren Radar. Aber du, du kannst dich ihr nähern und ihren Radar täuschen. Wir sagen dir, wie das zu bewerkstelligen ist und wann es passieren soll. Das ist unsere Hoffnung.“

Es wurde immer wärmer. Der Schweiß ließ sein Hemd am Leibe kleben. „Warum ist es so warm hier?“

„Das Meer, es beginnt zu verdampfen. Der Krieg ist im Gange“, sagte Alice ausdruckslos. Ein bläuliches Licht strahlte dabei aus ihrem Herzen und erfüllte den Raum mit seltsamen Glanz. Alles drehte sich um Andy und seine Sinne weigerten sich, irgendetwas wahrzunehmen.


Andy schüttelte die Erinnerung ab wie lästiges Insekt. Er fand sich im Gefängnis wieder. Sein Zellengenosse, ein Muslim, betete gerade. Es war wirklich passiert, sie hatten ihn zurückgeschickt, einfach so, durch die Zeit. Jetzt war wieder damals. Alles sollte noch einmal geschehen, nur ein wenig anders, zumindest was Min-Jee betraf. Jetzt wusste er, was die Zukunft bringen würde: das Ende der Erde. Sie hatten es geschafft, er konnte es nicht fassen, aber es war real. Nichts konnte realer sein wie eine Gefängniszelle. Er war in der Vergangenheit, nur ohne sein altes Selbst. Das existierte nur noch als Erinnerung in ihm. Konnte er die Vergangenheit wirklich verändern? Hatte man ihn zurückgeschickt, oder die gesamte Zeit zurückgedreht? Er hörte auf, darüber nachzudenken. Er würde, sagte er sich, wieso keine Antwort darauf finden. Vielleicht gab es mehrere Welten, verschiedene Zeitlinien. Wie auch immer, er hatte das Ende der Welt zu verhindern. Er hoffte, dass die Bewohner von Europa wussten, was sie taten, wenn sie mit der Zeit herumspielten. Sicher aber war das nicht, es könnte auch ein letzter Akt der Verzweiflung gewesen sein, der sie zu einer unbedachten Handlung getrieben hatte. Die einzige Möglichkeit seiner Aufgabe gerecht zu werden, war, bedingungslos daran zu glauben, dass die Aliens richtig entschieden hatten. Er schaute zu seinem Zellengenossen rüber, der sich auf den Boden niedergehockt hatte und sich inbrünstig seinem Gott unterwarf.


Ratsherr Zarzar trat ein. Er blickte sich mit strenger Miene um. „Recht ordentlich für die hiesigen Verhältnisse“, murmelte er. Man merkte es an seinen Bewegungen, dass er erst seit Kurzem diese Körperform besaß. Er kämpfte etwas unbeholfen gegen die Schwerkraft. Mit leichtem Humpeln ging er auf das Sofa zu und ließ sich darauf fallen. „Wirklich hübsch hier Alal“, lobte er. Es war klar, dass es sich hierbei um eine Höflichkeitsfloskel handelte. Sie gehörte auf Europa zum Standardrepertoire.

„Alice!“

„Wie bitte?“

„In dieser Form, die ich auf der Erde annehme, heiße ich Alice!“

„Gewiss doch, Ihre Tarnung muss ja stimmen“, bestätigte Rat Zarzar.

„Es ist mehr als eine Tarnung, es ist die Erweiterung meiner Identität“, stellte Alice klar.

Der Ratsherr fand sich gewiss in seiner Meinung bestätigt, dass diese Kolonisten auf der Erde, die eine menschliche Form angenommen hatten, äußerst eigenwillig waren, dachte Alice. Er blickte zu Chrochro hinüber, der im Prinzip als ein vorzüglicher Bürger Europas gelten könnte, wenn er nicht dazu neigen würde, seinen Patriotismus zu übertreiben. Seinetwegen musste ein Mann wie Philphil halb verblödet auf einem Acker herumbuddeln, irgendwo in der Einöde dieses verdammten Planeten. Das waren nicht ihre Gedanken, sie hatte sie von Rat aufgefangen, teilte sie aber durchaus, so dass es ihre hätten sein können. Der Rat richtete seinen Blick auf Karen. Er zwang sich dabei zu einem Lächeln – eine der wenigen örtlichen Verhaltensweisen, die man ihm in der Eile implantiert hatte.

Als sich alle gesetzt hatten, begann der Ratsherr seine Ansprache. „Die Situation ist ebenso verwickelt wie gefährlich. Die Analyse der Energie, die Chro ... oder besser Christian bei dem Wachmann vorgenommen hat, mit dem er, wie wir wissen, bei der Befreiung eines Infizierten zusammengestoßen ist, bestätigt unseren Verdacht. Aber das wurde Ihnen bereits mitgeteilt. Enceladus steckt dahinter. Jeder diplomatische Kontakt zu ihnen ist seit Langem eingestellt worden. Wir beobachten uns seit Jahrhunderten gegenseitig und halten die Drohung aufrecht, einen Krieg führen zu können, wenn wir es wollten. Alles in der Hoffnung, somit einen Krieg zu verhindern. Eine Strategie, die auch auf der Erde bekannt ist. Man nennt sie hier Abschreckung. Ein riskantes Spiel, gewiss, aber es hat bisher funktioniert, jedenfalls solange, bis die Erde ein Spielstein in diesem Spiel wurde. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Kolonie.“

„Der Rat von Europa hat die Kolonie gebilligt“, warf Alice ein.

„Das ist richtig“, bestätigte Rat Zarzar, „Allerdings als Kolonisten auf der Erde mit dem Infizieren begannen, beobachteten einige Mitglieder des Rates oben auf Europa das mit überaus kritischen Blicken. Aber letztlich vertraute man einem unserer Besten. Ich rede hier von Ihrem Bruder, Alice. Die Situation änderte sich. Als die Regierungen der Erde witterten, was los war und Angst bekamen, sie könnten die Kontrolle verlieren, griffen die Infizierten und die Kolonisten aktiv ins Geschehen ein. Eine Art Revolution wurde ausgelöst. Sie kennen die Geschichte so gut wie ich. Alles schaukelt sich hoch, Unterdrückung auf der einen Seite, Aufstände auf der anderen. Deutschlands Regierung, eine Mischung aus Korruption und Trägheit, agiert zurzeit aus dem Exil. Oppositionelle Kräfte sind bereit, die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Während dieses alles geschieht, sitzen die Enceladusaner auf ihrem blassen Mond und beobachten das Ganze missmutig. Sie blättern in Jahrtausende alten Verträgen, an die sich bei uns kaum jemand erinnert, welche die Enceladusaner aber noch für gültig halten. Sie blättern und blättern und finden natürlich auch eine Stelle, über die sie sich aufregen können. Man weiß, es sie sind Pedanten, für sie gelten Verträge für alle Ewigkeit. Diese Paragrafenreiter würden deshalb auch niemals eines ihrer dürren Beine auf die Erde stellen. Aber sie haben ja andere Wege gefunden, um ihre Pedanterie und giftige Aggressivität auszuleben. Wir wissen zwar nicht, wie sie den Kontakt zu einem Menschen hergestellt haben, trotz ihrer Paragrafentreue. Irgendwie ist es ihnen dennoch gelungen. Vielleicht gab es eine Lücke in einem ihrer halb verrotteten Verträge. Inzwischen haben Sie ja die Quelle der feindlichen Energie aufgespürt, diese Min-Jee. Das war eine kurze Zusammenfassung der momentanen Situation. Jetzt ist die Frage zu klären, ob wir uns im Krieg befinden, oder kurz davor. Wenn wir die Leute der Min-Jee als Söldner wahrnehmen, die im Auftrag von Enceladus handeln, können wir von einem kriegerischen Akt sprechen. Andererseits sind es Menschen, die sich uns entgegenstellen. Offiziell haben die Enceladusaner nichts damit zu tun. Aber natürlich stecken sie dahinter, sie führen einen verdeckten Krieg. Europa muss handeln. Die Fäden des Schicksals zeigen eine Richtung auf, die nicht allzu hoffnungsvoll stimmt.

Da uns die Sache alle betrifft, sind die Sonderrechte der Kolonie aufgehoben. Der Rat der Kolonie wird für die Dauer der Ausnahmesituation den Weisungen des Rates auf Europa unterstellt. Von Ihnen verlangt der Rat, alles Mögliche zu unternehmen, um Min-Jee auszuschalten.“

Karen meldete sich zu Wort. „Verzeihung, aber das gilt doch nicht für uns, also für die Infizierten. Ich meine, wir unterstehen nicht den Befehlen des Rates von Europa. Oder sind wir bereits als vollwertige Mitglieder Ihrer Gemeinschaft anerkannt? Auch gilt hier das deutsche Recht, zumal wir uns auf deutschem Boden befinden. Ich meine, ich bin selbstverständlich auf der Seite Europas, aber jetzt wird ein richtig fetter Krieg zu uns auf die Erde getragen. Sie treffen irgendwelche Entscheidungen und wir Menschen werden nicht einmal gefragt.“

„Gewiss, ich sehe das Problem und verstehe Ihre Konfusion“, sagte der Rat und schlug einen väterlichen Ton an. „Es gibt hier, so erfuhr ich, eine Krankheit, man nennt sie Alzheimer. Ist jemand davon befallen, schwinden seine geistigen Funktionen. Somit sind andere dazu gezwungen, dem Kranken gewisse Entscheidungen abzunehmen. Momentan gleicht die Erde einem Alzheimerpatienten. Es ist die alte Frage, was den Planeten Erde betrifft. Die Frage der Verantwortung.“

„Was wollen Sie damit andeuten, dass es die alte Frage der Erde ist“, wollte Karen wissen.