Sonntag, 22. Mai 2022

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Als sich die Ersten aus dem Fabrikgelände geströmt waren, wurde es hell. Überall standen Autos und Scheinwerferlicht brannte Löcher in die Nacht. „Sie sind umzingelt, ergeben Sie sich!“, knatterte es aus einem Lautsprecher. Das war aber nur der Form halber, gleich nach der Durchsage knallte es und Kugeln zischten durch die Luft. Rechts und links von Isabell sackten Körper zusammen. Sie blieben reglos am Boden liegen. Hier und da rannte jemand mit unglaublicher Geschwindigkeit los und ging den Uniformierten an die Kehle. Letztlich war aber alles zwecklos, der Gegner befand sich in der Überzahl, schoss wie verrückt auf alles, was sich regte. Isabell spürte den Strahl einer Schockwaffe, dann fiel sie in ein schwarzes Loch.


Rat Zarzar kaute den Tee förmlich. „Wunderbar“, schwärmte er, „Sie sind die beste Teeköchin von allen bewohnten Welten. Was für eine Sorte ist das?“

„Sencha“, antwortete Alice, „Sencha mit einer Prise blauer Eisalge vom südlichen Mond.“

„Blaue Eisalge aus der Heimat. Gute Mischung. Was für ein herrlicher Tag!“

„Gewiss Rat Zarzar. Dass Sie sich einmal hier auf der Erde niederlassen würden, wer hätte das gedacht?“

„Irgendwo muss man sich ja als Pensionär herumtreiben. Hier ist es doch recht nett.“

„Ich bin froh, dass Sie hier sind und ab und zu meinen Tee genießen. Sie verkörpern für mich das alte Europa, die Weisheit, die Würde und das Wissen um die inneren Reisen. Sie war so schön, meine Kindheit: die Algennebel, die Wanderungen der Leuchtfische, die herrlichen Feste und die Fahrt im großen Raumschiff zum Herzen der Welt!“

„Ich verstehe, es gibt immer eine Zeit des höchsten Glücks“, sagte der Rat. Er nahm einen gefüllten Kirschkeks aus der Schale, den er sich langsam in den Mund schob.

„Ja Rat Zarzar, es gibt Zeiten, in denen wir glücklich sind, wir denken dann nicht darüber nach, wie wir diese Zeiten bewahren könnten, es ist uns das genug, was grade ist. Heute scheint ein schöner Tag zu sein. Meine Tochter und ihre kleine Freundin Lahama spielen im Garten, sie denken nicht an künftige Dinge. Lahama war krank, jetzt springt sie wieder herum und berührt mein Herz. Ich habe sie aus dem Krankenhaus geholt. Es war das Krankenhaus des Internierungslagers für die Kinder der Ersten. Dank meiner Position war mir das möglich. Diese verdammte Position. Sie wird mich heute Abend fragen, wann ihre Mutter kommt. Ich werde sie ansehen und einen Stern aus Liebe in ihr Herz schicken; dann muss ich ihr sagen, dass ich es nicht weiß. Und nicht nur das bedrückt mich. Während sie mich ansieht mit Kinderaugen, in denen sich Tränen sammeln ...“

„Sie machen sich Vorwürfe. Das sollten Sie nicht.“

„Ich habe sämtliche Leute meiner Abteilung auf die Straße geschickt, sie angetrieben, so viele von den Ersten wie nur möglich zu fangen.“

„Weil der Rat es wollte.“

„Ja sicherlich, es war ein Auftrag des Rates, Sie selbst haben ihn mir übermittelt. Eine Ihrer letzten Amtshandlungen. Aber ich bin genauso verantwortlich. Vergessen Sie nicht, wir bitten einander. Früher haben sich die Menschen Befehle erteilt. Sie konnten sagen: Ich habe nur einen Befehl ausgeführt. Eine Bitte kann man ablehnen. Und dann kam dieser Anruf von einem Rat Sowieso mit Identifizierungsnummer. Es solle endlich gehandelt werden. Ich habe gehandelt und mein Wort wurde zum Henkerswerkzeug. Der Rat hatte beschlossen, den gründlichen Weg zu gehen. Man könnte es schnelle Befreiung nennen – oder Massenmord.“

„Glauben Sie mir, der Rat hat es sich gewiss nicht leicht gemacht. Er sah sich in einer Zwickmühle.“

„Gewiss, ich will nicht den Richter stellen. Ich habe den Beschluss weitergegeben: Tötet sie alle, so rasch, wie es geht! Ja, Frau Major, sagten sie und fingen damit an. Zwei Spritzen. Wussten Sie, dass es zwei Spritzen sind? Ein Betäubungsmittel und ein Gift. Ein sanfter Tod. Man nennt es Befreiung. Der Körper stirbt und die Ersten müssen ihn verlassen. Die Seelen der Menschen sind wieder frei. Ihr Leben ist zwar futsch ohne Körper, aber sie können ja in den Nachtotzustand eingehen. Die Ersten dagegen werden fragmentiert. Kein Weiterleben im Jenseits. Zermahlen zu Seelensplitter vegetieren sie als bewusstlose Masse dahin.“

„Lassen Sie doch die Vorwürfe. Wir sind Teil eines Schwarmes. Bewegt sich der Schwarm, bewegen wir uns auch.“

„Soll das ein Trostversuch sein, Rat?“

„Das soll heißen, schleppen Sie die vermeintliche Schuld nicht wie einen Stein mit sich herum.“

„Einen Stein? Ja, ich trage ihn. Auf Europa wiegen Steine weniger. Unsere Vernetzung ist dort stärker. Wir sind dort mehr WIR, weniger ICH, mehr die Welt, weniger nur ein Teil von ihr. Obwohl sich viel verbessert hat auf der Erde, schwingt noch bei allem eine Art von Bedrohung mit. Es ist ein Wahnsinn, er kann jedem Moment über alles und jeglichen herfallen.“

„Eines Tages wird es hier so sein wie damals auf Europa, als man sich nicht ablenken ließ von den Dingen und immer mit der Strömung des Lebens schwamm, eines mit der Natur und der Weite des Sternenraumes. Wir sind vorangekommen, Kriege hat man auf der Erde fast ausgelöscht.“

„Aber in meiner Abteilung lief ein irrer Mörder rum. Bin wohl ein Glückspilz. Wie dem auch sei, als mir das ganze Ausmaß meines Tuns bewusst wurde, riss ich alles ab, was an meiner Jacke an Abzeichen baumelte. Mag es noch so viele Kuckucke geben, ich werde sie nicht mehr jagen.“

Rat Zarzar nickte, er verstand sie, denn ihre Herzen waren verbunden. Trennung war eine Illusion, die auf der Erde stark genug war, um Gift in die Seelen zu spritzen. Auf der Erde zu leben, bedeutete, immer wieder zu stolpern, sich der Schwerkraft zu widersetzen, gegen Dummheit zu reden, auch ab und an eine Müdigkeit in sich zu spüren, die einen zu Boden drücken konnte. Die stärkste Waffe für die Kinder Europas war ihr Herz. Unzerstörbar geboren – würde es trotzdem immer wieder in den Dreck fallen, sich ängstigen und vor Trauer verbrennen.

Alice sagte: „Der Rat betrachtet zu sehr das Ganze, sodass er das Einzelne zuweilen übersieht. Es gibt da so einen Satz auf der Erde: Weisheit ist nichts; Liebe ist alles. Der Rat schaut auf die Jahrtausende, sieht aber nicht die Minute, er sieht das Schicksal der Völker, aber übersieht die Trauer eines Kindes. Am Ende spielen Tod und Leben keine Rolle, angesichts der Ewigkeit. Liebe und Weisheit sollten wieder ein Paar werden.“

Es piepte. Rat Zarzar zog sein Smartphone hervor.


Gleichgültigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern der Bewacher ab. Sie taten das, was sie zu tun bestimmt waren, ließen ihre Blicke wandern und achteten darauf, dass alle in Reih und Glied standen. Die Ketten, die schwer an den Fußgelenken der Ersten hingen, ließen nur winzige Schritte zu. Gewiss redeten sich manche ein, es ginge in ein anderes Lager. Isabel wusste, solche Gedanken waren Unsinn. Hinter der Tür lag ein Gang, düster und schmal, und er endete an einem Ort, an dem sie alle entkörpert werden sollten. Danach würde man ihre Seele mittels enceladusanischer Technik zerstückeln. Die meisten hier wussten, was passieren würde. Sie zeigten keine Angst, sie wirkten nur müde. „Los, die nächsten fünf!“, rief ein Posten wie unbeteiligt. So leicht war es, jemanden in den Tod zu schicken. Man sagte einfach den ganzen Tag: die nächsten fünf! Nach Dienstschluss ging man heim und aß mit seiner Familie zu Abend, als wäre nichts gewesen. Es sind nur noch zehn vor mir, sagte sich Isabell, zwei Fünfergruppen, in der Dritten bin ich. Ich werde weit fort sein, wenn meine Tochter nach mir ruft. Sehr weit.

„Die nächsten fünf!“, bellte es. Worte wie ein Fallbeil. Man hörte sie und sie taten weh, sehr weh. Da betrat ein Uniformierter mit allerhand silbernen Abzeichen an der Jacke den Saal und rief: „Halt, alles stoppen. Diese Aktion hier ist ab sofort einzustellen!“


„Die Sitzung des Rates wird für beendet erklärt“, bestimmte Chrochro, während von allen Seiten Bewaffnete in den Ratssaal hineingeschwommen kamen.

Der oberste Rat wedelte hektisch mit Flossen und Armen. „Was geht hier vor? Was suchen diese Leute hier? Auch noch mit Kriegswaffen ausgerüstet!“

„Ich erkläre die Regierung von Europa als abgesetzt“, sagte Chrochro mit fester Stimme.

Die Ratsmitglieder schüttelten verwirrt die Köpfe. „Aber Rat Chrochro, was soll das? Wir wurden nicht abgewählt“, sagte der oberste Rat.

„Wegen der schwierigen Situation schien es ratsam, auf zeitraubende Prozeduren beim Regierungswechsel zu verzichten.“

„Ich bitte Sie Rat Chrochro – mit Waffengewalt –, das ist reiner Irrsinn!“

Chrochro schwamm ein wenig aufwärts und blickte nun von oben auf die Mitglieder des Rates. „Der Rat wird vorerst festgenommen.“

„Festgenommen? Das ist ja unmöglich!“

„Doch, es ist möglich. Der Kampf gegen die Ersten war rechtswidrig und entsprach weder den Regeln Europas noch den Gesetzen der Erde.“

„Hören Sie Rat Chrochro, es gab keine Gesetze für diesen Fall, weil dergleichen bis dato nicht vorgekommen war – Körperbesetzung durch diebische Seelen.“

„Damit geben Sie zu, ohne rechtliche Grundlage gehandelt zu haben.“

„Wir mussten doch etwas tun.“

„Abführen!“, rief Chrochro. Seine bewaffneten Gefolgsleute schwammen auf die Ratsmitglieder zu.


„Wichtige Nachrichten“, sagte Rat Zarzar vom Smartphone aufblickend, „ anscheinend sehr wichtige. Irgendetwas von einem Regierungswechsel. Sie werden auf Europa und auf der Erde gesendet, über alle Medien. Könnten Sie bitte ihr Inter-TV einschalten?“

Alice nickte. „Hermes, Inter-TV einschalten, Nachrichtensender!“, rief sie der akustischen Haussteuerung zu. Der Bildschirm an der Wand wurde hell. Zu sehen war Rat Chrochro, beziehungsweise sein digitales Abbild. Man hatte ihm für die Übertragung, die für die Erde bestimmt war, eine menschliche Gestalt kreiert. Die Gesten und Mimik wurden dabei irdischen Gepflogenheiten angepasst, beides wirkte dennoch künstlich. „Ich war Rat Chrochro“, schallte es durch das Zimmer, „ jetzt bin ich kein Rat mehr, da sämtliche Räte abgeschafft wurden. Die meisten Ratsmitglieder haben sich schuldig gemacht, haben geschriebene Gesetze und ungeschriebene Regeln missachtet, insbesondere was den Umgang mit den Ersten betrifft. Momentan bin ich der Präsident der Übergangsregierung, die sich aus aufrichtigen Patrioten zusammensetzt.“

„Haben Sie das gehört? Chrochro ist Präsident!“

„Ich habe es gehört Alice, nur glauben will ich's nicht.“

Chrochro machte eine Pause, schaute dann in die Kamera und damit den Zuschauern direkt in die Augen. „Nach neustem Wissensstand handelt es sich bei den Ersten nicht um minderwertige tierhafte Wesen, vielmehr haben wir es mit äußerst reinen Seelen zu tun. Die Ersten sind eine ursprüngliche und unverfälschte Lebensform. Dagegen hat es sich gezeigt, dass eine nicht geringe Anzahl der Bürger Europas in ihrer Kultur und in ihrem Wesen weitgehend degeneriert sind.“

„Was redet er da?“

„Keine Ahnung Alice.“

Chrochro holte zu einer weitläufigen Geste aus. „Dem wollen wir mit einer politischen Erneuerung entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, wird ab sofort der Ausnahmezustand über die Erde verhängt. Die Staaten der Erde werden vorläufig zu Kolonien erklärt und haben sich somit an die Weisungen der Regierung Europas zu richten. Menschen werden nunmehr nicht als vollwertige Bürger anerkannt.“

„Das ist Wahnsinn!“, rief Alice. „Der Rat hätte das kommen sehen müssen. Ich meine die Linien des Schicksals …“

„Sie wollten es nicht sehen, wollten es nicht wahrhaben“, sprach Rat Zarzar.

„Und die Kraft von Min­-Jee? Sie hat doch die Harmonie gebracht.“

„Nur für die Geister, die bereit dazu waren Alice.“

„Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen“, fuhr Chrochro fort, „wir müssen alles Unreine und Dekadente ausmerzen wie Unkraut. Der Boden muss bereitet werden, damit wir und unsere neuen Freunde – die Ersten – alle Welten beherrschen und heranwachsen zur wahren Krone der Schöpfung, zu Schöpfern selbst!“ Im Hintergrund ertönten frenetische Rufe: „Heil Chrochro, Heil Chrochro!“




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