TEIL 8
Die Straße war fast unbelebt, wenige Passanten gingen ihres Weges. Zwei Polizeiwagen fuhren vorbei. Sie stoppten in einiger Entfernung. Sechs bewaffnete Beamte sprangen aus dem Wagen. Sie riefen einem Fußgänger zu, er möge stehen bleiben und die Hände nach oben nehmen. Der ältere Herr, den man wohl gemeint hatte, lächelte freundlich, ließ aber seine Hände da, wo sie waren, und schlenderte seelenruhig auf die Polizisten zu.
„Was Sie nun sehen werden, das können Sie noch nicht begreifen. Ihre persönlichen Schleier haben sich etwas gelüftet, was von der Nähe des Todes herrührt. Zusätzlich wurde offenbar ein gewisser Prozess bei Ihnen ausgelöst, ohne dass sie es mitbekommen haben. Bei jenen, die gänzlich entschleiert sind, wurden sämtliche Filter des Bewusstseins weggefegt. Sie selbst blicken noch durch die Begrenzungen Ihres Denkens und Ihrer Gewohnheiten, deswegen begreifen Sie nicht, was die Welt wirklich ist. Der Mann da hinten lebt im Weiten. Das Gegenteil vom Weiten ist die Enge. Normalität ist Enge. Die Weite ist etwas, was außerhalb der Wahrnehmung der meisten Menschen liegt. Man kann sie nicht spüren, solange man sich hauptsächlich mit Nebensächlichkeiten betäubt. Man ist ja mit so vielen Dingen beschäftigt, dass man das Unbedingte versäumt. Weite ist Voraussetzung für eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft, die wir Rippen nennen. Doch das entzieht sich noch ihrer Denkweise. Für Sie scheint es Magie zu sein, aber es ist das Natürlichste von der Welt“, sagte die geheimnisvolle Frau mit bedeutungsschwerer Stimme.
Hans Lehmann zuckte zusammen. Einer der Polizisten da hinten hatte geschossen. Offenbar ein Warnschuss. Der freundliche Herr indes lächelte unermüdlich weiter. Da er unbewaffnet schien, stürzten sich mutig zwei Beamte auf den Mann, der partout die Hände nicht hochnehmen wollte. Flink sprang der Kleine einen Schritt zur Seite. Einer der Polizisten griff dadurch ins Leere und rempelte seinen Kollegen an. Beide stolperten und landeten unsanft am Boden.
„Schießt!“, rief jemand schrill. Eine Kugel spaltete eine der Steinplatten des Bürgersteiges, Splitter schossen aufwärts. Der Herr, um den es ging, zeigte sich unberührt vom Geschehen, er trottete seelenruhig weiter. Ein Polizeibeamter nahm ihn ins Visier, musste aber kräftig husten, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Waffe zu senken und nach Luft zu schnappen. Der Kollege neben ihm fing an zu weinen. Er schluchzte unter Tränen: „Ich kann nicht mehr!“ Ein weiterer Staatsdiener stolperte und klatschte der Länge nach hin. Heldenhaft stieg der Fahrer des einen Polizeiwagens aus und stellte sich dem Flüchtigen in den Weg. Der Kleine schaute ihm in die Augen und verbeugte sich höflich. Da begann der Polizist wild lachend zu tanzen. Die Staatsmacht schien vollkommen verwirrt. Der kleine Herr aber stieg munter in das leer stehende Dienstauto ein und gab Gas. Sogleich sprangen zwei Polizisten in den ihnen verbliebenen Wagen. Der Motor brummte seltsam, dann verstummte er knatternd. Unterdessen war der Flüchtige auf und davon.
Kommissar Lehmann hatte die Maulsperre bekommen. Eine unbewaffnete, gebrechlich wirkende Person war einer Gruppe von durchtrainierten Polizeibeamten entkommen.
„Interessant, nicht wahr?“, sagte Karen. „Wir Entschleierten, wir Infizierten werden als Terroristen gejagt, aber wir können uns recht gut verteidigen, wie Sie ja gesehen haben. Es kommt von der Infektion. Sie bewirkt das. In Ihnen beginnt sie auch zu arbeiten.“
„Ich begreife absolut nichts. Was war das?“, wollte Kommissar Lehmann wissen. „Hellsichtigkeit? Hat der Mann in die Zukunft geblickt, sodass er dem ersten Polizisten ausweichen konnte? Und hat er dann die Handlungen der anderen mit Gedankenkraft beeinflusst? Warum in aller Welt ist das Auto nicht angesprungen?“
Karen Lachte. „Ihr Verstand ist aber recht eifrig dabei, Erklärungen zu suchen. Präkognition, Telekinese und Telepathie, diese ganzen parapsychologischen Begriffe fassen es nicht. Nehmen wir mal die sogenannte Telepathie. Dabei glaubt man an einen Sender und an einen Empfänger. Das ist Unsinn! Das Weite umfasst alles, was man als Sender oder Empfänger bezeichnen könnte. Es gibt nichts, was nicht aus dieser Weite kommt. Man kann es nur erkennen, wenn man die herkömmliche Art der Wahrnehmung aufgegeben hat. Solange Sie die Welt einteilen und in den Schraubstock Ihrer erlernten Begriffe zwängen, werden Sie sich in einem Irrtum befinden. Der Infizierte, der den Polizisten entkommen ist, hat Ihnen ein Spiel gezeigt, das Spiel eines Sehenden mit ein paar blinden Kindern. Normalerweise wären sie ihm überhaupt nicht so nahegekommen, aber das Ganze fand nur Ihretwegen statt. Bisher haben Sie in einem Gefängnis programmierter Sinne gelebt, jetzt erkennen Sie, was möglich ist. Wenn Sie die Schleier der Illusion hinter sich gelassen haben, wird eine Tür aufgehen und rückblickend wirkt ihr bisheriges Leben wie ein enger Gang, finster und angefüllt mit abgestandener Luft. Toll, oder?“
„Und diese Tür, wie kann man sie öffnen?“
Sie schaute ihn ernst an. „Das Schloss dieser Tür besteht aus Ihren Vorstellungen über die Welt und aus der Anstrengung, die sie aufwenden, um diese Vorstellungen aufrechtzuerhalten. Sie mögen nun meinen, sie müssten sich nur mehr anstrengen, damit Sie diese alten Vorstellungen loswerden. Das ist auch eine Vorstellung. Es funktioniert nicht. Lassen Sie das alles sein! Tun Sie nichts, dann sind Sie bereit, bereit dafür, dass sich die Infektion in Ihnen ausbreiten kann.“
„Ich soll einfach nichts tun? Das soll alles sein?“
„Glauben Sie mir, noch ist es schwierig für Sie, nichts zu tun; denn Sie wurden ihr ganzes Leben dazu angehalten, etwas zu tun. Sobald Sie in die Nähe des Nichttuns gelangen, empfinden Sie Ungeduld und Langeweile. Der ruhelose Geist schreit nach Beschäftigung, nach Unterhaltung, notfalls gibt er sich auch mit einem Problem zufrieden, damit webt er neue Schleier, womit er weiterhin die Wahrheit verdecken kann.“
„Und Sie meinen, ich werde bald so sein, wie diese Infizierten?“
Karen lachte hell auf. „Aber gewiss! Die Nachricht, dass Sie bald sterben werden, hat Sie gehörig durcheinandergebracht. Irgendwann hatten sie einen zufälligen Kontakt mit einem Infizierten. Jetzt waren Sie auch noch Zeuge einer missglückten Festnahme. Zu allem Überfluss sind Sie auch noch mir begegnet. Das hat etwas Wesentliches in Ihnen ausgelöst, eine Erinnerung, die verborgen war, die nun hervorkriechen wird. Sie müssen wissen: Ich bin hochgradig ansteckend. Außerdem ist das Schicksal nicht aufzuhalten. Schließen Sie die Augen und Sie werden die Macht erblicken. Millionen Sterne spuckt sie aus und Millionen Sterne verschlingt sie wieder. Ihr altes Leben wird von Ihnen abfallen wie eine verbrauchte Haut. Sie haben keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Gehen Sie zu Alice!“
„Sie lebt noch?“
„Sie schläft, aber sie wird bald erwachen. Sie werden sie finden Vertrauen Sie drauf. Sie wissen, wo Sie steckt, haben es immer gewusst, allein Ihre letzten Schleier verbergen dieses Wissen. Sie sind vom Schicksal auserwählt. Nichts kann einen von der Unendlichkeit trennen“, sprach Karen. Sie lächelte seltsam, sodass das Lächeln in ihm hineinflog, sich weitete, bevor es sonnenhell aufloderte.
Planlos lief Philip durch graue Gassen, wusste nicht, wohin er gehen sollte. Von fernher erklangen Stimmen, sie schienen etwas zu rufen: eine Parole. Wohl wieder eine dieser illegalen Demonstrationen. Eigentlich gab es ja nur noch illegale Demonstrationen, da das Demonstrationsrecht soweit beschnitten wurde, dass der Begriff 'Legale Demonstration' kein Platz mehr darin fand.
„Dahinten wird demonstriert“, sagte Durga alias Karen.
Er hatte sie nicht kommen sehen und schreckte zusammen.
„Das Volk wird immer frecher, da man es mit immer mehr Regeln gängeln will. Selbst der Hinweis auf eine außerirdische Gefahr hilft da nicht weiter.“
„Sie werden sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Man wird noch härter durchgreifen“, meinte Philip bitter.
„Es wird alles gut, es wird alles gut“, beruhigte sie ihn.
„Na ja, bis jetzt ist noch nicht viel zu sehen von dem Guten: Irgendwelche Agenten sind hinter mir her; Alice ist immer noch verschwunden und ich weiß nicht einmal genau, wer ich bin. Viel kann eigentlich nicht mehr schiefgehen. Und bevor ich es vergesse: Ein Mensch, dem ich vertraut hatte, war ein Verräter und ist jetzt eine Leiche. Außerdem muss ich mir überlegen, wer du bist. Entweder bist du meine Assistentin, falls ich ein Wissenschaftler sein sollte, oder du bist eine Agentin, die so tut, als wäre sie eine Terroristin, oder du bist eine Terroristin, die eine Agentin spielt. Kann auch sein, dass du eine außerirdische Kreatur bist, falls es so etwas geben sollte.“
„Erinnere dich, dann wird alles gut.“
Sie gingen in ein kleines Café, bestellten Apfelkuchen und Espresso. Sie hatte die ganze Zeit etwas in der Hand gehalten, das sie ihm nun überreichte. Es war ein Schnellhefter.
„Ich habe alles aufgeschrieben. Es für dich ist. Lies das! Du spielst darin eine wesentliche Rolle.“ Sie aß ihren Kuchen auf und kippte ihren Espresso hinterher. „Ich werde jetzt gehen. Ich lasse dir Zeit, damit du dir alles in Ruhe durchlesen kannst.“ Sie stand auf – Hoffnung und Trauer vernebelten ihr die Augen – und verließ das Café.
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