Montag, 28. März 2022

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„Ich erscheine Ihnen gewiss so, aber ich bin keine Verrückte. Ich werde fortgehen. Sie verstehen es nicht, aber er sagt mir alles.“

Der Psychiater beugte sich vor. „Können Sie sich daran erinnern, wie Sie heißen?“

„Min-Jee. Der Geist sagt es mir.“

„Es spricht ein Geist zu Ihnen?“

„Die Sprache der Geister ist nicht die Sprache der Menschen. Der Geist heißt Kwang, er ist mein Mann.“

„Wir haben uns erkundigt. Ihr Mann ist Astronaut. Er befindet sich auf Enceladus, einem der Monde des Saturns.“

„Er befindet sich hier“, behauptete Min-Jee. Sie sah zu Kwang. Er stand direkt neben ihr und hielt Kontakt zu ihrem Herzen. Deswegen konnte er mit ihr reden. „Ich habe viel, sehr viel vergessen. Er erzählt mir deswegen alles, was ich wissen muss.“

„Sehen Sie, es ist gut, dass Sie sich an Ihren Mann erinnern, aber er kann nicht hier sein. Infolge einer Traumatisierung ist bei Ihnen eine Amnesie eingetreten. Was immer auch geschehen sein mag, Ihr Gehirn versucht, das alles zu verarbeiten. Das aber kann es nur Stück für Stück. Es verzerrt dabei die Realität, Wahrheit und Fantasie können somit nicht immer unterschieden werden.“

„Mach dir keine Sorgen, du wirst bald alle Erinnerungen zurückbekommen“, sagte Kwang und strich ihr übers nachtschwarze Haar.

Sie lächelte, dann wandte sie sich wieder dem Psychiater zu. „Meine Amnesie hat nichts mit einem Trauma zu tun; mein Trauma ist die Amnesie. Die Außerirdischen haben mein Gedächtnis beschädigt.“

Der Psychiater schwieg.

„Ich werde wieder gesund“, fuhr Min-Jee fort, „die Götter werden mich heilen. Sie können mich mit neuer Macht ausstatten.“

„Götter?“

„Die Götter von Enceladus. Sie werfen mächtige Blitze. Sie bewachen den Himmel. Warten Sie einen Augenblick. Gleich werde ich gesund sein. Kwang leitet die Kraft der Götter zu mir.“

Der Psychiater nickte bedenklich wie in Zeitlupe.

Min-Jee lächelte. „Ich bin geheilt. Meine Erinnerung ist zurückgekehrt.“ Sie erhob sich und wandte sich zum Gehen um.

„Wir sind noch nicht fertig“, protestierte der Psychiater.

Min-Jee warf einen Blick zurück. „Doch sind wir.“

„Aber Sie können doch nicht einfach gehen!“

„Ich kann“, sagte sie mit überlegendem Lächeln, „wer sollte mich schon aufhalten?“ Ihr Haar bewegte sich sanft, knisternd sprangen Funken aus ihm hervor.


„Sie haben es geschafft!“, rief Xellox.

„Es war anstrengend“, sagte Chrochro, „ aber mit Ihrer und mit Herrn Kwangs Hilfe ist es gelungen. Früher hätte ich das nebenbei erledigt. Die Zeiten haben sich geändert.“

„Jetzt ist wieder gesund!“, rief Kwang erleichtert.

„Die Regierungen haben keinen Plan“, bemerkte Chrochro das Thema abrupt wechselnd.

„Regierungen haben nie einen Plan“, murmelte Xellox.

Kwang nickte. „Auf der Erde war es auch immer so.“

„Und ein falscher Weg, einmal eingeschlagen, wird immer weiter verfolgt“, sinnierte Chrochro. „Jetzt weiß ich wieder, was ich getan habe. Der Führer der größten Oppositionspartei Deutschlands liegt im Koma. Mein Werk. Somit, so dachte ich mir, könnte die deutsche Exilregierung länger an der Macht bleiben.“

Xellox schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Damit sie euch besser bekämpfen können?“

„Ich war immer gegen eine Einmischung in die Angelegenheiten der Erde. Es ist nie gut gegangen, wenn wir mit den besten Absichten etwas für sie tun wollten. Ich hatte nur scheinbar meine Meinung geändert, damit es nicht so aussehen würde, als gäbe ich den Enceladusanern nach. Wie dem auch sei, der Oppositionsführer musste kaltgestellt werden. Mit der alten Regierung an der Macht, die uns jagt, hat Enceladus einen taktischen Vorteil. Meine Tat sollte verhindern, dass unsere Auseinandersetzung weiter eskaliert. Gleichzeitig wollte ich damit meine diplomatische Verhandlungsbasis stärken.“

Xellox nickte. „Verstehe, aber egal, wer hier Vorteile bekommt, nichts wird die Sache besser machen. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation. Dazu kommt noch, dass diese Krankheit grassiert. Eure Fähigkeiten lassen nach. Eure Kinder, so hörte ich, können in der Schule nicht einmal mehr einfache Subraumdimensionen modellieren. Auch unsere Kräfte scheinen zu schrumpfen. Mag sein, dass euer direkter Kontakt zur Erde unser gemeinsames Bewusstseinsfeld geschwächt hat.“

„Und was bedeutet dieser Umstand?“, fragte Chrochro. „Vielleicht hat euer energetischer Kontakt mit den Seelen der Menschen uns alle mit irgendetwas infiziert.“

„Oder die Menschen haben damit nichts zu tun“, warf Kwang ein, „und ihr selbst habt euer Bewusstseinsfeld verseucht, beispielsweise durch Zwietracht und ...“

„Ja, eventuell durch diese Gedächtnismanipulationen. Das scheint ja bei euch auf Europa auszuufern“, sagte Xellox spitz und sah Chrochro vorwurfsvoll an.

„Oder jemand hat die Menschen mit zu viel Energie vollgepumpt und damit ein Ungleichgewicht heraufbeschworen, das uns langsam aber sicher ins Chaos führt“, giftete Chrochro.

Xellox atmete tief durch. „Es bringt uns nicht weiter, nach Schuld und Schuldigen zu suchen. Immerhin nähren sich die Menschen, die Europäer und auch wir Enceladusaner aus derselben Quelle. Es war gewiss ein Irrtum, dass wir nur für die jeweils eigene Welt nach Harmonie strebten. Unsere drei Welten sind miteinander verbunden, ja mehr noch, sie sind ein Ganzes. Gerät eine von ihnen aus der Bahn, verderben die anderen auch.“

Kwang fragte Xellox, wie das gemeint war, mit dem Verbundensein. Da erklärte ihm Xellox den Zusammenhang, dass es vor langer Zeit nur eine einzige Spezies gab, die sich aufgeteilt hatte und deren Nachkommen Enceladus, Europa und die Erde bewohnten.

„Das heißt, wir sind nicht verschieden?“, fragte Kwang.

Chrochro antwortete: „Im Prinzip nicht. Wir haben uns im Laufe der Zeit allerdings unterschiedlich entwickelt. So können die Menschen die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse errechnen, wir dagegen können bis zu einem gewissen Grad sehen, was in der in der Zukunft geschehen wird. Der Mensch genießt die Materie und wird von ihr zuweilen erdrückt; wir verändern die Struktur der Dinge. Der Mensch macht sich ein Bild von jemand anderen; wir dagegen fühlen seine Motive, da wir uns nicht von ihm getrennt erfahren. Wir fließen ineinander, während auf der Erde oftmals nur Ich, Ich, Ich gerufen wird. Dass die Enceladusaner die Energie auf allen Ebenen lenken können, dürfte kein Geheimnis mehr sein. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, die Erdbewohner seien eine minderwertige Lebensform, eine degenerierte, aber das täuscht. Sie haben das Potenzial, die Allwissenheit zu offenbaren, ja das Wissen zu sein. Diese Fähigkeit schlummert unerweckt in ihnen. Sie wird von den tierischen Instinkten unterdrückt, der alte Affe lebt noch immer in den Menschen. Zusätzlich kämpfen sie beständig gegen ihr animalisches Erbe, was wenig nützt, mehr schadet; somit bildet sich eine Mauer um das Allwissen..“

„Und diese Fähigkeit, die Information freizusetzen, dieses sogenannte Allwissen, die kann aktiviert werden?“, fragte Kwang.

Xellox nickte. „Ja, durch Vereinigung. Wir haben es kürzlich herausgefunden.“

„Vereinigung?“

„Wenn sie die Eigenschaften der anderen dazubekommen, offenbart sich das Allwissen von selbst. Das ist die Vollkommenheit.“

Kwang schaute verständnislos drein. „Die Eigenschaften der anderen?“

Chrochro erklärte: „Die Eigenschaften der Europäer und der Enceladusaner, übertragen mittels der üblichen Art der Infizierung. Eine Doppelinfizierung sozusagen. Das Ergebnis wäre ein Wesen, das wie ein Sender funktioniert. Statt Radiowellen aber Harmonie ausstrahlt. Die Folge wäre eine innige Verbindung zwischen uns allen, eine, die keine Konflikte mehr entstehen lassen könnte. Das hieße Frieden auf den drei Welten.“

Xellox stimmte zu. „Das wäre der Weg zur Einheit und zum Frieden“.

„Und es gäbe keinen Konflikt mehr, keine Kämpfe“, schlussfolgerte Kwang.

Xellox bejahte, gab aber zu bedenken, dass solche Ideen als Verrat galten.

„Auf den beiden Eismonden ist man dafür im Moment nicht zugänglich. Man befindet sich im Kampfmodus“, sagte Chrochro.

„Also lasst die Regierungen beiseite“, schoss es aus Kwang heraus. „Zuerst müsstet ihr doch nur Min-Jee vollständig machen, indem Chrochro sie infiziert, bevor seine Kraft dazu nicht mehr ausreicht. Min-Jee ist die Einzige mit der Energie der Enceladusaner infizierten, die einen Europäer in ihre Nähe lassen würde, da ich ihr die Sache erklären kann. Ich habe zu ihr Kontakt. Sie könnte der Auslöser sein für das Neue. Das erste Wesen mit der Essenz der drei Welten in sich“.

„Eine gute Idee“, sagte Xellox, „aber wird sie funktionieren? Wir haben uns gegenseitig geschwächt. Es liegt an dem tierischen Erbe der Menschen, an die Affenenergie, die zusammen mit ihrem Verstand eine unverträgliche Mischung ergibt. Das zieht die anderen Frequenzen runter. Dazu der Konflikt zwischen den Eismonden. Wärst du lebendig, könnten wir beide dich sofort infizieren, aber dir fehlt die Energie des Menschenkörpers, denn du bist nur ein Geist. Unsere Kraft schwindet rasch. Chrochro und ich, wir beide haben für unsere Ideale gekämpft, jeder für seine Seite. Nun spielt das für uns keine Rolle mehr. Wir haben nur noch die Wahl zwischen Untergang und Vereinigung.“


„Mir bleiben meine Träume“, sagte Alice, „aber Träume sind Schäume, meint man hierzulande. Möglicherweise sind Träume, aber auch Samen, die in der Zukunft aufplatzen und für neues Leben sorgen. Mir träumte von Philip und Min-Jee. Mit dem Menschenkörper kamen die Träume. Auf Europa träumt man nicht. Dort ist der Schlaf wie warmes Wasser, wie von Ferne ahnt man Gefühle, ganz wunderbare. Min-Jee ist fort. Ich habe mich über sie erkundigen wollen. In der Klinik wissen sie nicht, wo sie ist. Meine Träume sind mehr als Schaumgebilde. Es könnte sein, dass die Reste meiner einstigen Fähigkeiten, in die Zukunft zu sehen, sich im Schlaf zu Bildern formen. Für euch Infizierten sind das Rippen und das Sehen der Schicksalsfäden zusätzliche Eigenschaften, für uns sind sie unsere Natur. Ohne sie können wir auf Europa nicht überleben. Auch unsere Maschinen funktionieren nur im Zusammenspiel mit dem Rippen. Unsere Schulen bauen darauf auf, dass man Wissen direkt in den Geist der Kinder überträgt. Das alles wird nicht mehr funktionieren. Es ist so, als würdet ihr Menschen schlagartig erblinden oder taub werden. Wir werden uns auf Europa zurückziehen müssen, meditieren und die Schäden in unserem Bewusstseinsfeld flicken.“

„Die Infizierten werden ebenso immer schwächer“, sagte Karen. „Die Menschen drehen durch, als wollten sie den eigenen Untergang beschleunigen. Ich meine, es stimmt mit uns allen etwas nicht mehr.“

„Wahrscheinlich hast du recht, die Erde wird untergehen. Wir waren Götter und jetzt geht es abwärts mit uns. Und was passiert mit euch in solchen Zeiten, die ihr zur Hälfte Tier seid? Hier stehen von jeher Mord, Lüge und Gier auf der Tagesordnung. Das soll kein Vorwurf sein, aber so ist es doch“, sagte Alice und ließ kraftlos ihre Arme sinken.

„Wenn man sich die Geschichte der Erde ansieht, war es gewiss nicht nur so, dass euer Eingreifen, das freilich mit der besten Absicht geschah, rein zufällig schlechte Folgen zeigte. Vielleicht hatte Christian nicht unrecht. Es war oft von vornherein fragwürdig. Waren die alten Götter und Gottkönige nicht Tyrannen, denen es nach unserem Blut dürstete? Sklaven spielten wir in diesem Spiel. In eurem Spiel.“

Alice verschränkte die Hände wie zu einer frommen Geste. „Nun, die Verhältnisse waren anders“, begann sie, „ganz anders. Gewiss gab es Zeiten, in denen wir die Macht ergriffen und die Völker mit eiserner Rute lenkten. Ja, wir herrschten auch über Sklaven. Aber was will man uns vorwerfen? Hätten die Sklaven sich selbst als Herrscher über andere gesetzt, welch noch schlimmere Epochen wären daraus erwachsen? Ja, wir waren Götter und ihr brachtet Opfer. Ihr wolltet viel von uns. Wir gaben alles. Es ging nie ums Blut. Was sollte uns das tierisch verseuchte Menschenblut kümmern? Es ging um etwas Größeres, ums Opfer. Es geht immer ums Opfer, musst du wissen. Es ist ein Mysterium, das ausschaut wie Grausamkeit. Es ist eine Grausamkeit, die nichts anderes als Liebe ist. Immer wieder seid ihr in die Barbarei zurückgefallen, wir haben euch tausendmal wieder aufgefangen. Unsere Strenge, glaube mir, hat uns oft selbst geschmerzt, uns das Herz zerrissen. Wir sahen keine andere Wahl. Wir mussten euch vor eurer eigenen Natur retten, die immer wieder aus den Primatengenen böse hervorkroch. Ihr ward zwar Wilde, aber auch ihr hattet den Ursprung in euch, aus dem wir alle gekommen sind. Nicht nur gefürchtet wurden wir, sondern auch innig geliebt. Ihr hattet so ein zartes Gefühl für das Heilige in der Seele und den unbedingten Glauben der Kinder. Beladen mit eurer genetischen Ursünde kamt ihr zu uns, die Augen voller Tränen, die Hände mit Blut besudelt. Und unermüdlich wuschen wir eure Herzen rein, wieder und wieder. Wir waren eure wilden Götter, ebenso eure lieblichen Engel. Unsere Hände dienten euch als Schalen, aus denen ihr das Wasser des Lebens trinken konntet. Wir waren das Ziel eurer Gebete, ihr habt Lieder für uns komponiert, habt uns in Stein gemeißelt, uns zärtlich eure Hoffnung genannt, uns fromm ins Herz geschlossen. Kurz – wir waren eure große Liebe.“

„Und doch“, wandte Karen ein, „wollten wir ursprünglich in Ruhe gelassen werden. Das war vertraglich abgemacht.“

„Ja damals, ganz am Anfang, da hattet ihr genug Liebe, um euch zu lieben. Nach und nach seid ihr verwildert. Die Klarsicht höherer Lebensformen ging verloren, die Naivität der Tiere lag euch ebenso fern. Nach und nach hat der Hass eure Sinne vergiftet. Ihr wusstet nicht, woher ihr kamt und wer ihr ward, habt entwurzelt dahingelebt. Eure Wahnvorstellung, ein von allen Dingen getrenntes, unabhängiges Wesen zu sein, mischte sich unheilvoll mit dem tierischen Überlebenstrieb. Das Leben wurde zum Kampf. Und selbst das, was man Frieden nennt, ist hier nicht mehr, als ein Krieg, den man auf eine andere Ebene verschoben hat. Du weißt, was ich meine: ein Wirtschaftskrieg, ein Machtkrieg oder einfach nur ein Kampf um Anerkennung. Das alles ist weit weg vom wahren Frieden, den ihr vergessen habt.“

„Aber, ihr seid doch auch im Krieg, grade jetzt.“

„Unser kleiner Familienstreit ist tatsächlich etwas ausgeufert. Dennoch ist der wahre Frieden so tief, dass er die Verblendung mit einschließt.“

Karen holte tief Luft, bevor sie loslegte: „Der wahre Frieden – ha, das ist einer eurer Begriffe, die aber auch für alles herhalten müssen. Selbst eine Wahrheit kann zur Lüge oder zum Kalenderspruch werden! Mir scheint es eher so, als würden die Engel fallen.“

„Und du meinst gewiss, Engel fallen tief! Du magst recht haben und unsere Flügel sind gebrochen. In unserem Fall sind es vielmehr Flossen“, sagte Alice und lachte bitter. „Es kann sein, dass manche Engel sehr tief fallen müssen, damit andere in den Himmel kommen.“

„Redest du von dir?“

Alice zuckte mit den Schultern und schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Wir sollten uns ein Hotelzimmer nehmen. Christian darf uns nicht finden. Er war und ist ein Verräter. Er hat uns schon bei Min-Jee im Stich gelassen. Ich vermute, er kooperiert mit dem Feind.“


Der Himmel erdrückte die Stadt mit einem endlosen Grau. Alles wirkte wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Das Leben schien eine uninspirierte Kamerafahrt durch flüchtig platzierte Kulissen. Todessüchtig segelte Laub von Bäumen, die sich dürr einigen zerfetzten Wolken entgegenstreckten. „Ein paar der Infizierten meldeten, sie wäre in der Nähe“, sprach Alice monoton.

„Und was nun? Ein neuer Angriff?“, fragte Karen, die aufgeregt neben ihr herlief.

„Sie bemerkt es, wenn wir ihr zu nahe kommen, es sei denn, sie ist abgelenkt oder weit genug weg. Min-Jee ist das Tor, durch das Enceladus seine bösen Mächte schickt. Ohne sie wäre Frieden.“

Karen sagte: „Du scheinst selbst nicht bereit für den Frieden. Ich meine – du solltest an eine friedliche Lösung denken.“

„Sie ist da!“

„Wo?“

„Da hinten.“

Die Straße war menschenleer. Alice zog Karen hinter einen Baumstamm. „Da ist sie“, sagte sie und holte eine Pistole aus ihrer Handtasche.

„Was …“ Karen sprach nicht weiter, sie erstarrte.

Alice zielte. Min-Jee spazierte ein gutes Stück weiter auf der anderen Straßenseite entlang. Eine elegante Erscheinung, die mehr schwebte, als dass sie lief. Hörbar fiel der Schuss, nicht laut, wegen des Schalldämpfers, jedoch ging das Geräusch Karen bis in die Knochen. Zur Überraschung sackte Min-Jee nicht zu Boden. Unversehens war jemand aufgetaucht und hatte sich vor sie geworfen, als hätte er geahnt, was passieren würde. Alice senkte die Pistole. Ihr Gesicht war grau wie der Herbsthimmel. Ein Rabe quälte sich mit trägem Flügelschlag durch die klamme Luft.

„Das ist doch er – Philip!“, presste Karen hervor.

„Philip“, wiederholte Alice mechanisch, „Philip, Philphil“, als versuche sie, zu begreifen, was ihre Augen sahen.

„Was hast du getan? Du Wahnsinnige!“


Min-Jee schaute auf den Mann herab, der vor ihren Füßen zu Boden gegangen war. Er lächelte. Gewiss wusste er, dass er jetzt sterben würde.

„Wer du auch bist, warum auch immer du das getan hast: Es war das Richtige“, sprach sie und lächelte zurück, bevor sie weiterging, als wäre nichts geschehen.

Min-Jee musste den Mann vom Mond Europa treffen. Kwang hatte ihr gesagt, was sie zu tun hatte. Sie versuchte, die Orientierung zu behalten, indem sie die Gedanken an den Mann, der eben für sie gestorben war, beiseiteschob. Er hatte die Welt gerettet. Sie lebte und es würde sich alles glücklich fügen. Dann sah sie ihn, den Mann, den sie treffen wollte, der Christian hieß. Er blickte in ihre Richtung: Er hatte sie erkannt. Mit festen Schritten eilte Christian ihr entgegen, machte vor ihr halt und öffnete die Hände. In diesem Moment öffnete sich in Min-Jee eine neue Tür. Sie konnte erkennen, was dieser Europabewohner dachte. Er hoffte, dass er die Gabe, die ihm von Geburt an zur Verfügung stand, in dieses Wesen einpflanzen konnte, das ihn erwartungsvoll anschaute. Also in ihr. Er wusste, seine Kraft ging langsam zu Ende. Es fühlte sich an wie ein inneres Sterben, ein Abgleiten in das Land des Zweifels und der Armseligkeit. Wenn er geben wollte, was er noch zu geben hatte, musste er alles, was er an Kraft in sich entdecken konnte, zu einem Punkt zusammenpressen, musste aufhören, den Gedanken zu folgen, die ihm von Versagen und Ähnliches plapperten, musste vertrauensvoll in die eigene Mitte hineinfallen. Es war soweit, jedes Wollen und Nichtwollen, jedes Ja und Nein und alles, was sich in ihm regte, wollte hingegeben werden an den Augenblick. Er war schon oft diesen Tod gestorben, bei den Festen auf Europa, wenn das kollektive Bewusstsein zum Zentrum des Universums flog, wo die große Gnade wohnte, wo der Raum sich nach innen bog und man ganz schwach und unendlich stark zugleich wurde. Er schloss die Augen und spüre das Herz von allem. Es war real, sehr real, auch unfassbar und flüchtig, es war alles, konnte im nächsten Moment aber auch weniger als nichts werden. Und diese Summe der unbegreiflichen Grenzenlosigkeit, die nichts anderes war als Bewusstsein, floss in Min-Jee hinein und schlug in ihr Wurzeln. Die Seelenkräfte der Bewohner Europas vermengten sich in ihr mit den energetischen Kräften von Enceladus und mit den Trieben der Menschen. Es wurde vereint, was sich einst getrennt hatte. Obendrein entstand dabei etwas Neues. Min-Jee atmete heftig, ihre Augen sahen alles und blickten gleichzeitig durch alles hindurch.

Christian, kurz weggetreten, öffnete seine Augen. „Ich spüre die drei Kräfte in mir, die ursprünglichen Qualitäten, wie damals, als wir noch eines waren, vor Jahrtausenden. Aber da fließt noch etwas im Blut dieses Körpers, etwas Wildes!“

„Nimm es, wie es ist“, riet ihm Min-Jee, „es ist das tierische Erbe der Menschen. Es ist nicht gefährlich, wenn es sich im Gleichgewicht mit den andren Kräften befindet.“ Sie wusste nicht, wie es kam, dass sie so bestimmt reden konnte. Es hatte sich ein Wissen in ihr ausgebreitet, das in ihrem Herzen ruhte wie eine leere Kugel. Tippte sie diese Kugel innerlich an, fielen die Sätze einfach aus ihr heraus. Sie erkannte, wie Christian bemerkte, dass es lächerlich war, von den Überlebenstrieben verwirrt zu werden, jetzt, wo sich die Allwissenheit in ihm breitmachte. Ihm wurde klar, dass für alle denkenden Wesen eine neue Ebene der Existenz entstehen würde.

„Wir gehören zu den ersten, die vollständig geworden sind“, sagte Min-Jee, „vollständig in dem Sinne, dass die anderen von einem Punkt zum anderen gehen, wir aber an allen möglichen Punkten existieren. Jetzt ist immer und hier ist überall. Das Allwissen bedeutet, es gibt nur Antworten. Jeder Schritt, den wir tun, ist ein Erreichen des Ziels. Finden ist vom Suchen nicht getrennt. Und bald sind wir viele. Die Völker werden geheilt. Nun gehe ich. Ich habe etwas in einem Krankenhaus zu tun.“

„Ich auch, ich muss auch in ein Krankenhaus. Ich habe einen Politiker ins Koma versetzt“ , flüsterte Christian.


Als Min-Jee sich auf die Bettkante setzte, starrte Andy sie an. Er spürte Angst, Überraschung und einen Vorwurf ihr gegenüber. Gleichsam fühlte Schuld, denn er hatte sie verraten, angegriffen. Sie schaute ihn an. Er versank in ihrem Blick. Ihre Augen wurden zu Seen, zu Ozeanen, in denen unzählige Farben wie Fischschwärme tanzten. Unter dem Flimmern von Rot, Grün und Violett ruhte eine klare Tiefe. Er sank tiefer, fand keinen Grund mehr unter sich. Bald begriff er: Das Wasser war längst zum Himmel geworden. Sterne glühten in der Finsternis. Wirbelnde Galaxien, Tausende von ihnen, malten immer neue Muster vor seinen Augen, Spiralen, Kreise, taumelnde Ellipsen. Sonnen sah er, sie rollten gewaltig durch verschiedene Himmel, beschienen Landschaften, steinig und bizarr wie die Gerippe urtümlicher Echsen, oder sie legten sanftes Licht über Gärten aus verflochtenen Kristallgirlanden. Er sah tausend Sonnen, die zu Blumen verschmolzen. Mädchen pflückten sie geschwind von einer Frühlingswiese, steckten sie sich ins Haar, ins windgepeischte Mädchenhaar, dabei lachten sie, als hingen Glöckchen in ihren Hälsen. Die Meere schrumpften zu Tränen und kullerten unversehens aus Kinderaugen. Bilder zogen an ihm vorbei, Bilder aus anderen Zeiten, von fernen Orten, Bilder aus seiner Erinnerung und solche, die er nie zuvor gesehen hatte. Hinter dieser Flut von Eindrücken trat eine einzelne Gestalt immer deutlicher hervor: Er erkannte Min-Jee! Sie stand, die Arme ausgestreckt wie zum Fluge, vor dem Herzen der Welt, das seinen ewigen Takt trommelte. Über ihr waberte eine Wolke gleißenden Lichtes, angefüllt mit Schmerz und Erlösung. Alle Dinge, die in den Kegel dieses Lichtes gerieten, zerfielen, zerflossen zu einem Meer aus schillernden Wellen. Min-Jee wurde zu einem Clown, zu einem Engel, der seine Flügel weit über die Welten spannte. „Bis heute“, so sprach ihr Mund, der wie ein Feuer leuchtete, mit unzähligen Stimmen gleichzeitig, „bist du etwas Zerrissenes gewesen. Jetzt sollst du ganz werden.“

Sie legte ihre Hände auf seinen Kopf. Er spürte seine Beine wieder. Alles, was soeben noch voller Schmerzen gewesen war, fühlte sich nun gut an. Und auch bemerkte er, wie sich etwas veränderte, etwas Grundlegendes. Er wusste nicht, was es war, und würde, das ahnte er, auch wenn er es wüsste, keine Worte dafür finden. Lange starrte er vor sich hin, konnte nicht begreifen, was vorgegangen war.


Der Mercedes fuhr bis auf dem Gehweg, dort bremste abrupt. Ein Mann riss die Hintertür auf. „Rasch, rasch“, rief er und fuchtelte mit den Händen herum, „Rat Zarzar will Sie sprechen. Er befindet sich auf Europa. Eine Sache von höchster Wichtigkeit!“

Karen stieg in den Wagen. Der Fahrer gab Vollgas.


In dem Zimmer, in das man sie nach einer rasanten Fahrt brachte, befand sich ein pompöser Tisch aus teuer aussehenden Holz gefertigt. Darauf stand ein Monitor. Einer von den beiden Männern im Raum zeigte auf das Gerät: „Direkte Verbindung zu Rat Zarzar!“

Man bat Karen, sich vor dem Monitor zu setzen, auf dem sogleich Rat Zarzar erschien. Zumindest vermutete sie das. Er zeigte sich dieses Mal in seiner ursprünglichen Form, als Bewohner der Wasserwelt Europas. Er ruderte aufgeregt mit seinen Flossen. Es war eine Direktverbindung. Sie hörte seine Gedanken, die übersetzt aus einem Lautsprecher schallten. „Ich grüße Sie. Leider muss ich Sie in einer unangenehmen Angelegenheit sprechen. Es ist eine fatale Sache, oder vielmehr eine Katastrophe. Wir haben es erst bemerkt, als es schon da war. Es kam von oben, von der Oberfläche. Jetzt rast es auf uns zu. Es schwimmt sozusagen irgendwo über mir. Unsere Roboter filmen es. Es ist ein Flugkörper mit Taucheigenschaften, wir haben einen Schriftzug darauf entdeckt, in lateinischen Buchstaben: Pandora. Auf ihrem Planeten ist das eine Figur aus einem Mythos, wie sie wahrscheinlich wissen, eine, die Unheil bringt. Wir sind darüber unterrichtet, dass es auf der Erde ein Projekt Pandora gab. Meinen Informationen zufolge haben Sie daran mitgearbeitet.“

„Pandora? Ja, ich war daran beeidigt gewesen. Als ich das Institut verlassen habe, nahm ich an, es würde noch Jahre dauern …“

„Das dachten wir auch“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher, „aber die Arbeit an dem Projekt wurde wohl beschleunigt. Das Einzige, was uns im Moment interessiert, ist, wie wir das Ding stoppen können.“

„Die Atomsprengköpfe der Rakete zünden nach einer voreingestellten Zeit automatisch. Man müsste den Sprengkörper sehr schnell auseinanderbauen, auseinanderrippen, oder ihn schnellstmöglich umlenken.“

Die simulierte Stimme des Rates klang verzweifelt. „Rippen wäre gut. Wenn es noch richtig funktionieren würde. Seit wir diese Krankheit haben, Sie haben das ja mitbekommen, ist unser Gedächtnis nicht mehr das Beste. Vom Rippen ist gar nicht zu reden. Es rast auf unsere Hauptstadt zu, nicht irgendwann, es passiert jetzt, während ich mit ihnen spreche.“

„Hat sich der Torpedo schon geteilt?“

„Wie? Er teilt sich auch noch?“

„Er viertelt sich. Vier Sprengköpfe, die in verschiedene Richtungen auseinanderschwärmen. An dem Punkt wird man kaum noch etwas tun können. Eigentlich …“

„Es ist zu spät“, unterbrach Rat Zarzar. „Pandora hat sich geteilt. Die Kiste des Schreckens ist geöffnet. Das Unheil kommt über unsere Welt. Ich sehe auf einem zweiten Monitor die Übertragung. Unsere Roboter filmen alles, wie ich schon sagte. Vier Sprengköpfe. Leben Sie wohl!“

Das Bild von Rat Zarzar verschwand. Karen starrte noch eine Weile auf den Bildschirm. Er blieb schwarz.

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