26
Das Dach der Halle wurde von nur wenigen Säulen getragen. Allein sie, die Kinder Europas, konnten zu jener Zeit Derartiges bauen. Eines Tages würden sie das alles vernichten, ihre Spuren tilgen. Dann könnten die Menschen ihren eigenen Weg gehen, ohne bei der Hand gehalten und geführt zu werden. Sie schürzte das Gewand und betrachtete ihre Beine. „Ob ich mich je daran gewöhne“, seufzte sie, „an dieses ständige Balancieren auf zwei Stangen aus Knochen, Muskeln und Haut? Ich will meine Flossen wiederhaben! Warum hat man keine Unterwasserstation gebaut?“
Philphil sah sie an. „Irgendwann gewöhnt man sich an diese Beine. Eines Tages bauen sie bestimmt eine Station auf dem Meeresgrund. Momentan sollten wir uns möglichst oft sehen lassen. Die Menschen bedürfen der Führung.“
„Ja gewiss, sie brauchen ihre Götter, ihre Gottkönige und all die übernatürlichen Wesen und – ganz modern – einen Gott, einen Vater aller Dinge.“ Übermütig streckte sie ihre Arme nach oben und drehte sich. „Ich bin eine Naturgewalt!“
„Bald schaffen sie es alleine, dann können wir uns zurückziehen.“
„Wir wären schon längst weg, wenn diese Ersten …“
„Und die auf Enceladus sehen das überhaupt nicht gerne. Sie meinen, wir hätten die Verträge gebrochen.“
„Ach, diese alten Verträge … Außerdem mussten wir doch ...“
„Natürlich Alal, nachdem uns die Sache mit den Ersten entglitten ist, versuchen wir, den Schaden zu begrenzen.“
Sie schritt zum Thorn und setzte sich. Sie gähnte. Das liebte sie, auf Europa war Gähnen unbekannt. „Ich bin froh, dass ich keine wirkliche Königin bin und dass der Rat auf Europa entscheidet.“
„Obwohl viele Mitglieder des Rates noch nie auf der Erde waren, treffen sie Entscheidungen. Sie wissen nicht, wie es hier wirklich zugeht.“
Eine Wache trat ein, grüßte förmlich und meldete Besuch an: den ersten Priester.
„Soll hereinkommen. Die Wache kann draußen bleiben!“, befahl sie mit klarer Stimme.
Die Wache zog sich zurück, der Priester kam angeschlichen und verbeugte sich übertrieben. „Hochlöbliche Sonne, die die Nacht vertreibt, klarer Quell, der uns labet, du Blume, die in der Wüste blüht, Herrscherin über die Sterblichen. Mein Haupt neigt sich vor eurem Glanze!“
„Diese Begrüßung ist weder aufrichtig unterwürfig, noch kleidet sie einem Priester. Sie trägt vielmehr einen recht anmaßenden, ja ich möchte sagen, kecken Ton in sich, ebenso verbitte ich mir den Klang der Ironie, der diese Grußworte misstönig begleitet. Allzu leichtfüßig ist die Grenze von der Heuchelei zur Blasphemie überschritten. Warnten euch nicht die heiligen Schriften davor?“
Halb springend, halb tänzelnd hüpfte der Priester bis an den Thron heran. „Gewiss, Überheblichkeit ist eine Sünde, die nicht geduldet werden darf. Da ich der erste Priester bin, kann ich allerdings nicht blasphemisch sein. Blasphemie ist es, mir zu widersprechen. Ich rede hier, wie sich versteht, vom Volk, ihr seid eine Göttin, Widerrede ist euer Recht. Ansonsten muss hart durchgegriffen werden, niemand darf unsere Autorität anzweifeln“, sprach der Priester mit geschwollenem Pathos und tätschelte ihr den Kopf.
„Reiß dich zusammen! Du bist albern. Wenn die Wache uns belauscht!“
„So ist er eben unser guter Chrochro“, sagte Philphil.
„Nun, die Wache steht gewiss auf ihrem Posten und Diener sind nicht zugegen. Sie würden auch nichts verstehen, da wir in der Sprache der Götter reden“, rechtfertigte sich Chrochro. „Riecht übrigens gut hier. Besser als im öffentlichen Tempel drüben. Was ist das? Myrrhe, Olibanum und …?“
„Wir geben Styrax hinzu. Und einen Hauch Sandelholz. Wolltest du nur mal so vorbeischauen, oder gibt es einen Grund für dein Erscheinen?“
„Sagt mal, warum habt ihr hier keine Bank?“
„Man steht oder kniet vor mir. Ich bin ein höheres Wesen!“
„Für die ja, aber doch nicht für uns“, motzte Chrochro.
„Wir spielen alle unsere Rollen. Irgendwann wird die Theokratie abgeschafft werden, dann kommen die Imperatoren, die Demokraten und so weiter“, mischte sich Philphil ein.
Sie fixierte Chrochro. „Wir passen uns ihrer jeweiligen Entwicklung an. Wachstum braucht Zeit und tut manches Mal weh. Wir spielen unsere Rollen für sie. Sie sind wir. Ich liebe sie alle, sie haben sich nur verlaufen.“
„Entschuldige, ich bin mit meinen Späßen ein wenig zu weit gegangen.“
„Schon gut. Du bist gewiss nicht nur zum Plaudern hier, oder?“
„Leider nicht. Botschaft von den obersten Göttern!“
„Ich ahnte es. Wenn der Rat von Europa sich meldet, handelt es sich um eine ernste Angelegenheit.“
„Haltet euch fest: Die Sklaverei wird abgeschafft!“
„Was, die Sklaverei?“, fragte Philphil. „Es ist doch alles unter Kontrolle.“
Chrochro fuchtelte mit seinen Armen herum. „Leider nicht. Etwas ist schiefgelaufen. Die Ersten weiterhin in der Nähe der Menschen zu lassen, wäre zu gefährlich. Manche Sklaven sind schon aufgestiegen und herrschen selbst über Sklaven. Bald werden sie ihre Ketten zerreißen.“
„Man hätte sie integrieren sollen“, meinte sie.
„Das ging einfach nicht Alal, sie sind zu verschieden, zu unkontrolliert“, sagte Chrochro. „Ihr einziger Nutzen war es, als Sklaven zu dienen. Das war ihre Existenzberechtigung. So hatte man sie bisher halbwegs unter Kontrolle. Sie üben schlechten Einfluss auf die Menschen aus. Viele lassen sich anstecken und verwirren. Neid und Hass wachsen unter den Ersten. Sie werden gefährlich. Das könnte die gesamte menschliche Zivilisation wegfegen. Unsere Aufgabe ist es, laut Anweisung des Rates, dafür zu sorgen, dass die Ersten verschwinden. Passt dieses einigen Menschen nicht, soll mit Strafe nicht gespart werden. Aufstände sind zu vermeiden. Um die Massen zu beruhigen, soll Milde in anderen Bereichen walten. Gewisse Freizügigkeiten können toleriert sind tolerierbar, sofern sie die Ordnung nicht gefährden..“
„Manches Mal hasse ich diesen Job“, sagte sie. Sie war eine Königin ohne Macht, eine Göttin ohne Himmel. Sie war nichts, ein Nichts, das man aus dem Wasser gezogen und an Land geworfen hatte, ein Ding mit zwei Beinen, eine Marionette in den Händen des Rates. Sie erschrak über sich selbst. Hatte sie etwa Zweifel? Wie konnte sie sich anmaßen, es besser wissen zu wollen als der Rat? Der Rat verfügte über eine Weisheit, die ihr fehlte, er sah, wie die Schicksalsfäden sich in ferner Zukunft verweben würden. Sie musste sich beugen, demütig neigen, selbst wenn alles in ihr sich dagegen regte. Es war dieser Planet, der die Zweifel in die Seele brachte, der verwirrte und irgendwann jeden irremachte.
Chrochro nickte verständnisvoll. „Gewiss, wir alle wären lieber auf Europa, würden gern durch das kühle Wasser der Heimat gleiten, uns an den Lichtern der Städte und am Farbenspiel der Quallen erfreuen. Aber uns fällt die Aufgabe zu, hier alles zu ordnen.“
Sie nickte zögerlich, fragte sich, ob es richtig gewesen war, dass man die Ersten versklavte. Der Rat auf Europa hatte es allerdings so entschieden – und der irrte nie. Gewiss hatte man die Linien des Schicksals sorgsam studiert, bevor man seine Schlüsse zog. „Die Sklaven haben wichtige Arbeit verrichtet, sie haben Steine geschleppt, Städte gebaut, mühsam Quader auf Quader gesetzt, bis die Pyramiden ihre mächtigen Schatten über den Wüstensand wandern lassen konnten“, warf sie ein.
„Andererseits kann man zurzeit durchaus auf sie verzichten“,sagte Philphil.
Chrochro nickte. „Die Menschen vermehren sich recht brav. Es wachsen genügend Arbeiter nach, auch Sklaven ...“
„Eine Welt ohne Sklaven wäre schön!“
„Du hast ein großes Herz Alal“, sagte Chrochro. „Das wäre gewiss schön. Es wird auch so kommen. Nur nicht jetzt. Es entspricht nicht der Entwicklung der Menschen.“
„Chrochro hat recht“, sagte Philphil, „alle Zivilisationen sind diesen Weg gegangen, haben sich unter Schmerzen aus stinkendem Schlamm erhoben, bis sie sich zur vollen Größe aufrichten konnten. Am Ende steht die Erkenntnis des Lichtes der Einheit. Dazu aber müssen sie überleben, es wäre darum nicht gut, die Menschen zu verweichlichen. Stolze Welten werden aus Blut geboren, sie schöpfen ihre Weisheit aus dem Schmerz.“
Sie, die Gottkönigin, rief mit zwischen Stärke und Verzweiflung schwankender Stimme: „Ich weiß immer noch nichts! Warum, weshalb, was ist der Grund? Die Menschen haben bisher die Ersten als Sklaven gehalten und die Kontrolle über sie gehabt. Es war alles in Ordnung. Auch besteht keine Gefahr, dass sie sich kreuzen. Die Ersten werden von uns sterilisiert, sobald wir sie anliefern.“
„Das ist der Punkt. Es sind zu viele. Die Situation wird unübersichtlich. Man will nichts riskieren“, sagte Chrochro.
„Es hat also Fälle von ...“
„Genetischer Vermischung gegeben. Genau.“
„Wie konnte das passieren Chrochro?“
„Keine Ahnung. Eine ganze Stadt wimmelt von denen. Mischlinge eben. Es wurde möglicherweise gepfuscht beim Sterilisieren, oder es konnten einige entkommen. Sind ja recht flink die Dinger. Lange haben wir die Stadt nicht bemerkt. Sie hat sich einfach entwickelt, ohne unser Eingreifen. Sie haben durchaus Beachtliches geleistet. Oberflächlich besehen. Aber es ist eine Welt des äußeren Glanzes und der inneren Fäulnis.“
Sie fasste zusammen: „Sie vermischen sich und bauen ohne unser Wissen eine ganze Stadt. Warum lässt man sie denn nicht? Sollen sie sich vermehren und Städte gründen.“
Philphil meine, dass der Rat das kaum zulassen würde.
Chrochro nickte. „So ist es. Es kann nicht funktionieren, nicht auf Dauer. Die aggressiven Triebe der Ersten werden immer wieder durchbrechen. Bis jetzt haben sie gute Dienste geleistet. Sie beseitigten die Konkurrenten der Menschen, sie waren brauchbare Sklaven, aber sie sind aufrührerisch. Sie achten uns nicht, sie fürchten uns nur. Sie haben kein Bedürfnis nach dem Heiligen. Sie leben in einer Welt in der Egoismus und Gier herrschen. Wenn sie sich mit Menschen zusammentun, dann zum eigenen Vorteil. Zu allem Überfluss ist auch noch diese verdammte Intelligenz in ihre Köpfe gekommen. Das war nicht geplant. Man rätselt, wie sie sich so rasch entwickeln konnten. Wie dem auch sei, irgendwann würden die Ersten gegen uns hetzen und die Ordnung der Menschen auflösen, bis alles im Chaos versinkt.“
„Aber die fleischliche Vermischung mit den Menschen könnte einiges abmildern“, gab sie zu bedenken.
Chrochro sagte: „Wenn man schmutziges Wasser mit sauberen mischt, wird das schmutzige ein wenig reiner, aber das saubere ist dann trübe. Alle Erfolge der Menschheit ständen auf dem Spiel. Aber so weit wird es nicht kommen. Tatsache ist, die Menschheit kann nur ohne die Ersten überleben. Wir müssen handeln, wenn wir Untergang und Anarchie verhindern wollen! Die Sklaven und unsere Zuchtreservate bereiten mir keine Sorge. Allerdings müssen wir eine ganze Stadt loswerden, auch die Dörfer ringsherum. Niemand darf überleben.“
„Und es gibt keinen anderen Weg?“
„Nein Alal, nicht nur ich habe darüber nachgedacht, auch der Rat auf Europa, die Weisen, die Bürger, alle. Nur diese Lösung verspricht Erfolg. So können die Menschen eine Zukunft haben. Es werden einige Leben geopfert, damit tausend Generationen leben können.“
Alal fühlte sich unbehaglich. Sie wollte nicht als Schlächterin in künftigen Geschichtsbüchern verewigt werden.
Chrochro fuhr fort: „Es werden Aufstände kommen, kleine Aufstände, dafür sorge ich persönlich. Das wird später den Verlust der Sklaven rechtfertigen.“
„Und diese Stadt voller Mischlinge, wer soll sich um die kümmern? Ich etwa?“
„Keine Sorge Alice. Das wird schon erledigt. Eine Flut.“
„Zumindest haben wir damit nichts direkt zu tun“, sagte Philip.
„Doch“, widersprach Chrochro, der über die neusten Informationen des Rates verfügte, „wir müssen zuvor kurz noch diese Stadt aufsuchen.“
„Und was sollen wir dort?“, fragte sie ungehalten.
„Man meint wohl, wir sind die Besten, die drei Spitzenleute sozusagen. Wir sollen die Botschaft überbringen.“
„Botschaft?“
Chrochro erläuterte: „Es gibt in dieser Stadt auch genetisch reine Menschen. Man möchte, dass wir sie warnen, damit sie rechtzeitig fliehen können. Es leben dort Leute, die an den Monotheismus glauben. Wir kommen als Engel, fordern sie auf, ihre Heimat zu verlassen, sagen ihnen, was sie weiterhin zu tun haben.“
Sie fühlte sich mehr als schlecht. Sie sollte ein rettender Engel sein – für einige, vermutlich für recht wenige; der Rest durfte absaufen wie Vieh! Tausend Gedanken, tausend Träume waren dazu bestimmt, von den Fluten weggespült zu werden! Innerlich griff sie in nach den Fäden des Schicksals. Sie sah sich schon jetzt, wie sie verschleiert durch die Gassen huschte, Blicken auswich, welche die künftigen Opfer ihr zuwarfen. Opfer, die noch nicht wussten, dass sie als solche auserwählt waren und ihrem Schicksal nicht entkommen konnten. Höhere Wesen, wie sie eines war, hatten ihnen diese Rolle aufgedrängt. Die Unreinen mussten ausgemerzt werden. Es würde nicht persönlich gemeint sein. Ein chirurgischer Schnitt, der anderen eine Jahrtausende lange Entwicklung verspräche. Wieso gelang es ihr nicht, ihnen in die Augen zu blicken? Immerhin war sie ein Engel, eine Göttin, eine Königin, ja mehr noch: Sie konnte schneller schwimmen als die Delfine, sie kam vom Mond Europa, sie konnte in das Geflecht des Schicksals hineinspähen, konnte das Herz der Welt fühlen, sie brannte wie ein Stern, war eine Seele aus Licht, frei von tierischen Instinkten. Sie, diese anderen da, diese Kreaturen, sie müssten sich wegdrehen, sich ducken und die Augen verbergen vor dem Antlitz eines Engels, der, wenn auch nicht so leichtfüßig wie sonst, an ihnen vorbeischwebte. Sie wusste, was sich in ihr regte, sie schwer werden ließ: das seltene Gefühl der Schuld. Aber sie war nicht schuldig! Sie tat das, was der Rat entschieden hatte. Die Beschlüsse des Rates waren frei von Boshaftigkeit, entsprangen nicht der Machtgier oder der Rache, sie dienten der Zukunft der Menschheit.
Sie riss sich zusammen, ließ sich in eine innere Weite fallen, die alle Schwere nahm, erhob ihr Haupt und trat in eine karge Unterkunft ein. Am Tisch hockte ein Mann, faltig und zahnlos, er fixierte sie aus seinen Augenschlitzen. Er dachte, was wagt sich diese Magd, so frech hier einzudringen! Sie spürte seine Gedanken wie Nadeln. Mit einem Griff warf sie die Kapuze zurück und öffnete ihr Herz; ihre Augen glühten – heißes Metall im Schmiedefeuer. Alle Gedanken waren fort, sie verschmolz mit einer namenlosen Weite. Zart berührte sie die Seele des Alten. Sie heilte darin sämtliche Wunden. Das Unendliche eint, was das Begrenzte entzweit. Der Mann zitterte. Sie sprach: „Fürchte dich nicht, ich bin ein Engel ...“, beinahe hätte sie – des Rates – gesagt, „des Herrn“, korrigierte sie rechtzeitig. „Höre, was dir aufgetragen wird: Nimm die Deinen, bündele deine Habe und ziehe fort, noch an diesem Tage. Der Herr wird eine Flut schicken, womit die Welt reingewaschen wird. An dir aber wurde kein Makel gefunden, darum sollst du errettet sein!“ Sie drehte sich um und ging zur Tür hinaus, hinein in die Nacht.
„Ja, so soll es sein“, sagte sie zu Philphil und Chrochro, „ich habe es soeben in den Linien des Schicksals gesehen. Das gute Fleisch wird gerettet, das verdorbene aber muss in den Fluten verrotten, damit das, was rein ist, rein bleibt.“
„So wird es sein“, bestätigte Chrochro. „Nun müssen wir das Volk sich versammeln lassen und ihm und den Sklavenwächtern sagen, dass man die Sklaven zusammentreiben und aus der Stadt bringen soll.“
„Wolltest du nicht zuvor für ein paar Unruhen bei den Sklaven sorgen?“
„Inzwischen kam mir ein besserer Plan in den Sinn. Es reicht, wenn behauptet wird, es habe Unruhen gegeben.“
„Du scheinst ja einiges bei den Menschen über Politik gelernt zu haben“, bemerkte Philphil.
„Wir passen uns an.“
Die Alal von damals blickte nach innen und sah, wie die nahe Zukunft sich abspielen sollte: Sie stand auf der Tribüne, neben ihr die Wache, kräftige Kerle, bereit ihr Leben für sie zu opfern. Schweres Geschmeide hatten ihr die Dienerinnen angelegt, Gold, Silber, Edelsteine prangten üppig an ihrem Hals, umkränzen das Haar, das ihr in dunklen Wellen über die Schultern strömte. Sie breitete die Arme aus, das Volk jubelte seiner Gottkönigin zu. Schön war sie, sagten sie sich, strahlend, geboren im Himmel, herabgestiegen zu den Sterblichen, um sie mit Weisheit zu führen. Ihre gefärbten Lippen würden sich tiefrot öffnen und an eine sterbende Abendsonne erinnern. Sie hörte ihre eigene Stimme wie von Zauberkunst verstärkt den ganzen Platz ausfüllen. „Geliebtes Volk, mein Alles, es wird uns wehtun und unsere Herzen schwer machen. Ich stehe hier vor euch und es fällt mir nicht leicht, aber wir müssen uns von den Sklaven trennen ...“
„So war das, Karen. Es wurde verkündet, die Sklaven müssten das Land verlassen“, sagte Alice.
„Kam dann das, was ich denke?“
Alice nickte.
„Sozusagen Massenmord!“
„So traurig es klingen mag, es war der rettende chirurgische Schnitt. So konnte die Menschheit überleben. Wir töteten die Sklaven. Nahe der Stadt, in der sich die Ersten mit den Menschen vermischt hatten, lösten wir ein Seebeben aus. Alle sind ertrunken. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt.“
„Die Geschichte habe ich schon einmal gehört. Dort hat man es Sintflut genannt.“
„Unsere Handlungen auf der Erde haben Spuren hinterlassen, Sagen, Legenden. Einige wurden von uns verbreitet, andere von den Menschen ins Leben gerufen. Für Verzerrungen, die im Laufe der Zeit vieles verfälscht haben, können wir nichts. Ich weiß, du sprichst von Noah, ein Mann, den ich gewarnt hatte, bevor die Flut kam. Die Arche mit den Tieren sollte lediglich bedeuten, dass alles Leben ab nun wieder eine Chance hatte. Natürlich nur menschliches Leben.“
Karen sprach: „Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten. So heißt es in der Bibel. Man sollte die Stelle korrigieren: Die Geschöpfe der Europäer vermischten sich mit den Menschen. Wobei die Menschen ja auch Europäer waren, nur degenerierte. Und die gefallenen Engel, samt ihrer Mischlingsbrut, alle weg, ausgerottet!“
„Weg – kann man nicht sagen. Ihre Seelen leben noch.“
„Und sie kommen wieder auf die Erde.“
„Die Sache war so“, erklärte Alice, „wir konnten die Seelen der Ersten zu einem Planeten im energetischen Universum lenken. Ich rede von dem Ort, den die meisten nach ihrem Ableben betreten. Dieser Planet liegt im Gebiet der Enceladusaner. Sie halfen uns und haben ihn mit einem Energiegürtel abgeriegelt. Somit waren die Ersten an ein begrenztes Gebiet gefesselt. Bald darauf brachen die Beziehungen zwischen uns und Enceladus ab. Offenbar hat sich Jahrtausende niemand mehr für das Schicksal dieser Seelen interessiert. Und niemand weiß so genau, wie sie es geschafft haben, in die Körper der Menschen einzudringen. Trotz der energetischen Abriegelung ihres Planeten haben sie einen Weg gefunden, mit dem Netz, das alles miteinander verbindet, Kontakt aufzunehmen. Wir konnten nicht ahnen, dass sie sich soweit entwickeln würden. Irgendetwas muss passiert sein, hat sie stärker werden lassen.“
„Ich verstehe“, sagte Karen, „ nicht das pure Chaos hat sich in der Stadt und im Land breitgemacht, sondern es wird ein Plan ausgeführt. Ein Racheplan. Weil sie als Sklaven dienen mussten, hassen die Ersten die Menschen; mehr noch aber, verabscheuten sie die Bewohner Europas. Der verspätete Aufstand der Unterdrückten bedroht nun die Erde. Die Toten sind auferstanden, die Sklaven zerreißen ihre Ketten und zahlen ihren Peinigern heim, was diese ihnen zugefügt haben. Ich weiß nicht, wer die eigentlichen Bestien sind. Auf einmal fallen die Götter von den Podesten.“
Blechdosen rollten über die Straßen, zerknüllte Zeitungen flatterten wie flügellahme Tauben über die Gehwege, dürre Birken am Straßenrand zitterten mit den Ästen. Die mondlose Nacht hatte beinahe alles Licht aufgefressen. Hie und da glimmte kraftlos eine Laterne, nicht fähig, ein Ding in dieser erdrückenden Finsternis zu erhellen. Wer aus dieser Gegend nicht geflüchtet war, verbarrikadierte sich in der Wohnung und hoffte wider aller Vernunft auf eine bessere Welt.
Das Licht der Scheinwerfer durchschnitt die Dunkelheit. Schatten huschten als bizarre Scherenschnitte an den Häuserwänden entlang. Von irgendwoher schrie jemand oder etwas, dann ertönte ein Heulen wie von Wölfen, das bald in ein seltsames Jammern umschlug und als Meckern endete. Min-Jee wusste: Sie waren hier, da draußen in verlassenen Häusern, in den Garagen, jagten Katzen und brachen ihnen die Knochen, bissen ihnen genussvoll ins Fleisch, tanzten wild, rasend, immer im Kreise, verrenkten ihre Glieder, schnitten Grimassen, wackelten mit den Hüften, verdrehten in düsterer Ekstase die Augen. Dann wurden sie leiser, wurden zu Schatten, schwärzer als die Nacht, wurden zum Rascheln der Blätter, jammerten wie der Wind. Sie lauerten auf ein Opfer. Die Zähne wuchsen, die kräftigen Körper beugten sich äffisch. Sie warfen die letzten Reste von Geist und Zivilisation ab. Entsetzlich klang ihr Jaulen. Befreit von der Last der Vernunft folgten sie ihren Instinkten.
Min-Jee wollte sie sehen, ihnen ins Gesicht blicken. Wollte begreifen. Im Wagen war sie sicher. Und sie war Min-Jee. Eine Min-Jee konnte auf sich selbst aufpassen! Stille – nur der Elektromotor summte. Die Ortschaft war leer gefegt, nirgendwo eine Menschenseele. Etwas Seltsames lag in der Luft, ein Friede, der auf Anhieb als trügerisch zu erkennen war, der nach Tod und Verderben roch. War dort etwas gewesen? Sie hielt an. Da war doch was! Vorsichtig kurbelte sie die Seitenscheibe herunter. Eine Stimme, eine menschliche Stimme. Sie sah sich um. Da lag eine Gestalt auf dem Gehweg, zusammengekrümmt. Sie wimmerte. Ein schwacher Ruf: Hilfe. Kaum hörbar. Dann ein Wort: Überfall. Anschließend weiteres Gewimmer, Schluchzen. Es schien eine Frau zu sein. Sie konnte ihre Gedanken nicht lesen, sie hatte eventuell vor Schmerzen keine mehr. Min-Jee stieg aus, wollte nach dem heulenden Bündel sehen. Blitzschnell sprang das vermeintliche Opfer eines Überfalls auf und rannte los. Eine Falle! Es war fast zu offensichtlich, aber das Mitgefühl mit der Frau hatte ihr Urteilsvermögen getrübt.
Sie kamen! Lösten sich von den Wänden, sprangen hinter Ecken hervor, krochen aus finsteren Winkeln … Mit einem Male standen sie überall. Die Gesichter vom Hass verzerrt, so hüpften sie hin und her. Sie rannten auf sie zu, schon sah sie sich umzingelt. Die Kuckucke schrien, sabberten und jaulten vor Mordlust. Ich bin Min-Jee, sagte sie sich, erhob die Arme und tat das, was niemand so gut konnte wie sie. Ihre Haare streckten sich aufwärts, Funken sprühten aus ihnen heraus. Die Luft knisterte. Ihre Finger schossen Blitze ab. Es wurde hell. Feuerschlangen ringelten sich um die Leiber der Kuckucke, unzählige Volt ließen sie zappeln und zu Boden sinken, bis die Schreie von Wut und Schmerzen verstummt waren. Brandgeruch, bitter und süßlich, stieg von den toten Körpern auf. Ein Knacken. Min-Jee drehte sich um. Sie bekam einen Kopf zu fassen. Eine Frau, ein Kuckuck. Sie mäßigte sich, wollte den Kuckuck nicht töten. Hier lagen schon genug Leichen herum. Sie versetzte der Frau einen leichten, aber spürbaren Stromschlag. Dann geschah das Unvorstellbare: Die tierischen Züge verschwanden vom Gesicht der Fremden und wichen einem menschlichen Ausdruck. „Was ist los?“, fragte sie überrascht und starrte dabei Min-Jee an. „Ich bin da, oder? Es ist fort, einfach weg, es hat hier gelebt, in meinem Kopf. Ich war tot, nein, schlimmer als das. Es lebte, hat mir alles geraubt, dieses Ding in mir. Aber es ist vorbei, endlich!“
Min-Jee begriff: Sie hatte die Lösung gefunden, rein zufällig. Strom direkt durch den Kopf geschickt verursachte bei den Ersten etwas. Sie verließen den menschlichen Körper. Man würde niemanden töten müssen, alle Menschen konnten am Leben bleiben. Sie musste sofort jemanden davon berichten. Eine Art von Elektroschocktherapie würde alles ändern!
Eine Eisenstange durchbohrte sie von hinten. Kuckucke waren flink. Der hohe Energieverbrauch und die überraschende Entdeckung hatten sie unachtsam werden lassen. Einen musste sie übersehen haben, einen dieser schrecklichen Kuckucke! Min-Jee zuckte. Der Körper, die Welt, alles entfernte sich, wurde blass. Sie fiel, fiel, fiel – den Aufschlag spürte sie nicht mehr.
Andy war überall durchgelaufen, etliche Male schon, hatte sämtliche Ecken und Winkel aufgespürt. Er kannte alle Büros, Umkleidebereiche, Duschen und Besenkammern bis in die letzten Ritzen hinein. Ihm wurde klar, dass es vor allen Dingen die langen verwinkelten Gänge waren, die dem Täter einen idealen Platz bieten könnten, um unentdeckt sein schreckliches Handwerk auszuführen. Viele Gemeinsamkeiten gab es zwischen den beiden Toten nicht, außer dass sie zu Lebzeiten hier gearbeitet hatten. Sollte es die Absicht der Ersten gewesen sein, Angst in die Truppe zu bringen, war es ihnen gelungen. Die Frage lautete: Hatten sie selber die Mannschaft unterwandert oder verfügten sie über menschliche Helfer? Es schien kaum möglich, die Ersten aufzuspüren; sie konnten ihre Gedanken abschirmen, indem sie die verbliebenen Persönlichkeitsanteilteile ihrer Wirte als Tarnung benutzten. Man würde Kameras anbringen, zuerst an den wichtigsten Stellen. Auch Wachposten sollten ab nun durch das Gebäude patrouillieren. Das Risiko ermordet zu werden, würde bleiben.
Es klopfte an der Tür des mickrigen Büros, das man ihm zugewiesen hatte. Ein bulliger Kerl mit leichtem Speckansatz, dessen kurz geschorener Kopf halslos auf dem Körper saß, trat ein und grüßte zackig.
„Setzen Sie sich bitte Feldwebel Wasserkopp. Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, dass ich kein einfacher Soldat bin, sondern einen speziellen Auftrag habe.“
„Ich weiß Bescheid, ich weiß, worum es geht. Ich hoffe, Sie werden Erfolg haben. Es ist eine fürchterliche Sache“, murmelte Feldwebel Heinz Wasserkopp.
Andy beugte sich vor. „Sie kennen Ihre Leute bestimmt recht gut, Sie stellen Teams zusammen, Sie sind an vorderster Front mit dabei. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Ihnen etwas aufgefallen ist, eventuell bei jemanden in Ihrer Truppe?“
Heinz Wasserkopp besann sich kurz. „Nein, ich weiß, was Sie meinen, aber ich habe da nichts zu berichten. Ich halte meine Augen immer offen. Natürlich sind alle besorgt wegen der Vorkommnisse. Unser Job ist schon hart genug. Und jetzt auch noch so was!“
„Und es besteht der Verdacht, dass es sich nicht etwa um einen Irren handelt, der hier sein krankes Unwesen treibt, sondern um einen oder mehrere Kuckucke.“
Heinz Wasserkopp wurde lebhaft. „Das habe ich vermutet, schon lange, schon bevor diese Sache passiert ist, kam es mir vor, als hätten die uns unterwandert.“
Andy spitzte die Ohren. „Hatten Sie irgendwelche Hinweise dafür?“
„Gewiss“, sagte der Feldwebel, „ich meine nicht wirklich, verstehn Sie? Aber dennoch. Keine Hinweise logischer Natur, keine harten Fakten, aber ich hatte so ein Gespür, einen Instinkt.“
„So, Ihr Instinkt. Sie haben sich, soviel ich weiß, nicht infizieren lassen.“
„Aber das kann man mir nicht negativ anrechnen, auch einfache Menschen haben ihre Ahnungen. Sie wissen ja, unser bewusster Verstand übersieht so einiges. Ich habe ein Gespür, wenn etwas nicht stimmt. Gut, es müssen nicht die Kuckucke sein, die sich eingeschleust haben. Sympathisanten vielleicht, oder sie haben Menschen gekauft. Manche machen ja für Geld alles. Kann auch sein, es wurden welche erpresst. Man muss ja mit allem rechnen, nicht wahr?“
„Gut, wenn Sie einen konkreten Hinweis haben sollten ...“
„Dann melde ich mich, selbstverständlich.“
„Ich bedanke mich für Ihre Mitarbeit. Halten Sie weiterhin die Augen offen“, sagte Andy.
Feldwebel Heinz Wasserkopp verabschiedete sich. Irgendwie hatte Andy sich in Gegenwart des Feldwebels unbehaglich gefühlt. Er mochte dieses übertrieben Soldatische nicht. Aber offenbar waren solche Charaktere notwendig, zumindest so lange, wie gekämpft wurde.
Andy lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er wurde für diese Aufgabe auch wegen seiner Talente und seiner Schulung bei Min-Jee ausgesucht. Sein Körper sank in den Sessel ein. Seine Muskeln ließen Spannung los, tief und ruhig atmete er. Fallen, tiefer und tiefer – oder stieg er aufwärts? Er kam ihr nahe, der Wand, durch die er hindurchmusste. Sie besaß keine Substanz, war vielmehr die Abwesenheit von allem, ein Moment der Ohnmacht, der Finsternis. Nichts. Und selbst dieses Nichts löste sich auf. Dahinter lag die Welt der gedankenschnellen Reisen. Sein Astralkörper, erst nicht zu unterscheiden vom Körper aus Knochen und Fleisch, schwebte der Decke entgegen. Er war drüben, war in der Welt feinster Materie angelangt. Auch vermochte er von der Welt des Feinen aus, bis in die Welt des Groben hineinzublicken. Gab man dabei nicht acht, konnte es einen fortreißen, tief in das Reich energetischer Strukturen schleudern, in den sogenannten Astralraum. Der Kontakt mit der stofflichen Welt musste zumindest über das Sehen aufrechterhalten werden, nur so konnte er das Gebäude untersuchen. Leicht glitt er durch eine Wand des Büros, schwebte unsichtbar den Flur entlang. Er hätte gut Lust gehabt aufzusteigen, bis übers Dach hinaus, in den Himmel hinein, wo er wie ein Vogel die Landschaft hätte unter sich erblicken können. All die Felder, Seen, Menschen, Wiesen voller wogenden Sonnenblumen, überall Farben, die ineinanderflossen wie bunte Nebel, getrieben vom Atem des Windes. Er schob diesen Wunsch beiseite und richtete seinen Geist auf das Notwendige, obwohl andere Welten stark an seinem Herzen zogen. Beinah hätte dieses sich Sehnen nach der Weite ihn fortgerissen. Aber mochten sich auch woanders wundersame Länder auffächern, jetzt war nicht die Zeit dafür. Ich muss hierbleiben, sagte er sich, meinen Job erledigen. Er lief schwerelos durch die Büros und beobachtete die Leute bei der Arbeit. Er schnüffelte herum; eine Indiskretion, die Leben retten könnte. Nichts Verdächtiges! Die Aufenthaltsräume waren mäßig besetzt. Auch hier fiel ihm nichts auf. Nun folge der Höhepunkt der Verletzung von Persönlichkeitsrechten: die Inspektion der Duschräume und Toiletten. Er stellte sich vor, er wäre kein Mensch, sondern eine Kamera, eine Drohne, die emotionslos durch das Gebäude flog. Im Duschraum regte sich nichts, alles leer. Er ging durch die Wand, zu den Toiletten. Vor einem der Waschbecken sah er das Unheil. Das hatte er nicht gesucht und auch nicht finden wollen. Ein junger Mann in Uniform, alle viere von sich gestreckt, lag bewegungslos auf dem Steinboden. Er spürte kein Leben in ihm.
Wieder in seinem Körper griff Andy zum Smartphone. „Alice? Hier Andy. Ich habe eine schlechte Nachricht.“
Laura schaute zu ihrer Mutter hinüber, die den monotonen Sätzen des Nachrichtensprechers lauschte: „Die UN ließen verlautbaren, man sei auf der Erde dem Ziel des vollkommenen Friedens wieder ein Stück näher gerückt. So gebe es momentan keine Kriege zwischen einzelnen Staaten. Die bewaffneten Konflikte zwischen nicht staatlichen Gruppierungen seien stark zurückgegangen. Eine Ausnahme bilde die Republik Tansania, wo es zwischen den einzelnen Rebellengruppen immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen komme.
Berlin: Kanzler Alchinger kündigte staatliche Unterstützung für die Roboterindustrie an und lobte die Zusammenarbeit mit den Experten vom Mond Europa auf diesem Gebiet.
Laut einer Mitteilung der Berliner Polizei, sei es wieder zu Übergriffen der Bürgerwehr Freies Deutschland gekommen. Zwei junge Männer seien ohne Vorwarnung von den Aggressoren angegriffen worden. Diese rechtfertigten sich damit, man habe die beiden für sogenannte Kuckucke gehalten. Nach eingehender Untersuchung wurde festgestellt, dass es sich bei den Männern zweifelsfrei um Menschen handelte. Die Opfer mussten sich in medizinische Behandlung begeben und befinden sich zurzeit auf dem Weg der Besserung. Gegen die Mitglieder der Bürgerwehr habe die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben.“
„Mama, wo leben die Kuckucke eigentlich?“, wollte Laura wissen.
Ihre Mutter blickte vom Bildschirm auf. „Das ist kompliziert. Wir reden ein andermal drüber, ja?“
„Gut. Ich möchte jetzt zu Lahama.“
„Lahama?“
„Ich habe dir von ihr erzählt. Sie ist tagsüber immer allein. Sie wird sich freuen. Es gibt da diesen kleinen Rummelplatz, da wollte ich mit ihr hin.“
„Wie alt ist sie denn?“
„Sie ist sechs.“
„Weiß ihre Mutter Bescheid?“
„Ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat es erlaubt, für drei Stunden.“
„Gut, aber sei vorsichtig, du hast die Verantwortung für die Kleine. Und viel Spaß.“
„Ja, ich passe auf“, sagte Laura und wollte voller Freude aus dem Haus rennen.
„Halt, warte. Nimm dir die rosafarbene Kreditkarte aus meiner Tasche!“
„Danke, du bist die Beste“, sagte Laura, küsste ihre Mutter auf die Wange, nahm die Kreditkarte und hüpfte davon.
Musik quäkte aus einem Leierkasten, Kinder knabberten an kandierten Äpfeln und es roch überall nach gebrannten Mandeln. Eine Gruppe Männer schimpfte und lachte abwechselnd; sie hingen am Schießstand herum, in den Händen hielten sie Luftgewehre, allesamt so justiert, dass sie mit größtmöglicher Präzision das ins Auge gefasste Ziel verfehlen mussten. Wie verrückt schüttelte man an den Würfelbuden die Becher und knallte sie kraftvoll auf die Tische. Kinder zogen ihre Eltern mal dahin, mal dorthin. Sie entdecken immer neue Verlockungen. Was für die Erwachsenen harmloser Spaß war, kam für die Kinder einem Blick ins Paradies gleich, und eine gewonnene Plastikfigur am Losstand, erschien ihnen als unermesslicher Reichtum.
Lahama blieb vor dem Riesenrad stehen.
„Lieber nicht“, sagte Laura, „ich habe kein gutes Gefühl. Seien wir lieber vorsichtig. Ein Riesenrad ist ziemlich groß, du dagegen bist noch recht klein. Du warst ja auch schon auf dem Kinderkarussell. Wie wär's mit Zuckerwatte?“
„Ja, ja bitte Zuckerwatte!“
„Welche Farbe?“
„Blaue!“
Laura bestellte zweimal Zuckerwatte.
„Danke, du bist die beste große Freundin, die es gibt!“
Mit der Zuckerwatte in der Hand ging es weiter zur Losbude. Nach den ersten drei Nieten gewann Lahama eine Rolle Drops. Sorgfältig verstaute sie die Bonbons in ihrer Jackentasche, als wäre die Nascherei ein Goldschatz. Sie strahlte übers Gesicht.
Laura freute sich, die Kleine war für diesen Augenblick glücklich. Berauscht vom Jetzt konnte sie den Tod ihres Vaters vergessen. Liebevoll tätschelte sie ihr den Kopf. „Ich passe auf dich auf“, sagte Laura. Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte.
Lahama blickte zu ihr auf. „Ja, du gibst auf mich acht.“.
Als sie zur Bushaltestelle liefen, glänzte die Welt unter einem wolkenfreien Himmel. Das heitere Treiben des Rummelplatzes wirkte in Lahama fort. Sie lächelte und lutschte Drops. Unmittelbar neben ihnen hielt ein Auto, Männer sprangen heraus, sie hielten Waffen in den Händen. Laura registrierte, dass sie die bekannten Uniformen trugen, die gleichen, wie sie ihre Mutter für die Arbeit anzog. Deswegen nickte sie ihnen freundlich zu und nahm sie nicht als Bedrohung wahr.
Einer der Männer zeigte auf Lahama, er sagte ihr, sie solle zu ihm kommen. Sie schrie markerschütternd und rannte davon, so schnell sie nur konnte. Kurz darauf ging sie zu Boden. Laura sah einen Mann mit einem Gewehr im Anschlag. Sein Gesicht war hart, den Augen schimmerte abgrundtiefer Hass. Er hatte abgedrückt. Lahama wurde vom lautlosen Strahl seiner Waffe niedergestreckt.
„Sie war doch noch viel zu jung!“, rief ein anderer Uniformierter.
„Sie wird's schon wegstecken. Gefährlich sind sie alle. Auch die Kleinen. Die wär uns doch entkommen, so schnell, wie die losgewetzt ist!“
Laura lief zu ihrer Freundin. Sie beugte sich über den reglosen Körper und sah in ihn hinein. Das Herz stand still, Lahama atmete nicht mehr. Die Hände – sagte sich Laura, ich muss meine Hände unter Strom setzen. Sie berührte Lahamas Brustkorb und schoss Stromimpulse in ihn hinein. Ein roher Kerl riss sie von der Kleinen fort. „Weg hier Mädel, störe uns nicht bei der Arbeit!“, blökte er.
Trauer, Wut und Verzweiflung stiegen in ihr auf, und noch etwas, etwas Neues, was sie bis heute nie gespürt hatte. Es war der Hass! „Büßen werdet ihr das, büßen!“, schrie sie, dann fügte sie hinzu: „Meine Mutter ist Major!“
Man ließ sie links liegen und schleppte Lahamas schlaffen Körper zum Wagen. Laura schaute dem fortfahrenden Auto nach, fassungslos. Sie weinte, sie ballte die Fäuste. Als der Bus kam, stieg sie ein.
Zitternd schloss Laura die Tür auf und rannte in das Arbeitszimmer ihrer Mutter. Sie saß am Schreibtisch, erledigte irgendwelche Post. Erst sprudelte alles durcheinander aus Lauras Mund heraus. Bald begannen die Worte, sich zu ordnen und Sinn zu ergeben. „Verdammt“, schrie sie ihre Mutter an, „es war nicht irgendwer, sondern deine Leute, bewaffnet, bösartig. Sie haben sie abgeknallt wie ein Tier!“ Und Tränen liefen ihr aus den Augen, sie schluchzte.
„Es ist eigentlich verboten, auf so kleine Kinder zu schießen. Sie vertragen die Schockgewehre noch nicht. Erwachsene erholen sich davon immer.“
„Höre ich recht, weißt du, was du da sagst, Mutter? Das hört sich an wie eine Rechtfertigung. Als wäre im Grunde genommen alles in Ordnung. Es ist nur ein kleiner Fehler bei der Menschenhatz gemacht worden!“
„Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Es ist schrecklich, das hätte nicht passieren dürfen.“
„Es ist aber passiert. Ich hatte die Verantwortung. Ich habe es ihrer Mutter versprochen. Und jetzt ist die Kleine vielleicht tot. Wie soll ich damit leben, verdammt?“
„In diesem Fall hattest du nicht die Verantwortung, was geschehen ist, konntest du nicht ändern, es war stärker als du. Ich bin verantwortlich dafür, ich.“
„War sie wirklich eine von denen?“
„Von den Ersten? Offenbar. Die Kinder von ihnen haben nicht den Körper eines Menschen geraubt, sie kamen hier normal zur Welt. Sie sind unschuldig. Man ist aber vorsichtig, darum fängt man auch Kinder ein. Ich werde herausfinden, wo sie ist, falls sie … Du hattest eine Beziehung zu ihr. Spürst du etwas, wenn du in dein Herz schaust und an sie denkst?“
Laura schloss die Augen, ließ innerlich das Bild Lahamas lebendig werden. Es rauschte und es war ihr so, als presste man sie durch einen Schlauch. Nun fühlte sie die Kleine, war in ihr, verschmolz mit ihr. Der Körper schmerzte. Sie lag irgendwo. Ein Zimmer, die Wände trostlos weiß. Der Geruch von Alkohol und Chlor. Eine Nadel im Arm. Leinene Bettwäsche. Angst. Laura öffnete die Augen. „Es geht ihr gut. Ich meine, sie lebt. Offenbar liegt sie in einem Krankenhaus. Nach dem Schuss, der Storm aus meinen Händen, er hat sie wiederbelebt.“
„Dann hast du richtig gehandelt und dich um sie so gut gekümmert, wie du konntest. Ich weiß, wo sie liegt. Dort bringt man die Kinder hin.“
„Wie soll ich es ihrer Mutter sagen, zumal sie eine Erste ist?“
„Besser ich sage es ihr.“
„Deine Leute nehmen sie nicht gefangen?“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
Alice lief ein Stück die Straße entlang. Sie blieb vor dem Haus stehen, an das sie etliche Male vorbeigekommen war, ohne zu ahnen, dass eine der Ersten mit ihrer Tochter darin wohnte. Sie läutete. Nichts. Die Frau spürte gewiss, eine wie sie, eine vom Mond Europa stand vor der Tür – der Feind! „Bitte machen sie auf, ich bin alleine, Sie haben nichts zu befürchten. Es ist wichtig. Es geht um Ihre Tochter. Ich bin Lauras Mutter!“
Schritte. Ein Schlüssel wurde umgedreht. Die Tür ging auf, langsam, erst einen Spalt, dann weiter, bis sie offen stand.
„Was gibt es?“, fragte die Frau knapp mit gespielter Interesselosigkeit.
Alice atmete tief durch, dann nochmals. Das erste Wort wollte nicht recht kommen, es blieb im Hals stecken. Nach langen Sekunden begann sie flüsternd zu reden. „Es ist etwas passiert. Ihre Tochter, sie haben sie. Eine Routinekontrolle auf der Straße.“
„Wie bitte? Bitte sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist.“
„Ich würde das nur zu gerne tun, wenn ich könnte. Ich kann es leider nicht.“
„Meine Güte, meine Lahama ist mein Ein und Alles. Warum habe ich sie nur Ihrer Tochter anvertraut?“
„Sie konnte nichts dafür. Wie hätte sie die Kontrolleure der Spezialeinheit aufhalten können? Mehrere bewaffnete Männer? Niemand kann etwas dafür. Sie nicht und meine Tochter nicht. Der Kleinen geht es soweit gut. Soviel wie ich weiß, liegt sie in einem Krankenhaus. Nichts Ernstes, ein kleiner Schock.“
Die Frau weinte drauflos, atmete heftig und gepresst, als würde ihr jemand den Hals zudrücken.
„Hören Sie, ich kann Ihnen helfen“, versprach Alice.
„Diese verdammten Menschen und diese verdammten Europamonster, sie haben mir alles genommen. Es waren Leute wie Sie, die sie geholt haben. Warum sollten Sie mir helfen wollen?“
„Ich helfe Ihnen, weil ich verantwortlich bin.“
„Ach, lassen Sie das. Sie haben selber gesagt, dass niemand was dafürkann.“
„Fast niemand, ich bin die Ausnahme. Ich komme mir nicht besonders prima vor, wenn ich Ihnen hier in die Augen sehen muss. Ich fühle mich beschissen. Ich bin die Vorgesetzte der Leute, die auf ihre Tochter … ich meine, die ihre Tochter eingefangen haben. Ja, ich muss es Ihnen wohl sagen, sie haben geschossen, mit einer Schockwaffe. Das ist verboten, keine Frage, bei Kindern verboten. Aber ich kann nicht alles kontrollieren. Solche Dinge dürften nicht vorkommen, sie kommen aber vor. Es gibt da eine Hierarchie, ich stehe ziemlich weit oben. Wir kämpfen gegen die Ersten. Hauptsächlich gegen solche, die gefährlich sind, die töten. Wir greifen uns auch die Unschuldigen, ebenso die Kinder, weil sie irgendwann gefährlich werden könnten. Wir wollen sie loswerden. Reden wir Klartext. Alle Ersten müssen irgendwie weg. Sie haben unseren Plan kaputtgemacht, den schönen Plan von einer friedlichen Erde. Wir wissen nicht recht, was die Ersten gegen uns haben, wir sind ihre Eltern, wir haben sie erschaffen. Gewiss, als wir merkten, dass sie überflüssig wurden, haben wir sie versklavt, aber das wissen Sie wahrscheinlich. Das ist lange her, sehr lange. Es ist vorbei, Vergangenheit. Wir waren Götter, Ihre Leute waren unsere Kreaturen. Aber nun können wir neu anfangen. Bitte vertrauen Sie mir. Ich kann Ihrer Tochter helfen!“
„Habe ich eine andere Wahl?“
„Hören Sie, man hat Ihre Tochter, man wird sie befragen, man wird hierherkommen. Können Sie irgendwo untertauchen?“
„Eventuell bei den wilden Gruppen. Sie wissen schon, die in der Dunkelheit zuschlagen. Obwohl, das ist nicht so ganz meine Art. Im Moment allerdings …“
„Ich werde mich um alles kümmern. Sie müssen hier weg, so rasch wie möglich.“
Karen fragte sich, wer um diese Stunde noch klingeln würde. An der Tür standen zwei Frauen: Alice und eine Fremde. Sie trugen Tüten und Taschen bei sich.
„Das ist ja eine Überraschung“, sagte Karen.
„Die Überraschung kommt erst noch.“ Alice zeigte auf ihre Begleiterin. „Das ist Isabell, deine neue Untermieterin.“
„Oh, ich sehe schon, sie will gleich einziehen. Schön, dass ich darüber informiert werde.“
„Ein Notfall, sie muss kurz untertauchen. Sie sind ihr auf den Fersen.“
„Kommt erst mal rein. Wer verfolgt hier also wen?“
„Meine Leute verfolgen sie. Ja sie ist eine von den Ersten. Keine Bange, sie gehört nicht zu den Schlimmen, die in der Dunkelheit ihr Unwesen treiben. Sie haben ihre Tochter, ihre kleine Tochter. Ich versuche, zu helfen.“
„Okay verstehe, du versuchst zu helfen. Gut soll sie einziehen. Ein Zimmer ist wieso frei, seit …“
„Vielen Dank“, sagte Isabell, „um ehrlich zu sein, habe ich nicht so viel Hilfsbereitschaft erwartet, nicht von Leuten wie …“
„Wie wir?“, unterbrach Karen.
„Nun, ich bin das, was man einen Kuckuck nennt. Für mich und meine Leute ist es in der Regel klar, wer der Feind ist. Wir wurden lange genug unterdrückt, ausgebeutet und getötet.“
„Geschichte wiederholt sich oft, aber nicht zwangsläufig“, meinte Karen.
„Gut“, sagte Alice, „wie ich sehe, versteht ihr euch. Ich geh dann mal. Ich ruf morgen an. Und sei nett zu Isabell Karen, friss sie nicht auf!“
„Keine Sorge, ich werde mich unter Kontrolle halten.“
„Na bitte, das ist doch ein Anfang. Dann lasse ich euch mal alleine. Macht's gut!“, sagte Alice und verschwand.
„So, nun wären wir unter uns. Wie wär's mit einem Tee?“
Die Erste nickte. „Tee ist gut.“
Karen ging in die Küche, setzte Wasser auf, stellte das Teegeschirr zurecht, maß den Tee ab und bereitete das aromatische Getränk zu. Wieder im Wohnzimmer stellte sie Kanne und Tassen auf den Tisch. Sie fragte ihren Gast, ob sie sie Isabell nennen dürfe. Dabei überlegte sie sich, ob diese Isabell den Namen von ihrem Opfer, dessen Körper sie geraubt, einfach übernommen hatte.
„Klar, sage Isabell zu mir“, meinte die Erste und setzte die Teetasse an ihre Lippen. „Schmeckt gut, sehr gut.“
Karen fühlte sich unbehaglich. Sie saß hier mit einem Kuckuck zusammen und trank mit ihm Tee. Ein Kuckuck war letztlich eine Art von Ungeheuer. In der Ektase des Blutrausches zerfleischten sie Menschen. Es sollte ja auch Angepasste unter ihnen geben, auserkoren, die menschliche Gesellschaft zu unterwandern. Sie alle aber waren Mörder, wenn auch zuweilen die Körper ihrer Opfer noch lebten, weil sie in ihnen wohnten. Offenbar vertraute Alice dieser Isabell. Letztendlich aber war es doch so, als hätte man einen Tiger im Haus, einen womöglich gezähmten, aber Raubtier blieb Raubtier. „Tja Isabell“, begann Karen, „ich kenne dich ja kaum, eigentlich überhaupt nicht. Deine Gedanken kann ich auch nicht lesen. Eure Art ist schwer zu lesen für uns, uns Infizierte. Ich will nur sagen, ich fühle mich unbehaglich neben dir. Du bist eine von den Ersten. Der Feind sozusagen. Täglich kommt es in den Nachrichten, dass Menschen getötet werden von wilden Horden, die sich bei Sonnenuntergang treffen.“
„Ich gehöre nicht zu diesen Radikalen. Die Nachrichten haben ihre Schwerpunkte. Sie zeigen nicht, wie sie uns jagen, deportieren oder auf unsere Kinder mit Schockwaffen schießen, wie sie es mit meiner Tochter getan haben. Sterben hätte sie dabei können. Jetzt liegt sie verletzt, irgendwo wo sie die Kinder hinbringen. Was eigentlich passieren soll mit denen, die sie einfangen und mit den Kindern, das weiß man nicht. Sie selbst wissen es wohl noch nicht.“
„Andererseits muss man das verstehen, ich meine nicht das mit den Kindern, aber die verrückten Horden sind eine Bedrohung. Mithilfe der Europabewohner und der Enceladusaner haben wir es geschafft, dass es kaum noch Kriege gibt. Und jetzt das. Die Ersten, sie schlachten uns regelrecht ab, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Gewiss, ich weiß schon, es hat die Sklaverei gegeben und die Sintflut.“
„Die Sintflut. Eine schöne Umschreibung für Völkermord. Oder sollte man bei uns lieber von Artenausrottung reden?“
„Man musste das Opfer einiger in Kauf nehmen, um viele andere zu retten.“
„Das Opfer einiger? Die Flut kam und tötete unzählige der Ersten, der Mischlinge und ich vermute auch der Menschen, die man nicht mehr rechtzeitig warnen konnte. An anderen Orten hat man die Sklaven getötet, alles Erste. Von da an mussten sich die Menschen gegenseitig versklaven. Wir blieben verschwunden, ermordet von den Göttern, den Engeln, den Gottkönigen von Europa. Unsere Seelen wurden von den Enceladusanern zu einem der energetischen Planeten gelenkt. Ein Schutzwall wurde gezogen, damit wir nicht entkommen konnten. So lebten wir als Gefangene auf diesem verdammten Planeten. Irgendwann haben wir es ja doch noch geschafft und entdeckten einen Weg zurück zur Erde. Zuerst war es ein indirekter Weg, wir konnten von unserem Gefängnis aus in Kontakt mit Menschen treten. Wenn wir uns auf ihre Seelen einstimmten, erschienen wir ihnen als innere Stimme. Während der Gefangenschaft sind unsere telepathischen Fähigkeiten gewachsen.“
Die Stimmen der Dämonen dachte Karen, welche die Menschen in Versuchung führen, damit sie vom wahren Glauben abweichen. „Und was habt ihr ihnen gesagt?“
Isabell nahm einen Schluck Tee. „Wir erinnerten sie daran, dass ihre Götter nicht so fehlerfrei Und die Stimme des einen Gottes, die so manche Propheten glühend verkündet hatten, war ja nichts weiter als die Stimme der Monster von Europa. Gewiss wollten sich die Menschen frei entwickeln, aber immer wieder wurden sie Opfer der Propaganda ihrer Geschwister vom Eismond.“
„Vielleicht hätten wir uns ohne sie längst gegenseitig ausgerottet. Sie haben uns geführt. Wir waren wie Kinder“, warf Karen ein.
„Mit jedem Feuer, das sie löschten, entzündeten sie zwei neue. Auf Enceladus hat man das erkannt. Deswegen ist es ja auch zu Spannungen zwischen den Eismonden gekommen. Man wollte euch eine Harmonie aufzwingen, die nicht mehr zu euch passte, nachdem ihr in den Entwicklungsstrom der Erde eingetaucht ward. Die Engel von Europa hielten euch nicht mehr für rein genug. Ihr habt nach Sünde gestunken. Ihr wolltet euch vor ihnen mit Buße und Kasteiung säubern, aber je mehr ihr eure Seelen poliert habt, umso verrückter wurden eure Gedanken. Die Waffen erhoben, habt ihr euch in Heilige Kriege gestürzt. Auf Europa dagegen herrschte Friede. Ihr wart und seid keine Engel. Irgendwann ist es euch gelungen, Verstand und Gefühl in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. Damit wurde euer Geist für das Infizieren aufnahmefähig. Ihr solltet werden wir sie, aber ihr seid nicht sie. Wir dagegen wollten euch aufrütteln, die Freiheit einflüstern, damit ihr euch erhebt und den Himmel verflucht. Euer Himmel war nichts weiter als ein kalter Mond bewohnt von überheblichen Egomanen, die ihre Absichten mit einer spirituellen Ideologie verkleistern. Zwar wurden wir als Sklaven missbraucht, aber wir haben euch das verziehen, also fast zumindest. Na ja, vielleicht nicht wirklich. Aber euch trifft nur die halbe Schuld. Immerhin haben die Fischgesichter von Europa euch das Böse eingetrichtert. Und nun? Nun unterscheidet ihr euch kaum noch von ihnen.“
„Vermutlich werdet ihr immer besser, was die Telepathie betrifft“, meinte Karen. Kein Wunder also – sagte sie sich –, dass die Geschichte der Menschheit so wirr verlaufen ist. Neben der Fürsorge der Europäer hatte es auch die Einflüsterungen der Ersten gegeben. Da musste die Menschheit ja irre werden!
Isabell sagte: „Gewiss, wir machten Fortschritte und konnten bei euch etwas auslösen, was die Menschen Besessenheit nennen. Götter, Dämonen, Geister, Teufel oder ein diffuses Gefühl, du weißt, was ich meine. Natürlich muss die Bereitschaft eines Menschen dafür vorhanden sein. Manche kamen uns willig entgegen, sie übten sich in Ritualen, um uns zu begrüßen. Hexen und Magier nannten die sich. Dann war es soweit, sie kam: die erste der Ersten.“
„Die erste der Ersten?“
„Die Erste, die einen menschlichen Körper plus Erinnerungen übernehmen konnte. Sie hat den Durchbruch geschafft, scharrte Schüler um sich, menschliche Schüler, zuerst in magischen Zirkeln, dann kamen weitere hinzu, nachdem sie esoterische Bücher veröffentlicht hatte. In ihren Schriften ging es um den Kontakt mit höheren Wesen. Gemeint war der Kontakt zu uns. Es hat funktioniert, die Menschen haben sich geöffnet, wir konnten mit vielen von ihnen sprechen. Wenn ihr Geist offen war, kam es zur Übernahme. Wir drangen in sie ein. So war es uns möglich, zurückzukehren.“
„Das nenne ich eine tolle Belohnung für eure Anhänger, dass ihr ihnen ihr Leben geraubt habt!“
„Man muss die Sache so sehen“, erklärte Isabell, „ursprünglich waren unsere Körper für die Menschen gedacht, als sie noch gar keine Menschen waren, sondern Fremde, die in diesem Sonnensystem gestrandet sind. Wir waren Testläufe für ihre künftigen Mutationen, damit sie sich den Bedingungen des Planeten reibungslos anpassen konnten. Dann ist alles anders gekommen und, wie ich hörte, wurde infolge bevorzugt an Affen geforscht. Damit waren wir nutzlos. Als Sklaven haben wir auch nicht viel getaugt. Man hat uns getötet, alle. Wir haben uns das Recht genommen, wieder körperlich zu leben, hier auf der Erde.“
„Das Recht der einen setzt zuweilen das Recht der anderen außer Kraft.“
„Allerdings, leider“, gab Isabell zu, „der Trieb der Seele sich in die Materie zu stürzen, und sich zu verkörpern ist stark. Wenn Seelen nicht im Körper sind, müssen sie reisen, die astralen Welten erkunden. Uns aber hat man gefangen gehalten. Beide Welten wurden uns verwehrt, die geistige und die stoffliche. Gefangene Seelen können nicht hell strahlen, nicht weise werden. Sie kreisen ohnmächtig um sich selbst. Weder spüren sie die Weite der einen Welt noch die starren Grenzen der anderen. So wurde unser Dasein zu einem Dahinsiechen, eine endlose Aneinanderreihung von Bedeutungslosigkeiten. Der einzige Fluchtweg war, in den Geist der Menschen einzudringen. Den haben wir genutzt. Manchen von uns reichte es nicht aus, wieder zu leben, in ihnen kroch alte Wut hoch, sie dachten an die Schmach, an die Jahrtausende des Elends. Sie schrien nach Rache. Zuerst an den Europabewohnern, dann an den Infizierten, schließlich auch an den einfachen Menschen, die zwar ahnungslos waren, aber sich an unsere Versklavung beeidigt hatten.“
Genau das ist der Grund, deswegen hat man euch entkörpert und isoliert gehalten, sagte sich Karen. Ihr seid gefährlich. Ein außer Kontrolle geratenes Experiment, Körper, in denen sich versehentlich ein Geist entwickelt hat, ein Bündel von Fleisch und Reflexen, in dem ein eigenständiger Wille zu wuchern begann, ein unkontrollierbares Geschwür, das man entfernen musste. Ihr konntet euch eure Existenz nicht aussuchen, wir schon. Wir haben die Affenerbanlagen gewählt, Primatenkörper, Primateninstinkte. Nicht perfekt, nicht annähernd, aber wir sind besser als ihr. Am Grunde unserer Grausamkeit glimmt ein Rest von Mitgefühl. Das hat uns bis jetzt davor bewahrt, uns selbst auszurotten. Ihr aber seid kalt, biologische Maschinen. Eure einzige Leidenschaft ist es, zu hassen. Vielleicht sind wir nicht sehr viel besser als ihr, aber wir sind um ein Prozent besser. Auf dieses eine Prozent kommt es an. Du sitzt jetzt hier mir gegenüber und trinkst Tee, während andere deiner Art meine Mitmenschen zerfetzen, ihnen die Kinder rauben oder sich menschliche Körper suchen, um sie zu übernehmen. Ich sitze hier und sehe dich an. Was glaubst du, was ich sehe? Ein Monster? Ein Ding? Natürlich nicht. Ich besitze eine Seele, die alt ist, die die Zeiten durchwandert hat. Alles, was ich vor mir erblicke, ist eine armselige Kreatur. Ich erkenne Leiden und ich fühle mit dir. Wir helfen dir jetzt. Das ist genauso richtig, wie das Gefühl, dass wir euch früher oder später loswerden müssen. Es ist schon unheimlich: Wie du mich hinterrücks anspringen könntest, um mich zu ermorden; ebenso würde es mir vielleicht gelingen, dich in die berüchtigte Klammer zu nehmen, dich zum Fenster zu lenken und springen zu lassen. Ich würde weinen um dich, wenn du da unten liegst, reglos in einer Blutpfütze. Würde ich dich in den Tod schicken, so wäre mein Herz mit dir. Das ist der Unterschied zwischen unseren Arten, ihr könnt uns töten und euer Herz bliebt dabei kalt. „Und was soll nun werden?“, fragte Karen, die nicht durch zu langes Schweigen unhöflich wirken wollte. „Wie stellt ihr euch das vor? Soll das so weitergehen, dass ihr gejagt werdet, Menschenkörper besetzt, dass ihr mordet?“
Isabell hob die Schultern. „Keine Ahnung. Du bi eine von diesen Infizierten und kannst in die Zukunft schauen.“
„Ich bin nicht sehr so gut darin. Die auf Europa Geborenen sind mir in dieser Hinsicht weit voraus. Wenn ich mich konzentriere, weiß ich, ob in zwei Minuten eine Fliege in meinem Tee landet oder nicht. Oder ob …“ Sie hätte beinahe gesagt: ob mir ein Kuckuck morgen das Bein ausreißt. Sie konnte ihren Satz noch rechtzeitig abändern. „… ich mir morgen einen Arm breche. Das Schicksal von Völkern vorauszusagen, ist ein zu fetter Brocken für mich. Selbst wer vom Mond Europa kommt, hat da seine Grenzen. Dort meint man in einem solchen Fall: Alles wird gut. Nicht weil sie es wüssten, sondern weil sie dem Schicksal bedingungslos vertrauen. Am Ende muss für sie alles gut sein, ansonsten würde es nicht existieren. Eine Geisteshaltung, mit der ich zuweilen liebäugele.“
„Weißt du, was ich sehe, wenn ich in mich hineinschaue?“
„Vermutlich erinnerst du dich an den Planeten, auf dem eure Seelen gefangen waren, oder an die Sklaverei. Vielleicht auch an die schönen Tage, als ihr wie Tiere gelebt habt, geistlos und glücklich in den Urwäldern der Erde.“
„Gewiss, solche Erinnerungen gibt es. Ab und zu scheint es allerdings so, als existiere noch mehr in meiner Seele: etwas viel Älteres, aus der Zeit, bevor die Erde besiedelt wurde.“
Karen goss Tee nach. „Es gibt nichts in dir, was älter sein kann als die Erinnerung an die Wildnis, in der ihr als Testobjekte für genetische Anpassung gedient habt. Ihr wurdet erst nach der Besiedlung der Erde erschaffen. Alles andere ist ein Traum, der Wunsch nach einem Mythos, der eure Herkunft erklärt, die Sehnsucht nach einer heroischen Zeit. Aber es ist ganz einfach: Ihr seid von Anfang an ein Experiment gewesen, Laborgeschöpfe.“
„Du hast wahrscheinlich recht“, stimmte Isabell zu, „obwohl da so eine Ahnung in mir haust, die sich sehr echt anfühlt.“
„Das liegt daran, dass du viel durchgemacht hast in letzter Zeit. Deine Ahnung ist bestimmt nur das Symptom eines Traumas.“
„Mag sein. Ich bin jetzt auch wirklich müde.“
„O ja, ich zeige dir das Gästezimmer.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen