Montag, 18. April 2022

                                            25

 

 

Am nächsten Morgen hatte Alice recht früh ihren Dienst angetreten. Sie erwartete, dass er pünktlich kam. Als es an der Tür klopfte, erhob sie sich. „Herein“.

„Guten Morgen frau Major.“

Sie ging einen Schritt auf ihn zu. „Lass dich anschauen. Gut siehst du aus. Ich hoffe, du konntest dich ausreichend erholen. Ich meine nach alldem, was wir … was ich dir zugemutet habe.“

„Schon gut, alles ist gut geworden. Die Therapie in der Tiefseekolonie war fantastisch. Man vollbringt dort wahre Wunder.“

„Setz dich doch Andy. Ja, es arbeiten hervorragende Leute da unten. Wie ich hörte, hast du dich mit Min-Jee ausgesöhnt?“

„Ja, sie ist ein toller Mensch. Ich habe viel gelernt von ihr. Nicht nur über Energie.“

„Sie ist wahrlich eine Meisterin. Die Enceladusaner haben sie mit den besten Gaben beschenkt. Die Infizierten und wir Europäer, die mit ihr in Kontakt kamen, verfügen nun alle über die energetischen Kräfte von Enceladus. Unter uns gesagt, was den energetischen Aspekt betrifft, habe ich nicht so viel Talent. Ich bin grade mal dazu fähig, Mais in die Hand zu nehmen und daraus Popcorn zu machen. Da kann ich mich bei Weitem nicht mit deiner Lehrerin vergleichen. Sie ist eben Min-Jee.“

„Du stammst vom Mond Europa. Bei einem Wettschwimmen würde sie bestimmt keine gute Figur neben dir abgeben.“

Alice lächelte. „O ja, ich zische locker an einem Delfin vorbei. Und ein Blug kommt nicht einmal in meine Nähe.“

„Was ist ein Blug?“

„Ein Tier auf Europa, es hat keinen guten Charakter. So gerne ich mit dir noch weiter über Europa und meine Schwimmkünste plaudern würde, muss ich auf eine ernste Sache zu sprechen kommen. Ich sage es geradeheraus: Deine Aufgabe könnte gefährlich werden. Ich hoffe nicht, dass du dazu genötigt sein wirst, deine energetischen Fähigkeiten als Waffe einzusetzen. Du bist hier, damit du interne Ermittlungen durchführst. Vorerst verdeckte Ermittlungen. Offiziell bist du so etwas wie ein Laufbursche. Du bringst mal eine Akte dahin, mal ein Paket dorthin.“

„Wie kommst du auf mich? Ich bin weder von der Polizei, noch ein Geheimagent.“

„Du kennst gewiss diese Gangsterfilme. Wie sagen sie dort immer? Einen Bullen riecht man meilenweit gegen den Wind. Außerdem traue ich dir. Du hast ja schon einmal für mich gearbeitet.“

„Höre mal Alice, ich meine, Frau Major.“

„Ist schon gut, wenn wir unter uns sind, kannst du mich ruhig Alice nennen.“

„Ich habe für dich gearbeitet? Du hast mich manipuliert!“

„Schau Andy, die Situation verlangte damals … Trotzdem, ja, ich habe dich manipuliert.“

„Es ist mir mit Verlaub beschissen gegangen. Es war kein Zuckerschlecken, als ich gelähmt im Bett lag!“

„Es tut mir leid. In der Situation aber haben wir getan, was wir tun mussten. Niemand kann sich dem Schicksal entziehen. Es waren für uns alle schwierige Zeiten. Kurz zuvor sind mir meine Fähigkeiten genommen worden, man hatte mich gefangen gehalten und die Enceladusaner waren dabei, uns anzugreifen. Mag sein, dass ich seinerzeit zu wenig Verständnis für dich gezeigt habe. Nur weil ich von Europa stamme, bin ich kein höheres Wesen. Auch wir haben ein Recht auf Unvollkommenheit. In der Vergangenheit haben wir viel zu oft Götter gespielt. Wir sind genauso anfällig für Schwächen, wie die Menschen es sind. Wir haben allerdings nie den Faden verloren, der uns mit dem Ursprung verknüpft. Jetzt können wir gemeinsam und mit vereinten Kräften und Herzen auf die Quelle schauen, aus der wir kommen.“

„Natürlich hast du recht. Entschuldige. Ich habe dich moralisch in die Enge getrieben.“

„Es wäre schön, wenn wir uns gegenseitig verzeihen könnten, und wir alle uns selbst.“

„Du bist mindestens so weise wie Min-Jee.“

„Es ist wichtig, dass wir uns vertrauen. Ich halte dich für den Richtigen, was diesen Job betrifft. Ich glaube an deinen Erfolg. Es ist gut, dich an meiner Seite zu wissen.“

„Okay Alice, ich bin dabei“, sagte Andy und reichte ihr die Hand.

„Fein, dann kannst du morgen anfangen! Hauptmann Kullmann wird ebenfalls Ermittlungen durchführen. Er weiß über dich Bescheid, bisher als Einziger. Du bist allerdings ausschließlich mir persönlich verantwortlich. Der Mannschaft gegenüber lasse ich durchsickern, du seist der Sohn eines Politikers, sollst hier ein wenig Karriere machen und hast einige Sonderrechte, zum Leidwesen aller.“


Unglaublich – sie raste um den Kirschbaum herum, hielt kurz inne und legte wieder los. Nach rechts sprang sie, nach links sprang sie, sauste zwischen den Beeten hindurch, blieb abermals stehen, bis Laura nahe bei ihr war, dann rannte sie weiter. „Ich kriege dich!“, rief Laura. Noch nie im Leben hatte sie ein derart flinkes Mädchen gekannt. Es war unmöglich, sie zu fangen. Sie hätte ebenso gut mit einem Gepard um die Wette laufen können. Ihre Eltern hatten gewiss eine recht große Dosis der Energie von Enceladus abbekommen und sie ihr weitervererbt. Laura blickte in sich hinein. Die Fäden des Schicksals zeigten ihr an, dass sie niemals schnell genug sein würde, um die Kleine einzuholen. Selbst nicht, wenn sie schummelte und Gedanken läse, um herauszufinden, welche Richtung sie einschlagen würde. „Ich gebe auf, ich erwische dich nie und nimmer!“, rief sie.

„Okay, ich habe gewonnen!“

„Ja, das hast du.“

Sie setzten sich unter einen der Kirschbäume. „Es ist schön, dass du wiedergekommen bist“, begann Lahama, „es wäre sonst langweilig. Papa bleibt länger weg als sonst immer. Er arbeitet viel, ist fleißig. Wenn er wieder Zeit hat, gehn wir zum Rummel. Magst du Zuckerwatte?“

„Als ich klein war, da liebte ich sie.“

„Zuckerwatte ist toll. Ich darf bei Papa Kinderkarussell fahren. Die anderen aber nicht, die großen Karussellen.“

„Es heißt Karusselle oder Karussells“.

„Auch große Karussells darf ich nicht fahren, egal wie sie heißen. Aber eigentlich habe ich auch Angst vor den großen Karusselle ...“

„Es heiß jetzt Ka … schon gut, erzähle weiter.“

„Am liebsten fahre ich das Kinderkarussell. Reite gerne auf dem Pferd. Die Kutsche mag ich auch. Auf dem Einhorn reiten, ist toll. Da werde ich hingehn, wenn er endlich wiederkommt, mein Papi.“

„Wird bestimmt prima“, sagte Laura.

„Kannst du mir 'nen Zopf flechten?“

„Klar doch – hast du einen Gummi dabei?“

„In der Tasche.“

„Na dann los!“, rief Laura und begann zu flechten. Als sie fertig war, wickelte sie sorgsam den Gummi um das Ende des Zopfes.

„Da ist Mutti!“, rief Lahama, sprang auf und rannte ihrer Mutter entgegen, die in diesem Augenblick zum Tor hereinkam.

Sie hob ihre Tochter hoch und küsste sie. „Tut mir leid, dass ich so spät bin. Ich hatte viel zu tun. Jetzt bin ich für dich da, Liebes“, sagte sie mit zärtlicher Stimme, begrüßte dann Laura und schloss die Haustür auf. Sie wandte sich wieder Lahama zu. „Sag brav Auf Wiedersehen zu deiner Freundin. Und geh dir schon mal die Hände waschen. Gleich gibts Essen, Spaghetti.“

Lahama verabschiedete sich von Laura und eilte ins Haus.

„Ich habe euch eine Weile vom Zaun aus beobachtet. Du hast dich so lieb um sie gekümmert. Es sind schwere Zeiten. Hat sie von ihrem Vater gesprochen?“

„Ja hat sie, er soll sehr beschäftigt sein. Sie will am liebsten mit ihm zum Rummel gehen.“ Laura bemerkte, wie sich Feuchtigkeit in den Augen von Lahamas Mutter sammelte, bis Tränen auf die steinerne Treppe des Hauses fielen.

„Er ist tot, verstehst du? Er wird nie mehr mit ihr zum Rummel gehen. Sie weiß es noch nicht. Ich werde es ihr heute sagen müssen. Ich werde ihr sagen, ihr Vater ist an einem schönen Ort, an einem besseren Ort.“

„Es tut mir so leid“, flüsterte Laura. „So leid.“


„Guten Morgen Korporal. Sind Sie bereit?“

„Gewiss Feldwebel!“

Heinz mochte den Korporal, er legte im Umgang mit ihm keinen Wert auf die üblichen militärischen Formalitäten.

„Da kommt sie,“ bemerkte der Korporal unsinnigerweise.

„Es muss wichtig sein, was sie uns zu sagen hat. Sie würde sonst nicht persönlich auf dem Lichthof erscheinen.“

Die Frau Major begann: „Guten Morgen. Ich freue mich, Sie zu sehen. Dass ich Sie alle vor Dienstantritt hier habe versammeln lassen, hat einen Grund, der Sie erschüttern wird.“ Sie blickte in die Runde und schien jeden mit ihren ozeanfarbenen Augen zu durchleuchten. „Ich werde es geradeheraus sagen: Der Feind befindet sich in unseren Reihen. Wir wurden unterwandert. Eventuell hat man sogar unsere Einsatzpläne ausspioniert. Ab heute werden aus Sicherheitsgründen die Gruppenführer erst kurz vor Dienstbeginn über das aktuelle Einsatzgebiet informiert. Leider sind unsere Feinde bereit, rücksichtslos Gewalt anzuwenden. Seien Sie achtsam. Sollten Sie einen Verdacht hegen, reden Sie mit niemand darüber, außer mit Hauptmann Kullmann, der die Untersuchungen in diesem Fall leitet, oder wenden Sie sich direkt an mich, schriftlich, mündlich, egal – ich werde mich persönlich darum kümmern. Ich verspreche Ihnen, es wird mit allen Mitteln gegen die Bedrohung vorgegangen, für die Sicherheit der Bürger dieses Landes, für Ihre Sicherheit und zum Schutz der Föderation der Welten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Dienst. Und passen Sie auf sich auf!“ Die Frau Major blieb noch einen Moment schweigend stehen, legte die Hände auf ihr Herz und sandte eine Welle von Liebe zu den Nervensystemen ihrer Untergebenen. Sie lächelte unergründlich, bevor sie eleganten Schrittes fortging.

„Sie ist so ...“

„Ich weiß, was Sie meinen“, sagte der Korporal.

„Sie strahlt alles aus, wofür wir kämpfen.“

„Das tut sie.“

„Sie wäre die ideale Führerin in Zeiten des Friedens.“

„Sie zweifeln doch nicht etwa?“

„Nein, nein Korporal, ich würde ihr überallhin folgen. Ich hoffe allerdings, dass unser Feind ihre Güte nicht als Schwäche ansieht.“

„Wer weiß, vielleicht ist gerade das ihr schärfstes Schwert.“

Sie gingen treppabwärts, weiter zum Fahrzeughof, wo der Mannschaftswagen stand. Die anderen warteten mit ernsten Gesichtern. Neben der Schockwaffe, die im besten Fall betäubte, trugen sie ihre Pistole, die sie immer dann einsetzten, wenn sie es mit einer größeren Gruppe von Kuckucken zu tun hatten. Die Schockwaffe war wirkungsvoll, aber langsam, die Pistole schnell und zumeist tödlich.

Der Korporal setzte sich hinters Steuer, Heinz nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Schön, immer noch Tagesschicht“, sagte er. Das bedeutete, sie mussten nicht in die Randbezirke, in denen sich in der Dunkelheit die Kuckucke zusammenrotteten, sich gegenseitig aufputschten und dann durchdrehten. Nachts waren sie am schlimmsten, degenerierten gänzlich ins Tierhafte, legten alles ab, was an ihnen zuvor noch menschlich erschienen war.

„Irgendwann kommt wieder die Nachtschicht“, murmelte der Korporal.

„Nachts sind sie gruselig, wirklich gruselig.“

„Ich weiß, sie können sich regelrecht verändern. Ihre Zähne wachsen, sie sabbern wie tollwütige Hunde, laufen gebeugt wie Affen. Sie können einen zerfetzen. Ich habe das schon mit ansehen müssen. Enceladusaner haben noch eine Chance gegen sie, die von Europa ebenso, eventuell kommen auch mal Infizierte mit ein paar Kratzern davon, aber reine Menschen ...“ Der Korporal startete den Mannschaftswagen.

Heinz sagte: „Ich ahne, worauf Sie anspielen. Ich bin nicht bereit, mich infizieren zu lassen. Nicht, weil ich nicht könnte. Ich will nicht. Wenn das jemand für sich entscheidet, akzeptiere ich das. Persönlich meine ich einfach, dass es am besten ist, wenn ich mich mit dem begnüge, was mir in die Wiege gelegt wurde. So bleibe ich ein gewöhnlicher Mensch. Und ich bin stolz drauf. Trotzdem hat sich für mich viel verändert, seit unsere Wohltäter auf der Erde erschienen sind. Ich liebe diese Ruhe und innere Größe, die sie durch ihre Gegenwart vermitteln. Ich bin ein einfacher Mensch, aber ich habe Waffen zum Kämpfen. Und bis jetzt habe ich gut gekämpft, auch ohne Telepathie und all diese Dinge. Man sagt, die von Europa können mit einem Gedanken das Gehirn der Viecher verbrennen. Ich verlass mich auf meine menschlichen Instinkte und auf meine Waffe hier. Sie wirkt fast schmerzlos. Wahrscheinlich ist das humaner, als denen die Gehirne zu verschmoren.“ Er ärgerte sich ein wenig, dass er sich fast gerechtfertigt hatte. Es war in Mode, man ließ sich infizieren. Man meditierte wie verrückt, machte sich bereit für den großen Augenblick, den Bewusstseinssprung. Er wollte aber nur er selbst bleiben, scheute sich vor jeder Veränderung, obwohl das Leben oft bitter schmeckte.

Der Korporal wechselte das Thema. „Wie war's im Zoo?“

„Im Zoo?“

„Na Sie wollten doch mit ihrer Tochter …“

„Ach, das Wetter war nicht recht danach. Im Aquarium waren wir, anschließend gings ab ins Kino. Ein Fantasyfilm. Sie wissen ja, was die Kinder so sehen, mit Vampiren und so.“ Heinz öffnete den Ordner, der neben ihm lag. Er zog das erste Blatt heraus und las. „Aha, ein Verdächtiger. Es wird nicht mit wesentlichem Widerstand gerechnet. Keine Kinder dabei. Was die Sache vereinfacht. Kinder sind schwer zu fangen. Erst ab zehn Jahre darf man ja schießen, vorher kann die Schockwaffe sie angeblich töten. Unser Schütze Frey holt sie gottlob meistens ein. Nicht wahr?“ Er blickte sich zum Schützen um, der zwei Reihen hinter ihm saß. Schütze Frey war ein geborener Europabewohner, der sich entschlossen hatte, auf der Erde zu leben. Er konnte an einer Stelle verschwinden und an einer anderen blitzartig wieder auftauchen. Ihm gelang es in fast allen Fällen, ein Netz über die verdammt schnellen Kuckuckskinder zu werfen. Manchmal ließen sich die Dinger auch mit Süßigkeiten anlocken. „Schütze Frey, Sie können sich entspannen, Sie sind momentan nicht gefragt. Alleinstehender Mann, steht auf meiner Liste.“

„Mir ist heute wieso nicht gut“, murmelte der Schütze.

„Wohl zu fett gegessen, wie?“

„Schon möglich.“

„Na, das wird schon wieder. Dann bleiben Sie mal schön hier sitzen, wir brauchen Sie nicht unbedingt. Für die anderen gilt dasselbe wie immer: ranschleichen, rauslocken, schießen, fertig!“ Im Grunde genommen, sagte sich Heinz, waren diese Wilden, die in Vorstädten Angst und Schrecken verbreiteten, noch die harmlosesten. Die wirklich gefährlichen Typen waren solche wie der Kerl, den sie hier auf der Liste hatten. Er war unscheinbar. Zufällig konnte ein Nachbar beobachten, wie er sich eine Katze gegriffen hatte, sie lustvoll würgte und ihr das Fell über die sprichwörtlichen Ohren zog. Bei solchen Taten steckten zu neunzig Prozent Kuckucke dahinter; die restlichen zehn Prozent teilten sich verrohte Jugendliche und Irre. Es gelang den Kuckucken nicht, ihre Aggressionen zu steuern, zumindest nicht dauerhaft. Solche tierquälerischen Aktionen waren ihre Ersatzbefriedigungen. Zuweilen dachten sie, es sei besser, eine Zeit lang keine Menschen zu töten, um nicht aufzufallen. Ein Typ wie dieser, der in der Innenstadt lebte und somit in gutbürgerlicher Gegend, hatte zumeist den Auftrag, die Menschheit zu unterwandern, sie auszuspionieren und gegebenenfalls im rechten Moment zuzuschlagen.

Heinz zog sich ein ziviles Sakko über, der Tarnung wegen, falls der Gesuchte durchs Schlüsselloch schauen sollte. Fünf Männer gingen in das Haus. Einer von ihnen sicherte die Wohnungen unten, das hieß, er achtete darauf, dass niemand hochlaufen und ins Schussfeld geraten konnte. Ein anderer überwachte das obere Stockwerk.

„Also, auf zur zweiten Etage.“

Heinz ging voran. Vor der Wohnungstür des Verdächtigen holte er tief Luft. Seitlich der Tür bezogen zwei Schützen Stellung, ihre Schockwaffen hielten sie im Anschlag. Heinz läutete. Niemand rührte sich. Eventuell musste man die Tür aufbrechen. Sollte der Kuckuck etwas wittern, hätte man schlechte Karten. Seine Hand tastete sich in Richtung Pistole. Das Überraschungsmoment war ihr bester Verbündeter in diesem Spiel. Wenn der Kuckuck Verdacht schöpfte, könnte er sie allesamt entwaffnen. Er gab seinen Leuten ein Zeichen. Sie sollten weiter zurücktreten. Die Dielen knarrten. Das war schlecht. Von oben her bellte ein Hund. Dummes Vieh! Heinz läutete noch einmal. „Post, ein Paket!“, rief er. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Es war schwer, die Zeit zu schätzen. Der Augenblick dehnte sich maßlos. Er sah den rechten Schützen an – ein Infizierter. Der Schütze nickte, er hatte gespürt, dass sich jemand in der Wohnung befand. Warten oder die Tür aufbrechen? Aufbrechen war der riskantere Weg; warten würde dem Kuckuck, wenn er den Anflug einer Ahnung hatte, mehr Zeit geben, eine Waffe zu holen, eine Taktik zu finden und zu türmen. Schritte, endlich, langsame Schritte. Bitte rieche nicht meinen Schweiß, dachte Heinz, denn du kannst die Angst wittern, die darin schwimmt, die Angst, die mich ausfüllt und klein macht. Die Tür öffnete sich.

„Guten Tag“, sagte der Mann, und Heinz spürte, wie eine kräftige Hand seine Kehle umklammerte. Seine Luftröhre schien in einem Schraubstock aus Muskeln eingeklemmt zu sein.

„Zur Seite!“, rief einer der Schützen.

Heinz begriff: Er stand in der Schusslinie. Mit aller Kraft drückte er sich vom Kuckuck weg. Das Untier lockerte seinen Griff und schlug unglaublich geschwind dem linken Schützen das Gewehr aus den Händen. Es knisterte, als würde man eine Papiertüte zerknüllen – das typische Geräusch der Schockwaffe. Der zweite Schütze hatte den Kuckuck erwischt. Der Körper des Feindes krachte auf die Holzdielen, zuckte einige Male und blieb wie schlafend liegen.

„Fertig“, meldete Heinz übers Funkgerät. Schon kamen zwei Männer mit einer Trage die Treppen hochgelaufen. Sie legten dem Kuckuck zur Sicherheit Fesseln an, bevor sie ihn abtransportierten.

„Mist“, fluchte Heinz, „er muss was geahnt haben!“


Im Mannschaftswagen nahm er wieder neben dem Korporal Platz.

„Alles in Ordnung?“

„Klar Korporal. Das Vieh hat mich nur kurz am Hals erwischt. Ist aber alles gut ausgegangen. Bin eben zäh. Wenn die Dinger uns nicht zerfleischen, unterwandern sie uns. Die Unauffälligen sind am gemeinsten. Tragen gebügelte Kleidung, lächeln dich an und tun freundlich wie sonst wie, deswegen erkennst du sie nicht. Selbst die besten Telepathen müssen sich lange auf sie konzentrieren, um sie aufzuspüren. Eines Tages kann das Pack überall sein, dann haben wir hier die Hölle. Aber dazu kommt es hoffentlich nicht. Es gibt ja noch uns. Wir werden's ihnen zeigen! Uns kriegen sie nicht klein, oder?“

„So ist es“,murmelte der Korporal und gab Gas.


„Mhh Mandelkuchen, der Tee ist auch fabelhaft. Dann lege mal los. Begeben wir uns also auf die Reise, zurück zur Geburt der Ersten, dieser Kuckucke. Ich muss alles darüber wissen.“

„Ich begreife Karen. Du hast viel gelitten. Sie haben dir Schreckliches angetan. Mir reduzieren sie meine Leute. Eigentlich ist es ein Dienstgeheimnis. Aber zwischen uns gibt es keine Geheimnisse. Sie haben die Truppe unterwandert. Zumindest scheint einer von ihnen dort sein Unwesen zu treiben. Er mordet. Wahrscheinlich wollen sie uns damit zeigen, wie mächtig sie sind und uns demütigen. Aber das werde ich nicht zulassen. Ich bekämpfe sie, um uns alle zu schützen. Bei dir ist da schon …“

„Sprich es nur aus: Hass! Zuweilen ja, er nagt in mir wie ein giftiger Wurm. Alles haben sie mir genommen, meine Zukunft. Mein Kind. Sein Kind.“

„Laura hat ihn geliebt, wir haben uns so gefreut. Ich wäre gerne immer noch seine Tante. Aber es ist nicht so. Das Schicksal lässt sich nicht zwingen.“

„Diese Tiere haben mein Kind aus dem Leben gerissen!“

„Wunden können eines Tages zur Kraft der Weisheit werden. Diese Tür kannst nur du selbst öffnen. Aber lass dir erzählen, wie es weiterging, damals: Also, wo waren wir noch gleich? Die Affengene, ja die funktionierten prima. Die Menschheit gedieh mit den neuen Körpern, die zu dem Planeten Erde passten, trotz der Schwierigkeiten, die auftreten, wenn Intellekt und animalische Triebe aufeinanderprallen. Die Menschen bekämpften sich, bildeten Allianzen, begannen alle möglichen Torheiten, aber sie überlebten. Es gab Zeiten, da schauten wir Europäer nur noch selten bei ihnen vorbei. Es existierten ja die Verträge über Nichteinmischung, es schien alles gut zu laufen. Auch die Ersten hatten überlebt, sie hausten weit weg von den Menschen. Fast hätten wir sie vergessen. So vergingen die Jahre. Uns wurde klar: Es würde sich niemand mehr auf der Erde an die Verträge erinnern, zumal sich die Menschen nicht einmal mehr an ihre einstige Schrift entsinnen konnten. Ihre Kultur wurde mündlich weitergegeben, Dinge, die in ferner Vergangenheit geschehen waren, erschienen in nebelhaften Andeutungen. Sie hatten ihren eigentlichen Sinn verloren. Immer wieder sahen wir nach ihnen, griffen aber kaum in die Geschehnisse ein. Es begann eine Zeit, da hatten sich nicht nur Menschenaffen herausgebildet, sondern auch andere menschenähnliche Primaten. Es kam zu Konkurrenzkämpfen, die Menschen wurden angegriffen und dezimiert. Wir fanden eine Lösung für diese Herausforderung.“

„Ihr habt also endlich eingegriffen?“

„Sicherlich, ihr ward unsere Schwestern und Brüder. Wie wurden hier die Häuser geschützt, bevor es Alarmanlagen gegeben hat?“

„Wachhunde?“

„Ja, Hofhunde. Die gab es ja inzwischen zur Genüge: die Ersten. So stiegen wir, die alten Götter, vom Himmel herab. Wir dressierten die Ersten, machten die Vorläufer von Wachhunden aus ihnen.“

„So taugten sie dann doch noch zu etwas.“

„Man muss alle Ressourcen nutzen. Die Ersten waren kräftige primatenähnliche Wesen, halb Affe, halb Wolf. Und wie gelehrig sie waren! Ihre Intelligenz hatte sich überraschend gut entwickelt. Leider steckten sie voller Aggressionen. Also begann die Bändigung der Raubtiere. Wir fanden einen Kniff heraus, der uns dabei nützlich war. Wir drangen in ihre Köpfe ein und reizten dort das Schmerzzentrum. Wir nannten es die Klammer. Es fühlte sich für sie so an, als würden dabei ihre Köpfe zerquetscht. Sicherlich lernten sie auch, indem man ihnen Belohnungen anbot, aber immer wieder konnte das Raubtier durchbrechen.“

„Ihr hättet ja auch ihre Aggressionen mit Medikamenten drosseln können, oder sie operativ ...“

„Wir brauchten ihre Aggressionen, sie mussten nur in die richtige Richtung gelenkt werden. Sie sollten helfen, Tiere zu dezimieren, die dabei waren, Intelligenz zu entwickelten. Nur Menschen sollten sie nicht angreifen. Die Menschen übrigens konnten recht gut mit den Ersten umgehen. Ich glaube, die Ersten mochten sie, uns mochten sie weniger. Die Menschen dagegen liebten uns, sie hielten uns für höhere Wesen. Sie hatten längst vergessen, dass wir die gleichen Wurzeln teilten. Die Enceladusaner haben unser Eingreifen erwartungsgemäß mit Missvergnügen registriert. Erste Spannungen machten sich zwischen den Eismonden bemerkbar. Aber das hat vorerst keine Folgen gezeigt. Als die Gefahr gebannt und alle anderen Primaten, die einen Ansatz von Intelligenz zeigten, reduziert waren, wurden die Ersten überflüssig.

Da uns die Menschen als Götter ansahen, galt unser Wort als Gesetz. So trennten wir die Ersten von ihnen. Und wieder gingen Jahre ins Land, wie man auf der Erde sagt. Abermals wurden die Ersten fast vergessen. Sie lebten fernab der Siedlungen in unzugänglicher Wildnis. Die Menschen vermehrten sich eifrig, bauten Pflanzen an, gründeten Städte. Lange Zeit war es uns entgangen, dass einige von ihnen zu den Ersten Kontakt gehalten hatten, nämlich auf der seelischen Ebene. Du weißt, wovon ich rede, von geisterhaften Wesen, Elfen, Kobolden, Dämonen. Die Ersten verfügten über telepathische Fähigkeiten.“

„Wie ihr?“

„Ja, genau wie wir, wie die Engel. Sie aber waren nicht wie wir, sie glichen gefallenen Engeln. Wir wussten: Sie gefährden die Menschen. Sie waren auf einer tiefen Ebene unvollkommen und trugen das Böse in sich wie eine unheilvolle Saat. Sie waren nichts weiter als ein misslungenes Experiment.“ Alice schloss die Augen und erblickte Bilder vor sich, alte Bilder aus einem fernen Leben. Sie entsann sich. Es war vor Jahrtausenden gewesen. Sie, die andere Alice, die damals gelebt hatte, schritt durch den Palast, der ihr Tempel war. Eigentlich handelte es sich um das Hauptquartier Europas auf der Erde. Das Dasein ist eine Schnur, worauf die einzelnen Leben wie Perlen gezogen werden. Als Kind auf Europa wusste sie noch nichts von den anderen Perlen, die auch alle ihre Leben gewesen waren. Als sie älter wurde, stiegen Erinnerungen hoch, Fragmente vergangener Schicksale, anderer Zeiten. Aber in Wahrheit hatte es immer nur eine Alice gegeben. All die Körper waren wie Kleider, die sie ab und zu wechselte.

Dienstag, 12. April 2022

                                          24


Stunden später stampfte Heinz durch den dunkelbraunen Matsch, den das Tauwetter hinterlassen hatte. Gnadenloser Wind klatschte ihm ins Gesicht. Die Kälte fraß sich bis zu den Knochen durch. Als er die Kneipentür aufstieß, kam ihm wohlige Wärme entgegen, gefolgt von Bierdunst und dem groben Gelächter der Männer. Er steuerte den Tresen an. „Bier, rasch ein Bier!“,rief er.

„Gewiss Heinz, ein großes Blondes, wie immer!“, sagte der Wirt und machte sich ans Zapfen. Heinz setzte sich auf einen der abgewetzten Barhocker. Als das Bier vor ihm stand, starrte er einen Moment ausdruckslos die Schaumkrone an, bis er endlich das Glas an die Lippen setzte und die herbe Flüssigkeit durch seine Kehle rinnen ließ, bis hinab in den Magen, hinein ins Blut, ins Herz und ins Hirn, bis sie die Seele erreichte, die eingehüllt sein wollte von der sanften Wolke des Rausches. „Bier, ich brauche noch ein Bier!“

Der Wirt füllte ein neues Glas und stellte es vor Heinz hin. „Wohl bekomms!“

Auch dieses Glas konnte den Durst nicht löschen, der immer größer wurde, je mehr er trank. So folgte ein weiteres Bier, dann noch eines. Getrieben von einem inneren Zwang stand Heinz von seinem Hocker auf und rief: „Heute habe ich frei, morgen auch, dann aber gehts los! Ich werde diesen Kuckucken in den Arsch treten! Ich werde meinen Männern nicht befehlen, nein, ich werde sie bitten, ihnen die verdammten Gedärme herauszureißen, um sie ihnen ins dreckige Maul zu stopfen. Das sind nicht einmal Tiere, das ist Geschmeiß! Das ist Gezücht, das uns unser Leben rauben will. Es muss ausgemerzt werden!“

Einer der Männer im Raum meinte, es gäbe vielleicht eine andere Lösung.

„Unsinn“, fuhr Heinz fort, „Träumereien sind das. Du hast nicht gesehn, was ich habe sehn müssen, all die Toten, die zerfetzten Körper. Ich sage euch, Hyänen sind dagegen Schmusetierchen. Aus der Hölle kam diese verpisste Brut gekrochen. Sie haben keine Moral, kein Herz, sie bestehen aus reiner Mordgier. So ist das! – Noch ein Großes, Wirt!“ Gierig kippte er ein letztes Bier herunter. „Ich muss nach Hause“, sagte er, „meine Familie wartet. Die machen sich sonst Sorgen.“

„Ja Heinz, jetzt ists gut. Geh heim!“

Er warf das Geld auf die Theke und ging hinaus in die Kälte.


Zu Hause angelangt fummelte er eine Weile am Schlüsselloch herum, bevor sich die Tür öffnen ließ. „Endlich da!“, rief er, schaltete das Licht ein und schlürfte schwankend in die Küche. Im Kühlschrank wartete eine Flasche Bier auf ihn. Er öffnete die Flasche und nahm sie mit ins Wohnzimmer, dort setze er sich in einen abgeschabten Sessel. Hier saß er immer, es war sein Sessel, sein Platz. Stille sickerte aus den Wänden. Sein Blick wanderte mechanisch zum Regal, dorthin, wo das Bild von den beiden stand, von seiner Tochter und seiner Frau. Er sackte in sich zusammen, er schluchzte, wurde zu einem Haufen aus Schmerzen, zur armseligsten Kreatur unter dem Himmel.


Es war ja so leicht, man musste nur das Bewusstsein über den eigenen Kopf schweben lassen, schon erblickte man die Welt von oben. Unter Wasser roch es anders als in der Welt der Luft und der Trockenheit. Hier schwebten die Düfte feiner, mischen sich zarter ineinander, sie waren nicht so getrennt wie in der Tiefsee Europas. In den Gärten wucherte die Natur mit Flieder, Tulpen und Kirschblüten. Und zu den wirr umherflatternden Düften gesellten sich Frühlingsfarben. Dunkles Blau umkränzte goldgelbe Fäden im Herzen einer Blume, deren Name sie nicht wusste. Aber was bedeuteten schon Worte? Das Grün zappelte an den Bäumen als Blätter, wogte als Gras, verbog sich als Stängel einer Mohnblume, blitzte aus den Augen der Katzen. Winzige Wolkenstücke flossen durch das Hellblau, das sich über den Sommer spannte. Kinder lachten, Hunde bellten – schon war sie eingetaucht in den Gesang einer Amsel, im glitzernden Spiel der Steine, in Farben, in Klängen. Sie spürte den Atem der Menschen, fühlte in ihrem Herzen den Schlag aller Herzen, spürte alle jene, die so waren, wie sie war, verloren und haltlos, die selig gestorben, angesichts des honigsüßen Augenblicks. Sie sah ihrem eigenen Körper zu, wie er unter ihr dahinlief. Ein Blitz durchzuckte sie. Etwas wollte herausfallen aus dem Frieden, der sie umgab, etwas Wütendes, Schmerzvolles. Offen lud sie das Fremde ein, machte sich weit, als wäre sie ein großer Mantel und schloss sich wieder, um es zu wärmen. Sie blickte in das Herz eines Mädchens. Es war jünger als sie, noch ein richtiges Kind. Welche Verzweiflung trug diese kleine Seele! Sie spürte Flammen von Schmerz, von Trauer und inmitten von alldem hockte die Kälte wie ein bösartiger Gnom. Laura holte ihr Bewusstsein in den Kopf zurück und lief in die Richtung, die ihr das Herz anzeigte.


Sie fand die Kleine auf den Stufen eines Gartenhauses sitzend. Ihr Rücken war gebeugt, sie hielt etwas in der Hand und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Laura ging durch die Pforte und blieb vor dem Mädchen stehen. Es blickte mit geröteten Augen zu ihr auf und sagte: „Tot ist er, er ist tot.“

Reglos lag er in ihrer Hand, der Wellensittich, den Schnabel ausgesperrt.

„Es tut mir leid“, sagte Laura, „aber eines Tages muss alles …“

„Ich hab's getan, habe zugedrückt und immer mehr gedrückt. Die Seele flog raus. Er ist weg.“

Laura tastete das Gehirn des Kindes ab, dessen Gedanken wie in einem Futteral steckten, halb verborgen, halb unverständlich. Sie konnte sie nicht lesen. Dieses Kind war anders, als die Kinder, die sie sonst kannte. „Wo sind deine Eltern?“, fragte sie.

„Arbeiten. Mutti kommt abends, Papi kommt selten.“

„Soll ich mal wieder nach dir sehen?“

Die Augen der Kleinen weiteten sich. „Spielst du dann mit mir?“

„Ja, okay, gewiss doch.“

„Ich habe nämlich keine Freunde“, sagte das Mädchen ernst.

Laura strich ihr sanft über die Locken. „Wir sollten ihn begraben.“

„Ja, wir begraben ihn.“


„Du bist spät Schatz, hat das einen Grund, oder gehört das mit zur Pubertät?“

„Ich habe ein Mädchen getroffen, mit ihr ein wenig geredet.“

„Oh, eine neue Freundin?“

„Ja, äh nein, ich meine, sie ist nicht in meinem Alter. Sie ist noch ein Kind. Sie wohnt ein paar Ecken weiter, ihre Eltern kommen erst abends, sie ist den ganzen Tag alleine. Sie tut mir leid.“

„Entschuldigung, ich wollte deine Gedanken nicht lesen, aber es drängte sich auf: Du denkst an den Tod, an etwas Totes, oder?“

„Ihr Vogel, ihr Sittich, er ist gestorben. Ich meine, nicht nur einfach gestorben, sie hat ihn getötet, mit Absicht.“

„Getötet?“

„Zerdrückt.“

„Zerdrückt?“

„Ja, mit den Händen.“

„Sie hat wirklich Schwierigkeiten.“

„Ich kümmere mich etwas um sie.“

„Gut – falls sich da ein Abgrund auftun sollte, du weißt ja, wo ich wohne.“

„Klar Mama, immer in meinem Herzen.“

„Du auch in meinem, Schatz.“

„Ich muss noch Schularbeiten machen.“

„Klar doch, lass dich nicht ausbremsen von mir. Übertreibe es nicht, du warst schon immer so fleißig, auch letztes Jahr in der Schule auf Europa.“

„Aber das ist etwas anderes. Auf Europa fließt das Wissen direkt in dich hinein, hier musst du es dir erobern.“

„Ich glaube, ich habe die klügste Tochter auf allen drei Welten.“

„Ich hoffe, du täuschst dich nicht“, sagte Laura und ging auf ihr Zimmer.


Alice wandte sich ihrem Computer zu, um LSD im Internet zu bestellen. Neben ihr lag das Buch, das in ihr eine interessante Idee entzündet hatte. Der Autor hieß Timothy Leary, der Titel des Werkes lautete Exo Psychologie. Anscheinend, so suggerierte das Buch, konnte man mithilfe von LSD nicht nur das eigene Nervensystem programmieren, sondern auch den genetischen Code neu ordnen. Natürlich war DNA-Forming auf Europa eine bekannte Praxis. Man benötigte dazu einige Spezialisten, medizinische Geräte und Zeit. Auf diese Art wurde ihr ursprünglicher Körper in einen menschlichen verwandelt. Sie aber wollte etwas anderes erreichen: eine sofortige Transformation, ausgelöst von einem Gedanken. Eine vollkommen flexible Körperform.

Es läutete an der Tür. Alice brach ihre Bestellung ab. Karen schaute vorbei. Sie bat sie herein, brühte Tee auf und reichte Kekse. „Laura ist mit ihren Hausaufgaben beschäftigt. Du kannst sie später begrüßen. Schön, dass du da bist.“

„Ich schaue gerne mal einfach so rein. Allerdings, dieses Mal habe ich einen besonderen Grund. Ich habe Fragen Alice. Bestimmt kannst du sie mir beantworten.“

„Klar, ich helfe gerne, im Antworten geben bin ich super.“

Karen nahm einen Schluck Tee. „Köstlich wie immer.“

Echt japanischer Sencha.“

„Mhh, wirklich gut. Meine Frage betrifft unser Problem zurzeit, das Problem mit ihnen.“

„Es gibt kein Problem, es gibt nur eine Herausforderung. Wenn ich dich richtig verstehe, redest du von den Ersten.“

„Genau. Sie verstecken sich, vermehren sich, tauchen plötzlich auf, töten Menschen, selbst vor Kindern machen sie nicht halt. Es sind Monster. Wir wissen nichts über sie. Sie sollen die Körper der Menschen benutzen wie ein Gefährt, sagt man. Ich meine, Europa hält absichtlich Informationen zurück. Wer sie auch sind, sie fallen doch nicht aus reiner Mordgier über uns her. Ich denke, es gibt eine Vorgeschichte.“

„Sie sind hochgradig aggressiv, glaube mir, das liegt in ihrer Natur.“

„Du scheinst sie ja gut zu kennen.“

„Das soll doch nicht etwa ein Verhör werden?“

„Ach was, ich bohre, weil ich mir Fragen stelle und neugierig bin.“

„Ich verstehe dein Bohren. Du hattest es nicht leicht. Es war schrecklich, was du hast durchmachen müssen. Also, dann erzähle ich mal. Nun ja, es gibt eine Vorgeschichte. Man muss nicht alles gleich den Medien zum Fraß vorwerfen. Auf jede Wahrheit kommen ja heutzutage mindestens zehn alternative Fakten. Bevor einiges falsch verstanden wird, hat der Rat von Europa sich entschlossen, die Wahrheit häppchenweise anzubieten.“

„Ich vertrage einen fetten Brocken davon.“

„Also, wenn du meinst, fangen wir an“, sagte Alice. „Die Geschichte der Kuckucke, wie die meisten Erdenbewohner sie nennen, weil sie nicht wissen, warum sie diese Wesen die Ersten nennen sollten, begann am Anfang. Ganz am Anfang.“

„Am Anfang wovon?“

„Am Anfang der Geschichte des bewussten Lebens auf der Erde. Wie du weißt, wollten damals jene von uns, die sich die Erde als Heimat ausgesucht haben, in den evolutionären Strom eintauchen und sich in die Natur des Planeten integrieren.“

Ja, deswegen die Manipulation der Urschimpansengene, das sollte uns die Anpassung an die neue Umwelt erleichtern. Der Grund, warum wir genetisch am meisten mit den Schimpansen verwandt sind.“

„Das stimmt. Was du allerdings nicht weißt – zuvor wurde ein anderer Weg probiert. Man hat viele Tiere untersucht, ihr Verhalten beobachtet und mit ihrer Erbinformation in Zusammenhang gesetzt. Mit diesem Wissen im Hintergrund wurden sie gezüchtet.“

„Du meinst jetzt nicht die Ersten, oder?“

Alice nickte. „Wir haben Körper produziert. Wesen mit geringer Intelligenz, aber mit hoch entwickelten Instinkten. Tiere eben. Extrem überlebensfähig. Sie sollten erst einen Testlauf absolvieren, bevor sie als Vorlage für die neuen Körper dienen konnten. Schließlich fand man heraus, dass die Vorläufer der Schimpansen ideale Voraussetzungen zeigten. Ihre Hände, ihre nach vorn gerichteten Augen, ihr Zusammenleben in Gruppen, alles passte recht gut. Man hat die Urschimpansengene manipuliert. Die Erschaffung des Menschen. Zumindest seines Körpers. So entstand der Homo sapiens. Es wurden auch einige Varianten hergestellt, um den Genpool zu vergrößern. Du kennst das ja aus der Schule, Homo neanderthalensis beispielsweise, dessen Gene man bis heute bei europäischen und asiatischen Populationen feststellen kann.“

„Und diese Ersten, was wurde aus ihnen?“

„Na vergessen wurden sie, sie hatten ihre Bedeutung verloren. Sie waren nicht mehr als ein gescheitertes Experiment. Tief in den Wäldern hausten sie weiterhin, anpassungsfähige Tiere, von uns erschaffen, um sich auf der Erde durchzusetzen.“

„Und ich vermute, es blieben keine Tiere.“

„Nein, blieben sie nicht. Sie entwickelten sich rasch. Als sie begannen Werkzeuge zu benutzen und sich eine Sprache bei ihnen ausbildete, wurden sie immer bösartiger. Viele ihrer Clans schlachteten sich gegenseitig ab – es war weitaus schlimmer als bei den Menschen. Ein Wunder, dass sie sich nicht gegenseitig ausgerottet haben. Gewiss, auch bei den Menschen gab es Kriege, Morde, Zwietracht, sie konnten sich aber ebenso in andere einfühlen, kooperierten miteinander. Trotz ihrer zeitweiligen Grausamkeit zeigten sie immer wieder das, was man Menschlichkeit nennt. Sie gingen ihren Weg. Wir haben sie dabei hin und wieder unterstützt, wie du ja weißt. Als die Menschheit sich immer mehr ausbreitete, wurden die Ersten zu einer Herausforderung. Obwohl weniger intelligent als die Menschen, bedrohten sie deren junge Kultur. Sie überfielen Siedlungen, sie töteten jeden, der ihnen in die Klauen fiel. Sie waren unseren Geschwistern auf der Erde körperlich überlegen. So haben wir eingegriffen und lösten die Schwierigkeiten mit den Ersten kreativ auf. – O mein Telefon – entschuldige mich kurz, es ist das Diensttelefon.“ Überrascht von der Nachricht, die sie erhielt, murmelte Alice ein paar abgehackte Sätze, dann beendete sie das Telefonat. „Es tut mir leid, es ist der Fluch meines Jobs. Es ist sehr wichtig, eine schlimme Sache. Ich muss sofort ins Hauptquartier unserer Einheit. Den Rest der Geschichte erzähle ich dir, wann immer du willst. Und du kannst gerne noch bleiben. Laura müsste gleich mit ihren Hausaufgaben fertig sein.“

„In Ordnung, ich schaue mal, was sie macht.“

„Fein, ich rufe dich heute Abend an“, versprach Alice, nahm ihr Schlüsselbund und eilte aus dem Haus.


Der Wachposten erkannte Alice nicht, so musste sie ihren Dienstausweis vorzeigen. Er salutierte. Ich sollte mich mehr um die Leute hier kümmern, dachte sie, zumindest sollten sie mich erkennen – auch ohne Uniform. Zum Umziehen hatte sie sich angesichts der schlechten Nachricht keine Zeit genommen. Im Büro hing zudem immer eine frische Uniform. Dort angekommen zog Alice sie an und blickte in den Spiegel, der an der Innenseite der Schranktür befestigt war, ein Extrawunsch von ihr, Europäerinnen waren eitel, zumindest was das Äußerliche anging. Die Uniform saß wie immer perfekt. Das Gesicht konnte die Unruhe nicht verbergen. Sie atmete tief durch, es war so ähnlich, wie Wasser durch die Kiemen zu spülen und erfrischte ein weinig. Sie griff zum Telefon und beorderte drei Offiziere in den Konferenzraum.


Die Offiziere erwarteten sie. Sie grüßte knapp. „Meine Dame, meine Herren, was ist passiert?“

Leutnant Mahler ergriff das Wort. „Zwei Tote, beide innerhalb des Dienstgebäudes. Offenbar einem Attentat zum Opfer gefallen. Genauer gesagt, es handelt sich um zwei Attentate.“

„Innerhalb des Dienstgebäudes sagten sie? Also hier vor unserer Nase.“

„Ja Frau Major. Ein Angriff von innen. Es scheint, als hätte man unsere Truppe unterwandert. Zudem ist es denkbar, dass es in diesem Zusammenhang noch mehr Opfer gegeben hat, draußen bei den Einsätzen, bei denen wir annehmen mussten, sie wurden von x-beliebigen Ersten getötet.“

Alice fasste zusammen. „Also, es existiert, so sieht es zumindest aus, ein Attentäter in unseren Reihen, oder es sind sogar mehrere. Wir wurden eventuell unterwandert, was bedeutet, der Feind trägt unsere Uniform. Natürlich untersuchen wir unsere Leute regelmäßig, aber die Ersten lernen dazu. Es wird immer schwieriger, sie zu entdecken. Sie wissen ja, ihre Gehirnfrequenz ist teils menschlich. Sie lassen alles in ihrem Wirtskörper übrig, was ihnen zur Orientierung und zur Tarnung nutzt. Auch sind ihre Gedanken kaum zu lesen. Wir werden ab heute gründlicher bei der Auswahl der Leute vorgehen müssen. Allerdings können wir das Personal nicht einfach so auf Unregelmäßigkeiten in Gedankenmustern untersuchen. Gedankenlesen ist nur mit Einwilligung erlaubt. Wie dem auch sei, wir dürfen nicht einfach in die Privatsphäre eindringen. Wegen ähnlicher Übergriffe wurde die letzte Regierung unter anderem ja abgesetzt.“

„Von 70 Prozent unserer Leute werden wir die Erlaubnis gewiss bekommen.“

Alice sah Frau Oberleutnant Podewsky skeptisch an. „Ich weiß ihren Optimismus zu schätzen, aber ich rechne mit 20 Prozent, wenn's hochkommt. Sie wissen ja, es menschelt überall. Einer hat bei der Steuer geschummelt, der andere findet eine Kollegin attraktiv, und sie alle wollen ihre kleinen Geheimnisse für sich behalten. Manche haben gar kein Geheimnis, wollen allerdings aus Prinzip nicht, dass man sie ausspioniert. Wir müssen das akzeptieren. Das Gesetz schützt das Recht der Menschen auf ihre Privatsphäre. Wir alle haben dafür gekämpft.“

Hauptmann Kullmann meldete sich zu Wort. „Gestatten Sie mir eine Bemerkung Frau Major: Was, wenn wir nicht von den Ersten direkt unterwandert wurden, sondern von Menschen, die mit ihnen kooperieren. Sie werden das nicht freiwillig tun, gewiss nicht, aber vielleicht erpresst man sie. In diesem Fall müsste umfassend ermittelt werden.“

„Veranlassen Sie das, Hauptmann, nutzen Sie den gesetzlichen Spielraum so weit wie möglich aus“, sagte Alice. „Etwas allerdings macht mich stutzig. Wenn sie uns wirklich unterwandern sollten, und wir haben es nicht mit einem Kranken zu tun, der sein Unwesen treibt, warum begnügen sie sich nicht damit, an interne Informationen zu gelangen, sondern töten welche von uns? Das lässt doch ihre Tarnung auffliegen, wie man so sagt.“

„Eventuell haben die Opfer ja Verdacht geschöpft. Deswegen wurden sie beseitigt“, gab Leutnant Mahler zu bedenken.

Durchaus möglich.“