25
Am nächsten Morgen hatte Alice recht früh ihren Dienst angetreten. Sie erwartete, dass er pünktlich kam. Als es an der Tür klopfte, erhob sie sich. „Herein“.
„Guten Morgen frau Major.“
Sie ging einen Schritt auf ihn zu. „Lass dich anschauen. Gut siehst du aus. Ich hoffe, du konntest dich ausreichend erholen. Ich meine nach alldem, was wir … was ich dir zugemutet habe.“
„Schon gut, alles ist gut geworden. Die Therapie in der Tiefseekolonie war fantastisch. Man vollbringt dort wahre Wunder.“
„Setz dich doch Andy. Ja, es arbeiten hervorragende Leute da unten. Wie ich hörte, hast du dich mit Min-Jee ausgesöhnt?“
„Ja, sie ist ein toller Mensch. Ich habe viel gelernt von ihr. Nicht nur über Energie.“
„Sie ist wahrlich eine Meisterin. Die Enceladusaner haben sie mit den besten Gaben beschenkt. Die Infizierten und wir Europäer, die mit ihr in Kontakt kamen, verfügen nun alle über die energetischen Kräfte von Enceladus. Unter uns gesagt, was den energetischen Aspekt betrifft, habe ich nicht so viel Talent. Ich bin grade mal dazu fähig, Mais in die Hand zu nehmen und daraus Popcorn zu machen. Da kann ich mich bei Weitem nicht mit deiner Lehrerin vergleichen. Sie ist eben Min-Jee.“
„Du stammst vom Mond Europa. Bei einem Wettschwimmen würde sie bestimmt keine gute Figur neben dir abgeben.“
Alice lächelte. „O ja, ich zische locker an einem Delfin vorbei. Und ein Blug kommt nicht einmal in meine Nähe.“
„Was ist ein Blug?“
„Ein Tier auf Europa, es hat keinen guten Charakter. So gerne ich mit dir noch weiter über Europa und meine Schwimmkünste plaudern würde, muss ich auf eine ernste Sache zu sprechen kommen. Ich sage es geradeheraus: Deine Aufgabe könnte gefährlich werden. Ich hoffe nicht, dass du dazu genötigt sein wirst, deine energetischen Fähigkeiten als Waffe einzusetzen. Du bist hier, damit du interne Ermittlungen durchführst. Vorerst verdeckte Ermittlungen. Offiziell bist du so etwas wie ein Laufbursche. Du bringst mal eine Akte dahin, mal ein Paket dorthin.“
„Wie kommst du auf mich? Ich bin weder von der Polizei, noch ein Geheimagent.“
„Du kennst gewiss diese Gangsterfilme. Wie sagen sie dort immer? Einen Bullen riecht man meilenweit gegen den Wind. Außerdem traue ich dir. Du hast ja schon einmal für mich gearbeitet.“
„Höre mal Alice, ich meine, Frau Major.“
„Ist schon gut, wenn wir unter uns sind, kannst du mich ruhig Alice nennen.“
„Ich habe für dich gearbeitet? Du hast mich manipuliert!“
„Schau Andy, die Situation verlangte damals … Trotzdem, ja, ich habe dich manipuliert.“
„Es ist mir mit Verlaub beschissen gegangen. Es war kein Zuckerschlecken, als ich gelähmt im Bett lag!“
„Es tut mir leid. In der Situation aber haben wir getan, was wir tun mussten. Niemand kann sich dem Schicksal entziehen. Es waren für uns alle schwierige Zeiten. Kurz zuvor sind mir meine Fähigkeiten genommen worden, man hatte mich gefangen gehalten und die Enceladusaner waren dabei, uns anzugreifen. Mag sein, dass ich seinerzeit zu wenig Verständnis für dich gezeigt habe. Nur weil ich von Europa stamme, bin ich kein höheres Wesen. Auch wir haben ein Recht auf Unvollkommenheit. In der Vergangenheit haben wir viel zu oft Götter gespielt. Wir sind genauso anfällig für Schwächen, wie die Menschen es sind. Wir haben allerdings nie den Faden verloren, der uns mit dem Ursprung verknüpft. Jetzt können wir gemeinsam und mit vereinten Kräften und Herzen auf die Quelle schauen, aus der wir kommen.“
„Natürlich hast du recht. Entschuldige. Ich habe dich moralisch in die Enge getrieben.“
„Es wäre schön, wenn wir uns gegenseitig verzeihen könnten, und wir alle uns selbst.“
„Du bist mindestens so weise wie Min-Jee.“
„Es ist wichtig, dass wir uns vertrauen. Ich halte dich für den Richtigen, was diesen Job betrifft. Ich glaube an deinen Erfolg. Es ist gut, dich an meiner Seite zu wissen.“
„Okay Alice, ich bin dabei“, sagte Andy und reichte ihr die Hand.
„Fein, dann kannst du morgen anfangen! Hauptmann Kullmann wird ebenfalls Ermittlungen durchführen. Er weiß über dich Bescheid, bisher als Einziger. Du bist allerdings ausschließlich mir persönlich verantwortlich. Der Mannschaft gegenüber lasse ich durchsickern, du seist der Sohn eines Politikers, sollst hier ein wenig Karriere machen und hast einige Sonderrechte, zum Leidwesen aller.“
Unglaublich – sie raste um den Kirschbaum herum, hielt kurz inne und legte wieder los. Nach rechts sprang sie, nach links sprang sie, sauste zwischen den Beeten hindurch, blieb abermals stehen, bis Laura nahe bei ihr war, dann rannte sie weiter. „Ich kriege dich!“, rief Laura. Noch nie im Leben hatte sie ein derart flinkes Mädchen gekannt. Es war unmöglich, sie zu fangen. Sie hätte ebenso gut mit einem Gepard um die Wette laufen können. Ihre Eltern hatten gewiss eine recht große Dosis der Energie von Enceladus abbekommen und sie ihr weitervererbt. Laura blickte in sich hinein. Die Fäden des Schicksals zeigten ihr an, dass sie niemals schnell genug sein würde, um die Kleine einzuholen. Selbst nicht, wenn sie schummelte und Gedanken läse, um herauszufinden, welche Richtung sie einschlagen würde. „Ich gebe auf, ich erwische dich nie und nimmer!“, rief sie.
„Okay, ich habe gewonnen!“
„Ja, das hast du.“
Sie setzten sich unter einen der Kirschbäume. „Es ist schön, dass du wiedergekommen bist“, begann Lahama, „es wäre sonst langweilig. Papa bleibt länger weg als sonst immer. Er arbeitet viel, ist fleißig. Wenn er wieder Zeit hat, gehn wir zum Rummel. Magst du Zuckerwatte?“
„Als ich klein war, da liebte ich sie.“
„Zuckerwatte ist toll. Ich darf bei Papa Kinderkarussell fahren. Die anderen aber nicht, die großen Karussellen.“
„Es heißt Karusselle oder Karussells“.
„Auch große Karussells darf ich nicht fahren, egal wie sie heißen. Aber eigentlich habe ich auch Angst vor den großen Karusselle ...“
„Es heiß jetzt Ka … schon gut, erzähle weiter.“
„Am liebsten fahre ich das Kinderkarussell. Reite gerne auf dem Pferd. Die Kutsche mag ich auch. Auf dem Einhorn reiten, ist toll. Da werde ich hingehn, wenn er endlich wiederkommt, mein Papi.“
„Wird bestimmt prima“, sagte Laura.
„Kannst du mir 'nen Zopf flechten?“
„Klar doch – hast du einen Gummi dabei?“
„In der Tasche.“
„Na dann los!“, rief Laura und begann zu flechten. Als sie fertig war, wickelte sie sorgsam den Gummi um das Ende des Zopfes.
„Da ist Mutti!“, rief Lahama, sprang auf und rannte ihrer Mutter entgegen, die in diesem Augenblick zum Tor hereinkam.
Sie hob ihre Tochter hoch und küsste sie. „Tut mir leid, dass ich so spät bin. Ich hatte viel zu tun. Jetzt bin ich für dich da, Liebes“, sagte sie mit zärtlicher Stimme, begrüßte dann Laura und schloss die Haustür auf. Sie wandte sich wieder Lahama zu. „Sag brav Auf Wiedersehen zu deiner Freundin. Und geh dir schon mal die Hände waschen. Gleich gibts Essen, Spaghetti.“
Lahama verabschiedete sich von Laura und eilte ins Haus.
„Ich habe euch eine Weile vom Zaun aus beobachtet. Du hast dich so lieb um sie gekümmert. Es sind schwere Zeiten. Hat sie von ihrem Vater gesprochen?“
„Ja hat sie, er soll sehr beschäftigt sein. Sie will am liebsten mit ihm zum Rummel gehen.“ Laura bemerkte, wie sich Feuchtigkeit in den Augen von Lahamas Mutter sammelte, bis Tränen auf die steinerne Treppe des Hauses fielen.
„Er ist tot, verstehst du? Er wird nie mehr mit ihr zum Rummel gehen. Sie weiß es noch nicht. Ich werde es ihr heute sagen müssen. Ich werde ihr sagen, ihr Vater ist an einem schönen Ort, an einem besseren Ort.“
„Es tut mir so leid“, flüsterte Laura. „So leid.“
„Guten Morgen Korporal. Sind Sie bereit?“
„Gewiss Feldwebel!“
Heinz mochte den Korporal, er legte im Umgang mit ihm keinen Wert auf die üblichen militärischen Formalitäten.
„Da kommt sie,“ bemerkte der Korporal unsinnigerweise.
„Es muss wichtig sein, was sie uns zu sagen hat. Sie würde sonst nicht persönlich auf dem Lichthof erscheinen.“
Die Frau Major begann: „Guten Morgen. Ich freue mich, Sie zu sehen. Dass ich Sie alle vor Dienstantritt hier habe versammeln lassen, hat einen Grund, der Sie erschüttern wird.“ Sie blickte in die Runde und schien jeden mit ihren ozeanfarbenen Augen zu durchleuchten. „Ich werde es geradeheraus sagen: Der Feind befindet sich in unseren Reihen. Wir wurden unterwandert. Eventuell hat man sogar unsere Einsatzpläne ausspioniert. Ab heute werden aus Sicherheitsgründen die Gruppenführer erst kurz vor Dienstbeginn über das aktuelle Einsatzgebiet informiert. Leider sind unsere Feinde bereit, rücksichtslos Gewalt anzuwenden. Seien Sie achtsam. Sollten Sie einen Verdacht hegen, reden Sie mit niemand darüber, außer mit Hauptmann Kullmann, der die Untersuchungen in diesem Fall leitet, oder wenden Sie sich direkt an mich, schriftlich, mündlich, egal – ich werde mich persönlich darum kümmern. Ich verspreche Ihnen, es wird mit allen Mitteln gegen die Bedrohung vorgegangen, für die Sicherheit der Bürger dieses Landes, für Ihre Sicherheit und zum Schutz der Föderation der Welten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Dienst. Und passen Sie auf sich auf!“ Die Frau Major blieb noch einen Moment schweigend stehen, legte die Hände auf ihr Herz und sandte eine Welle von Liebe zu den Nervensystemen ihrer Untergebenen. Sie lächelte unergründlich, bevor sie eleganten Schrittes fortging.
„Sie ist so ...“
„Ich weiß, was Sie meinen“, sagte der Korporal.
„Sie strahlt alles aus, wofür wir kämpfen.“
„Das tut sie.“
„Sie wäre die ideale Führerin in Zeiten des Friedens.“
„Sie zweifeln doch nicht etwa?“
„Nein, nein Korporal, ich würde ihr überallhin folgen. Ich hoffe allerdings, dass unser Feind ihre Güte nicht als Schwäche ansieht.“
„Wer weiß, vielleicht ist gerade das ihr schärfstes Schwert.“
Sie gingen treppabwärts, weiter zum Fahrzeughof, wo der Mannschaftswagen stand. Die anderen warteten mit ernsten Gesichtern. Neben der Schockwaffe, die im besten Fall betäubte, trugen sie ihre Pistole, die sie immer dann einsetzten, wenn sie es mit einer größeren Gruppe von Kuckucken zu tun hatten. Die Schockwaffe war wirkungsvoll, aber langsam, die Pistole schnell und zumeist tödlich.
Der Korporal setzte sich hinters Steuer, Heinz nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Schön, immer noch Tagesschicht“, sagte er. Das bedeutete, sie mussten nicht in die Randbezirke, in denen sich in der Dunkelheit die Kuckucke zusammenrotteten, sich gegenseitig aufputschten und dann durchdrehten. Nachts waren sie am schlimmsten, degenerierten gänzlich ins Tierhafte, legten alles ab, was an ihnen zuvor noch menschlich erschienen war.
„Irgendwann kommt wieder die Nachtschicht“, murmelte der Korporal.
„Nachts sind sie gruselig, wirklich gruselig.“
„Ich weiß, sie können sich regelrecht verändern. Ihre Zähne wachsen, sie sabbern wie tollwütige Hunde, laufen gebeugt wie Affen. Sie können einen zerfetzen. Ich habe das schon mit ansehen müssen. Enceladusaner haben noch eine Chance gegen sie, die von Europa ebenso, eventuell kommen auch mal Infizierte mit ein paar Kratzern davon, aber reine Menschen ...“ Der Korporal startete den Mannschaftswagen.
Heinz sagte: „Ich ahne, worauf Sie anspielen. Ich bin nicht bereit, mich infizieren zu lassen. Nicht, weil ich nicht könnte. Ich will nicht. Wenn das jemand für sich entscheidet, akzeptiere ich das. Persönlich meine ich einfach, dass es am besten ist, wenn ich mich mit dem begnüge, was mir in die Wiege gelegt wurde. So bleibe ich ein gewöhnlicher Mensch. Und ich bin stolz drauf. Trotzdem hat sich für mich viel verändert, seit unsere Wohltäter auf der Erde erschienen sind. Ich liebe diese Ruhe und innere Größe, die sie durch ihre Gegenwart vermitteln. Ich bin ein einfacher Mensch, aber ich habe Waffen zum Kämpfen. Und bis jetzt habe ich gut gekämpft, auch ohne Telepathie und all diese Dinge. Man sagt, die von Europa können mit einem Gedanken das Gehirn der Viecher verbrennen. Ich verlass mich auf meine menschlichen Instinkte und auf meine Waffe hier. Sie wirkt fast schmerzlos. Wahrscheinlich ist das humaner, als denen die Gehirne zu verschmoren.“ Er ärgerte sich ein wenig, dass er sich fast gerechtfertigt hatte. Es war in Mode, man ließ sich infizieren. Man meditierte wie verrückt, machte sich bereit für den großen Augenblick, den Bewusstseinssprung. Er wollte aber nur er selbst bleiben, scheute sich vor jeder Veränderung, obwohl das Leben oft bitter schmeckte.
Der Korporal wechselte das Thema. „Wie war's im Zoo?“
„Im Zoo?“
„Na Sie wollten doch mit ihrer Tochter …“
„Ach, das Wetter war nicht recht danach. Im Aquarium waren wir, anschließend gings ab ins Kino. Ein Fantasyfilm. Sie wissen ja, was die Kinder so sehen, mit Vampiren und so.“ Heinz öffnete den Ordner, der neben ihm lag. Er zog das erste Blatt heraus und las. „Aha, ein Verdächtiger. Es wird nicht mit wesentlichem Widerstand gerechnet. Keine Kinder dabei. Was die Sache vereinfacht. Kinder sind schwer zu fangen. Erst ab zehn Jahre darf man ja schießen, vorher kann die Schockwaffe sie angeblich töten. Unser Schütze Frey holt sie gottlob meistens ein. Nicht wahr?“ Er blickte sich zum Schützen um, der zwei Reihen hinter ihm saß. Schütze Frey war ein geborener Europabewohner, der sich entschlossen hatte, auf der Erde zu leben. Er konnte an einer Stelle verschwinden und an einer anderen blitzartig wieder auftauchen. Ihm gelang es in fast allen Fällen, ein Netz über die verdammt schnellen Kuckuckskinder zu werfen. Manchmal ließen sich die Dinger auch mit Süßigkeiten anlocken. „Schütze Frey, Sie können sich entspannen, Sie sind momentan nicht gefragt. Alleinstehender Mann, steht auf meiner Liste.“
„Mir ist heute wieso nicht gut“, murmelte der Schütze.
„Wohl zu fett gegessen, wie?“
„Schon möglich.“
„Na, das wird schon wieder. Dann bleiben Sie mal schön hier sitzen, wir brauchen Sie nicht unbedingt. Für die anderen gilt dasselbe wie immer: ranschleichen, rauslocken, schießen, fertig!“ Im Grunde genommen, sagte sich Heinz, waren diese Wilden, die in Vorstädten Angst und Schrecken verbreiteten, noch die harmlosesten. Die wirklich gefährlichen Typen waren solche wie der Kerl, den sie hier auf der Liste hatten. Er war unscheinbar. Zufällig konnte ein Nachbar beobachten, wie er sich eine Katze gegriffen hatte, sie lustvoll würgte und ihr das Fell über die sprichwörtlichen Ohren zog. Bei solchen Taten steckten zu neunzig Prozent Kuckucke dahinter; die restlichen zehn Prozent teilten sich verrohte Jugendliche und Irre. Es gelang den Kuckucken nicht, ihre Aggressionen zu steuern, zumindest nicht dauerhaft. Solche tierquälerischen Aktionen waren ihre Ersatzbefriedigungen. Zuweilen dachten sie, es sei besser, eine Zeit lang keine Menschen zu töten, um nicht aufzufallen. Ein Typ wie dieser, der in der Innenstadt lebte und somit in gutbürgerlicher Gegend, hatte zumeist den Auftrag, die Menschheit zu unterwandern, sie auszuspionieren und gegebenenfalls im rechten Moment zuzuschlagen.
Heinz zog sich ein ziviles Sakko über, der Tarnung wegen, falls der Gesuchte durchs Schlüsselloch schauen sollte. Fünf Männer gingen in das Haus. Einer von ihnen sicherte die Wohnungen unten, das hieß, er achtete darauf, dass niemand hochlaufen und ins Schussfeld geraten konnte. Ein anderer überwachte das obere Stockwerk.
„Also, auf zur zweiten Etage.“
Heinz ging voran. Vor der Wohnungstür des Verdächtigen holte er tief Luft. Seitlich der Tür bezogen zwei Schützen Stellung, ihre Schockwaffen hielten sie im Anschlag. Heinz läutete. Niemand rührte sich. Eventuell musste man die Tür aufbrechen. Sollte der Kuckuck etwas wittern, hätte man schlechte Karten. Seine Hand tastete sich in Richtung Pistole. Das Überraschungsmoment war ihr bester Verbündeter in diesem Spiel. Wenn der Kuckuck Verdacht schöpfte, könnte er sie allesamt entwaffnen. Er gab seinen Leuten ein Zeichen. Sie sollten weiter zurücktreten. Die Dielen knarrten. Das war schlecht. Von oben her bellte ein Hund. Dummes Vieh! Heinz läutete noch einmal. „Post, ein Paket!“, rief er. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Es war schwer, die Zeit zu schätzen. Der Augenblick dehnte sich maßlos. Er sah den rechten Schützen an – ein Infizierter. Der Schütze nickte, er hatte gespürt, dass sich jemand in der Wohnung befand. Warten oder die Tür aufbrechen? Aufbrechen war der riskantere Weg; warten würde dem Kuckuck, wenn er den Anflug einer Ahnung hatte, mehr Zeit geben, eine Waffe zu holen, eine Taktik zu finden und zu türmen. Schritte, endlich, langsame Schritte. Bitte rieche nicht meinen Schweiß, dachte Heinz, denn du kannst die Angst wittern, die darin schwimmt, die Angst, die mich ausfüllt und klein macht. Die Tür öffnete sich.
„Guten Tag“, sagte der Mann, und Heinz spürte, wie eine kräftige Hand seine Kehle umklammerte. Seine Luftröhre schien in einem Schraubstock aus Muskeln eingeklemmt zu sein.
„Zur Seite!“, rief einer der Schützen.
Heinz begriff: Er stand in der Schusslinie. Mit aller Kraft drückte er sich vom Kuckuck weg. Das Untier lockerte seinen Griff und schlug unglaublich geschwind dem linken Schützen das Gewehr aus den Händen. Es knisterte, als würde man eine Papiertüte zerknüllen – das typische Geräusch der Schockwaffe. Der zweite Schütze hatte den Kuckuck erwischt. Der Körper des Feindes krachte auf die Holzdielen, zuckte einige Male und blieb wie schlafend liegen.
„Fertig“, meldete Heinz übers Funkgerät. Schon kamen zwei Männer mit einer Trage die Treppen hochgelaufen. Sie legten dem Kuckuck zur Sicherheit Fesseln an, bevor sie ihn abtransportierten.
„Mist“, fluchte Heinz, „er muss was geahnt haben!“
Im Mannschaftswagen nahm er wieder neben dem Korporal Platz.
„Alles in Ordnung?“
„Klar Korporal. Das Vieh hat mich nur kurz am Hals erwischt. Ist aber alles gut ausgegangen. Bin eben zäh. Wenn die Dinger uns nicht zerfleischen, unterwandern sie uns. Die Unauffälligen sind am gemeinsten. Tragen gebügelte Kleidung, lächeln dich an und tun freundlich wie sonst wie, deswegen erkennst du sie nicht. Selbst die besten Telepathen müssen sich lange auf sie konzentrieren, um sie aufzuspüren. Eines Tages kann das Pack überall sein, dann haben wir hier die Hölle. Aber dazu kommt es hoffentlich nicht. Es gibt ja noch uns. Wir werden's ihnen zeigen! Uns kriegen sie nicht klein, oder?“
„So ist es“,murmelte der Korporal und gab Gas.
„Mhh Mandelkuchen, der Tee ist auch fabelhaft. Dann lege mal los. Begeben wir uns also auf die Reise, zurück zur Geburt der Ersten, dieser Kuckucke. Ich muss alles darüber wissen.“
„Ich begreife Karen. Du hast viel gelitten. Sie haben dir Schreckliches angetan. Mir reduzieren sie meine Leute. Eigentlich ist es ein Dienstgeheimnis. Aber zwischen uns gibt es keine Geheimnisse. Sie haben die Truppe unterwandert. Zumindest scheint einer von ihnen dort sein Unwesen zu treiben. Er mordet. Wahrscheinlich wollen sie uns damit zeigen, wie mächtig sie sind und uns demütigen. Aber das werde ich nicht zulassen. Ich bekämpfe sie, um uns alle zu schützen. Bei dir ist da schon …“
„Sprich es nur aus: Hass! Zuweilen ja, er nagt in mir wie ein giftiger Wurm. Alles haben sie mir genommen, meine Zukunft. Mein Kind. Sein Kind.“
„Laura hat ihn geliebt, wir haben uns so gefreut. Ich wäre gerne immer noch seine Tante. Aber es ist nicht so. Das Schicksal lässt sich nicht zwingen.“
„Diese Tiere haben mein Kind aus dem Leben gerissen!“
„Wunden können eines Tages zur Kraft der Weisheit werden. Diese Tür kannst nur du selbst öffnen. Aber lass dir erzählen, wie es weiterging, damals: Also, wo waren wir noch gleich? Die Affengene, ja die funktionierten prima. Die Menschheit gedieh mit den neuen Körpern, die zu dem Planeten Erde passten, trotz der Schwierigkeiten, die auftreten, wenn Intellekt und animalische Triebe aufeinanderprallen. Die Menschen bekämpften sich, bildeten Allianzen, begannen alle möglichen Torheiten, aber sie überlebten. Es gab Zeiten, da schauten wir Europäer nur noch selten bei ihnen vorbei. Es existierten ja die Verträge über Nichteinmischung, es schien alles gut zu laufen. Auch die Ersten hatten überlebt, sie hausten weit weg von den Menschen. Fast hätten wir sie vergessen. So vergingen die Jahre. Uns wurde klar: Es würde sich niemand mehr auf der Erde an die Verträge erinnern, zumal sich die Menschen nicht einmal mehr an ihre einstige Schrift entsinnen konnten. Ihre Kultur wurde mündlich weitergegeben, Dinge, die in ferner Vergangenheit geschehen waren, erschienen in nebelhaften Andeutungen. Sie hatten ihren eigentlichen Sinn verloren. Immer wieder sahen wir nach ihnen, griffen aber kaum in die Geschehnisse ein. Es begann eine Zeit, da hatten sich nicht nur Menschenaffen herausgebildet, sondern auch andere menschenähnliche Primaten. Es kam zu Konkurrenzkämpfen, die Menschen wurden angegriffen und dezimiert. Wir fanden eine Lösung für diese Herausforderung.“
„Ihr habt also endlich eingegriffen?“
„Sicherlich, ihr ward unsere Schwestern und Brüder. Wie wurden hier die Häuser geschützt, bevor es Alarmanlagen gegeben hat?“
„Wachhunde?“
„Ja, Hofhunde. Die gab es ja inzwischen zur Genüge: die Ersten. So stiegen wir, die alten Götter, vom Himmel herab. Wir dressierten die Ersten, machten die Vorläufer von Wachhunden aus ihnen.“
„So taugten sie dann doch noch zu etwas.“
„Man muss alle Ressourcen nutzen. Die Ersten waren kräftige primatenähnliche Wesen, halb Affe, halb Wolf. Und wie gelehrig sie waren! Ihre Intelligenz hatte sich überraschend gut entwickelt. Leider steckten sie voller Aggressionen. Also begann die Bändigung der Raubtiere. Wir fanden einen Kniff heraus, der uns dabei nützlich war. Wir drangen in ihre Köpfe ein und reizten dort das Schmerzzentrum. Wir nannten es die Klammer. Es fühlte sich für sie so an, als würden dabei ihre Köpfe zerquetscht. Sicherlich lernten sie auch, indem man ihnen Belohnungen anbot, aber immer wieder konnte das Raubtier durchbrechen.“
„Ihr hättet ja auch ihre Aggressionen mit Medikamenten drosseln können, oder sie operativ ...“
„Wir brauchten ihre Aggressionen, sie mussten nur in die richtige Richtung gelenkt werden. Sie sollten helfen, Tiere zu dezimieren, die dabei waren, Intelligenz zu entwickelten. Nur Menschen sollten sie nicht angreifen. Die Menschen übrigens konnten recht gut mit den Ersten umgehen. Ich glaube, die Ersten mochten sie, uns mochten sie weniger. Die Menschen dagegen liebten uns, sie hielten uns für höhere Wesen. Sie hatten längst vergessen, dass wir die gleichen Wurzeln teilten. Die Enceladusaner haben unser Eingreifen erwartungsgemäß mit Missvergnügen registriert. Erste Spannungen machten sich zwischen den Eismonden bemerkbar. Aber das hat vorerst keine Folgen gezeigt. Als die Gefahr gebannt und alle anderen Primaten, die einen Ansatz von Intelligenz zeigten, reduziert waren, wurden die Ersten überflüssig.
Da uns die Menschen als Götter ansahen, galt unser Wort als Gesetz. So trennten wir die Ersten von ihnen. Und wieder gingen Jahre ins Land, wie man auf der Erde sagt. Abermals wurden die Ersten fast vergessen. Sie lebten fernab der Siedlungen in unzugänglicher Wildnis. Die Menschen vermehrten sich eifrig, bauten Pflanzen an, gründeten Städte. Lange Zeit war es uns entgangen, dass einige von ihnen zu den Ersten Kontakt gehalten hatten, nämlich auf der seelischen Ebene. Du weißt, wovon ich rede, von geisterhaften Wesen, Elfen, Kobolden, Dämonen. Die Ersten verfügten über telepathische Fähigkeiten.“
„Wie ihr?“
„Ja, genau wie wir, wie die Engel. Sie aber waren nicht wie wir, sie glichen gefallenen Engeln. Wir wussten: Sie gefährden die Menschen. Sie waren auf einer tiefen Ebene unvollkommen und trugen das Böse in sich wie eine unheilvolle Saat. Sie waren nichts weiter als ein misslungenes Experiment.“ Alice schloss die Augen und erblickte Bilder vor sich, alte Bilder aus einem fernen Leben. Sie entsann sich. Es war vor Jahrtausenden gewesen. Sie, die andere Alice, die damals gelebt hatte, schritt durch den Palast, der ihr Tempel war. Eigentlich handelte es sich um das Hauptquartier Europas auf der Erde. Das Dasein ist eine Schnur, worauf die einzelnen Leben wie Perlen gezogen werden. Als Kind auf Europa wusste sie noch nichts von den anderen Perlen, die auch alle ihre Leben gewesen waren. Als sie älter wurde, stiegen Erinnerungen hoch, Fragmente vergangener Schicksale, anderer Zeiten. Aber in Wahrheit hatte es immer nur eine Alice gegeben. All die Körper waren wie Kleider, die sie ab und zu wechselte.