18
Das Zimmer war von mittlerer
Größe und nobel eingerichtet.
„Nicht so toll wie die
Zimmer auf Europa, aber recht ansehnlich“, sagte Alice.
„Ich bin zufrieden, äußerer
Komfort bedeutet mir nichts.“
„Du solltest menschlicher
reagieren, du fällst sonst noch auf. Du solltest sagen: Prima, danke
für das Zimmer, wäre doch nicht nötig gewesen! – Schon damals
warst du immer ein wenig steif und reserviert, was dich schließlich
wohl starrsinnig hat werden lassen. Du warst einer der Klügsten,
aber deine Klugheit wirkte kalt und gnadenlos. Wie gesagt, wir sind
nicht der Feind, also werde locker. Wir bilden ab jetzt ein Team.
Probiere mal das! Sie verkaufen es heutzutage an jeder Ecke, vor
einigen Jahren war es sogar verboten. Stattdessen haben die Leute
ätzende Flüssigkeiten getrunken, die ihre Gehirnzellen abtöteten
und ihnen die Leber auflöste. Jetzt verdampfen sie lieber dieses
Gras; es beseitigt den Cannabinoidmangel im menschlichen Gehirn.“
Alice stopfte das Kraut in die
Öffnung ihres Vaporizers und schaltete ihn ein. Zehn Minuten später
schien der Hanf bei Christian anzuschlagen. Er sah entspannt aus.
Karen wandte sich an ihn: „Ich
kann nichts dafür, dass Sie mich nicht mögen. Aber vielleicht haben
Sie recht damit: Ich mag Sie ja auch nicht sonderlich. Schon wegen
Philip.“
„Das war nichts
Persönliches“, sagte Christian, „ich halte nur die Menschheit
für gefährlich. Sie kennen ja die Geschichte Ihrer Spezies. Ein
einziges Wort kommt immer vor: Krieg. Der Kampf ist hier das Mittel
der Politik. Und was haben die großen Führer angerichtet? Denken
Sie an Stalin, Hitler, Mao. Die Menschheit läuft immer wieder über
Leichenberge, hält dabei die Siegesfahne jubelnd hoch. Sie haben
nichts gelernt aus ihren Kriegen. Während man schöne Worte macht,
Worte von Freiheit und Gerechtigkeit, ist schon wieder einen neuer
Feind geortet, den man mit gutem Recht ausrotten kann. Trotz Ihres
erweiterten Bewusstseins, das Sie als Infizierte haben, ruhen die
alten Gewohnheiten Ihrer Art auch in Ihnen. Was, wenn diese wieder
Oberhand gewinnen, wenn der Blutdurst erwacht? Jetzt, wo Sie über
eine gewaltige Kraft verfügen?
Auch unsere Art trägt
Regungen aus alten Zeiten in sich, Regungen, die nicht immer
friedfertig sind. Zumeist können wir sie anschauen, ohne ihnen
folgen zu müssen. Es gibt aber auch Situationen, da erfordert es
Kraft, diese Verblendungen von der Wahrheit zu trennen. Werden Sie
stark genug sein, wenn Ihre finstere Stunde kommt?“
„Ich hoffe es, mehr kann ich
nicht tun“, antwortete Karen.
Christian setzte nach: „Die
Menschen sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sagen Sie mir, wenn die
Hoffnung gestorben ist, werden Sie dann noch stark genug sein?“
Karen schwieg. Alice ergriff
das Wort: „Was du da von dir gegeben hast, mag zutreffen oder
nicht, deine Formulierung war dabei allerdings so gewählt, dass du
Karen damit in die Ecke gedrängt hast. Du musst viel über die
menschliche Kommunikation lernen. Es gibt dabei immer einen
inhaltlichen Aspekt, der das ausmacht, über was man redet, und einen
Aspekt, der die Beziehung betrifft, die zwischen denen, die sich
austauschen, besteht. Also zusammengefasst: Alles, was man sagt,
betrifft nicht nur den Inhalt dessen, worüber gesprochen wird,
sondern definiert ebenso die Beziehung zwischen denen, die am
Gespräch teilhaben. Das lernt hier jeder Psychologiestudent im
ersten Semester. Man sollte immer das Tier im Menschen
berücksichtigen.“
„Ich glaube, ich muss mich
entschuldigen, dass ich nicht optimal darauf vorbereitet war, mit
Menschen zu reden“, sagte Christian förmlich.
„O Mann,“, stöhnte Alice,
„ich denke, es wird eine Weile dauern, bis wir einen Menschen aus
dir gemacht haben!“ Dann musste sie lachen, und ein eigentümlicher
Klang, der heimtückisch am Grunde dieses Augenblicks lauerte,
erinnerte daran, dass dem Universum absolut zu trauen war.
Der Vollmond hing wie eine zu
helle Lampe am Himmel. Sein Licht fiel blass auf das Haus. Christian
presste eine Hand gegen den hohen Zaun und schloss kurz die Augen.
Ein Teil des Eisengitters zerbröselte zu Staub. Der Weg war frei.
„Das will ich auch mal
machen“, flüsterte Karen.
„Das ist nicht schwer: Man
lockert die Metallmoleküle und lässt sie schwingen. Mit ein wenig
Übung müsste es funktionieren.“
Alice rief: „Jetzt schnell
zum Gebäude! Es sind keine Wachen in der Nähe. Die Kameras habe ich
bereits zerstört. Gleich werden sie alle rauskommen, um zu sehen,
was los ist. Also rasch!“ Sie rannte voran. Karen und Christian
folgten ihr wie Schatten.
An der Hauswand hielten sie
inne. Dank ihrer erweiterten Wahrnehmung wusste Alice, was die
Wächter vorhatten; gleich würden sie aus der Tür stürmen, da
etwas mit den Kameras nicht in Ordnung war. Das bedeutete, sie
mussten einen Augenblick warten, sonst könnte man sie entdecken
während sie zum Eingang liefen.
„Das Schloss ist kaputt,
dafür habe ich grade gesorgt“, sagte Karen nicht ohne Stolz in der
Stimme.
„Gut gemacht“, lobte
Alice, dann hielt sie kurz inne. „O nein, ich spüre etwas. Die
Schicksalsfäden, sie verlaufen jetzt anders. Eine energetische
Präsenz befindet sich in der Nähe. Wir werden sie wahrscheinlich
nicht umgehen können. Zuerst müssen wir hoch bis zum Flur, zum
Zimmer, in dem der Infizierte liegt. Das Pflegepersonal des
Gefängniskrankenhauses wird keine Herausforderung darstellen. Halt,
jetzt bekomme ich ein klareres Bild: Ein Wachmann, er ist hier im
Haus, nicht draußen wegen der defekten Kameras, wie seine Kollegen.
Er zeigt hohe, äußerst hohe Energiewerte.“
„Dann los!“, rief
Christian und stürmte die Treppe hinauf. Alice und Karen konnten
kaum folgen.
„Jetzt kriegen wir es auch
noch, mit diesem komischen energetischen Wachmann zu tun, bevor wir
den armen Infizierten, den sie im künstlichen Koma halten, rausholen
können“, fluchte Alice, als sie sich ihrem Ziel näherten.
Lange ließ der Wachmann nicht
auf sich warten. Als sie oben angekommen waren, sprang er, die Brust
imponierend aufgebläht, hinter einer Ecke hervor und positionierte
sich direkt vor ihnen. Mit einer geübten Bewegung entsicherte er die
Pistole. Alice sah, wie die Fäden des Schicksals vor ihren Augen
verschwammen. Sie konnte kein klares Bild erkennen; der Blick auf die
künftigen Ereignisse wurde ihr versperrt. Es war ihr unmöglich
voraussehen, was der Wachmann als Nächstes tun würde, sie fühlte
sich blind. Etwas schien die Zeit zu beschleunigen. Wenn ihre Sinne
die Welt nicht anhalten konnten, war sie machtlos. Ihr Bewusstsein
musste sich außerhalb der Zeit begeben, dann stünde das Bild einer
ausgedehnten Gegenwart vor ihr und es wäre möglich, die nächsten
Schritte des Wachmannes vorauszuahnen. Aber genau das funktionierte
nicht. Es war für sie immer normal gewesen, für eine kurze
Zeitspanne in die Zukunft zu blicken. Nun fühlte sie sich, als
müsste sie durch einen finsteren Raum stolpern, die Augen verklebt,
die Hände tastend ausgestreckt. Diese Störung der Sinne ging von
dem Mann vor ihr aus. Er beschleunigte alles, was um ihn herum
existierte.
Christian schien die Situation
zu begreifen. Ihm wurde klar, dass er rippen musste, damit er die
Waffe des Mannes blockieren konnte, und zwar schnell. Es gelang aber
nicht. Mit dem Rippen verhielt es sich ähnlich wie mit dem Blick in
die Zukunft: Der Lauf der Welt, der im zeitlosen Bewusstsein
erschien, musste einen Moment lang angehalten werden. Der Tanz der
Energie stoppte für gewöhnlich, wenn man ihn mit den Augen des
reinen Sehens fixierte. Man sah dann eine Blaupause vor sich, ein
Datenabbild des Augenblicks, den man verändern wollte. Es war
unmöglich, die Realität zu manipulieren, wenn sie sich schlichtweg
weigerte, stillzustehen. Genau das tat sie aber. Der Wachmann
verstärkte den Energiestrom, der alles in der Umgebung durchzog. Es
war kein klares Bild zu bekommen, somit, so erkannte Alice, konnte
Christian die Daten, aus denen die Welt bestand, nicht austauschen.
Seiner Fähigkeiten beraubt,
sprang er auf den Wachmann zu und umklammerte dessen Handgelenk, um
einen gezielten Schuss aus der Pistole des Kerls zu verhindern. Mit
rasender Geschwindigkeit wurde Christian herumgewirbelt. Er klatschte
gegen die Flurwand. Im Moment seines Aufpralles zeigte die Wand die
Struktur von Schaumstoff, weshalb er ohne Knochenbrüche davonkam.
Alice hatte gerade noch rechtzeitig den Beton auf der Molekülebene
verändern können. es dem Wachmann nicht möglich, auf sie Offenbar
war alle drei gleichzeitig achten. Bevor Christian wieder zu sich
kam, zischte ein Energieball durch die Luft. Alice duckte sich. Wie
ein Blitz schlug er in eine der Türen hinter ihr ein Er hinterließ
einen schwarzen Brandfleck. Karen schrie wie irre, ergriff einen von
den Stühlen, die hier überall herumstanden, und drosch damit auf
den Wachmann ein. Er sackte zu Boden. Christian beugte sich über
ihn, streckte seine Hände vor, wie um etwas zu erspüren. „O je,
das kann nicht wahr sein“, murmelte er. „Aber holen wir erst
einmal den Infizierten.“
Der Infizierte lag in einem
typischen Krankenbett. Drei Schläuche versorgten ihn mit dem
Wesentlichsten. Man hatte ihn ins Koma versetzt, so konnte man ihn
sicher festhalten. „Ich baue einen Tunnel“, sagte Christian. „Die
anderen Wachleute werden bald zurück sein, nachdem sie die Kameras
auf dem Hof untersucht haben.“
Christian öffnete den Tunnel.
Es war, als würde ein Loch in der Welt entstehen. Sie traten ein und
im Nu befanden sie sich bei Alice Zuhause.
„Du bist einer der wenigen,
die das so perfekt beherrschen: Du hast ihn samt Bett mit in den
Tunnel gezogen und mitgenommen“, sagte Alice anerkennend.
„Dennoch, der Wachmann hätte
mich beinahe erledigt. Ohne euch wäre ich kaum so glimpflich
davongekommen“, stellte Christian fest. „Unser Gegner ist
gefährlicher, als ich vermutet habe. Die Kraft, der wir begegnet
sind, stammt nicht von der Erde! Es ist die Kraft von Enceladus.“
„Enceladus?“, fragte Alice
ungläubig.
„Zweifellos, als er
bewusstlos dalag, habe ich in ihn hineingeschaut. Seine Energiebahnen
waren nach der Methode von Enceladus geöffnet worden.“
„Könnt ihr mich bitte
einmal aufklären, was das zu bedeuten hat?“, fragte Karen
ungeduldig.
Alice erklärte: „Europa ist
nicht der einzige bewohnte Mond im Sonnensystem. Enceladus besitzt
wie Europa einen unterirdischen Ozean. Die Bewohner dieses Mondes
hausen in Höhlen unter dem Meeresboden. Seit Langem ist der
diplomatische Kontakt zu ihnen abgebrochen. Sie führen immer etwas
im Schilde, niemand weiß genau, was. Die elektromagnetischen
Eigenschaften von Enceladus haben dazu beigetragen, dass sich dort
spezielle Nervensysteme herausbilden konnten. Sie sind fähig, jede
Form von Energie zu produzieren und zu manipulieren. Ihre gesamte
Wissenschaft basiert aufeine Technik, die feine Energieströme nutzt.
Aber das geht weit über den momentanen Erkenntnisstand der Menschen
hinaus. Offensichtlich haben sie Kontakt zu den Erdenbewohnern
aufgenommen. Ein gefährliches Spiel, denn niemand kann sagen, wie
sich die Veränderung des Energieniveaus im menschlichen Körper
auswirkt. Sie haben, wie es aussieht, einen Weg gefunden, ihre
Energie zu übertragen, um sich die Menschen nützlich zu machen. Die
Bewohner von Enceladus verlassen ihren Mond ungern, deshalb brauchen
sie die Menschen. Sie benutzen sie als Soldaten. Es hat ein Krieg
begonnen,ein krieg gegen Europa.
„Das hört sich nicht gut
an“, bemerkte Karen, „aber was sollen wir jetzt machen?“
„Vorerst abwarten, bis die
Regierung auf Europa sich dazu äußert“, meinte Christian.
„Zuallererst müssen wir
zusehen, dass dieser Infizierte hier aus dem Koma erwacht“, sagte
Alice und wies auf den Mann, der vor ihnen wie eine Puppe vim Bett
lag.
Dieses Universum schaute aus,
als hätte jemand überall farbige Lichter entzündet. Einige
Planeten leuchteten so hell, als wollten sie den Sonnen ihren Status
streitig machen. Manche von ihnen bewegten sich rätselhaft
rhythmisch, wie zu einer improvisierten Musik tanzend. In der Ferne
pulsierten Sterne, als wären es brennende Herzen.
Xellox dozierte: „Es gibt
Wesen, die diese Ebene des Universums nicht sehen können. Die
betreffende Energiefrequenz entzieht sich ihnen gänzlich. Andere
können davon etwas während sie schlafen wahrnehmen. Sie leben dann
hier in dieser Welt wie die Tiere, da ihr Bewusstsein, ihres Schlafes
wegen, sehr getrübt ist. Durchaus gibt es Wesen, die die Dinge klar
erkennen und genau wissen, wer sie sind und wo sie sich befinden. In
Wahrheit ist es so, dass die Welten sich durchdringen. Manche sind in
dieser Welt hier wach, aber wenn sie schlafen, dann nimmt ihr
Bewusstsein die andere Welt wahr, nämlich jene, aus der Sie kommen,
mein Freund.“
Xellox geleitete Kwang durch
bunte Sternennebel, vorbei an seifenblasenähnliche Sonnen, vorbei an
Planeten, um die herum transparente Monde tanzten, oder die von
Sphären aus Licht und Klängen eingehüllt waren. Vor einem
gewaltigen Himmelskörper machte Xellox halt, wandte sich zu Kwang um
und sagte: „Zuhause!“
„Aber das ist nicht
Enceladus“, widersprach Kwang.
„Das ist Enceladus 2“,
entgegnete Xellox. „Auf dem kleinen Saturnmond Enceladus leben nur
wenige von uns, eben nur die, welche eine feste Form angenommen
haben. Und selbst jene verbringen die meiste Zeit hier.“
„Wenn ihr eigentlich hier
lebt, in dieser energetischen Welt, fernab der festen Planeten, warum
ist euer Interesse an der Menschheit so groß, dass ihr uns vor
diesen anderen Außerirdischen schützen wollt?“
„Nun, das werden Sie rasch
begreifen“, sagte Xellox und bedeutete Kwang, ihm zu folgen.
Bald erreichten sie einen
seltsamen Himmelskörper. Er bestand aus mehreren durchsichtigen
Kugeln, die ineinandersteckten. Xellox behauptete, dass dieses die
Erde sei.
„Unmöglich, die Erde schaut
ganz anders aus!“, meinte Kwang.
Xellox blieb fest bei seiner
Behauptung. Genauso sehe die Erde aus, wenn man ihre stoffliche Natur
nicht mehr wahrnähme. Man könne sogar, ein wenig Übung
vorausgesetzt, zwischen den Wahrnehmungen wechseln, und somit beide
Seiten der Welt sehen. Ein Führer sei fähig, für jemanden, der die
Sache noch nicht beherrscht, so etwas zu übernehmen. Wie er es getan
habe, als sie Min-Jee besucht hatten. Und für einen Moment
schimmerte das satte Blau der Erde durch die glasähnlichen Sphären
hindurch. Einen Augenblick später waren nur wieder die
durchscheinenden Weltenschalen zu erkennen.
Xellox erklärte: „In der
untersten Sphäre existieren diejenigen, die sich kürzlich von ihrem
Körper getrennt haben, weil sie schlafen. In der Regel bekommen sie
nicht viel mit. Werden sie wach, entsinnen sich mit Mühe an einige
Bruchstücke. Diese nennen sie Träume. Aber es gibt auch bewusste
Träumer, die sich genauer erinnern. Manche Menschen lösen sich
mittels bestimmter Techniken vom Körper. Sie können somit die etwas
höheren Sphären besuchen.“
„Davon habe ich gehört,
aber ich konnte es nicht glauben. Es werden immer wieder Geschichten
von solchen außerkörperlichen Erlebnissen erzählt.“
Xellox nickte zustimmend.
Kwang bemerkte, dass sein Begleiter transparent geworden war, ähnlich
einem feinen Gewebe.
„Die äußere Form“,
erklärte Xellox, „spielt hier keine Rolle. Man nimmt die Form an,
die man glaubt, annehmen zu müssen, oder die Form, die man annehmen
will.“
Kwang zeigte auf einen
Bereich, der recht belebt schien. Er wollte wissen, was sich dort
abspiele.
Xellox sagte ruhig zu ihm:
„Einen Schritt nach dem anderen. Dieser Ort hat mit Tod und Sterben
zu tun.“
Kwang begriff, dass es sich um
das sogenannte Jenseits handeln musste. Es war also kein Mythos, es
gab eine Existenz nach dem Tod. Sofort bildeten sich unzählige
Fragen in seinem Kopf.
„Die Schwierigkeit für die
Wesen der Erde, diesen Bereich zu begreifen, liegt an ihrem
Zeitverständnis. Für primitive Lebensformen gibt es nur den
Augenblick. Entwickelt sich schließlich die Vernunft, bekommt die
Vorstellung von Zeit eine übergewichtige Bedeutung. Es werden
allerhand Illusionen zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgespannt.
Nur vorgeschrittene Wesen haben die Natur der Zeit begriffen, somit
auch die Natur der Zeitlosigkeit. Es ist geradezu unmöglich, die
Zeit zu begreifen, ohne die Zeitlosigkeit erforscht zu haben. Die
wenigsten Menschen können etwas jenseits der Zeit wahrnehmen. Um zum
Thema zurückzukommen: Ein Leben nach dem Tod, das ist ein törichter
Gedanke und ein Widerspruch.“
„Aber wenn es das nicht
geben würde, dann dürfte dieser Jenseitsbereich nicht existieren!“,
widersprach Kwang erregt.
„Ein unvollständiges
Verständnis der Realität sieht überall Widersprüche“, mahnte
Xellox.
Kwang sah ihn scharf an. „Es
kommt mir so vor, als wollten Sie mir ausweichen. Ich bin vielleicht
nicht so weit entwickelt wie Sie, aber ich bin kein Kind.“
Ein nachdenklicher Ausdruck
legte sich über das durchsichtige Antlitz des Außerirdischen. „Sind
Sie sich sicher, dass Sie die Wahrheit verkraften können?“
Kwang nickte.
„Wie Sie wollen. Haben Sie
noch existiert, nachdem auf sie geschossen wurde?“
„Sie meinen mit der
Betäubungsspritze, die den Stoffwechsel meines Körpers
heruntergesetzt hat?“
„Ich meine, nachdem Sie
mittels einer Giftspritze erschossen wurden. Erschossen – begreifen
Sie Kwang? Ein Betäubungsmittel hat Sie zuerst empfindungslos
gemacht, anschließend begann das Gift zu wirken, Ihr Herz hörte
auf, zu schlagen, für immer.“
Kwang begriff nicht, wollte
nicht begreifen. „Aber ich lebe doch!“, schrie er.
„Man muss nicht immer dort
landen, in diesem Jenseits der verwirrten Neuankömmlinge. Für weise
Menschen und für jene, die einen Führer haben, gelten andere
Regeln.“
Kwang fühlte sich mehr als
unbehaglich. „Moment“, sagte er, „Sie machen einen Witz. Das
ist Ihre Art von Humor, oder?“
„Wir von Enceladus sind
recht humorlos. Aber fahren wir fort, die Situation zu untersuchen!
Ihr Herz steht still, Ihr Gehirn wird nicht mehr mit Blut versorgt.
Der Körper verliert das Leben. In diesem Zustand befinden Sie sich
jetzt. Sie sind nicht tot, Sie sterben gerade!“
„Ich verstehe nichts, gar
nichts!“, schrie Kwang. Seine Stimme zitterte. „Wir waren auf der
Erde, haben meine Frau besucht, wir sind herumgeflogen, das alles hat
Stunden gedauert. Und selbst wenn ich jetzt sterbe, wie kommen Sie
hier her? Ich würde, wenn überhaupt, nichts anderes wahrnehmen, als
meine eigenen Illusionen.“
Xellox sah ihn mit großen
unendlich tiefen Augen an. „Während Ihres Lebens zog das Denken
viel Aufmerksamkeit an sich. Das Denken ist stark an die Zeit
gebunden. Während des Sterbens verändert sich das herkömmliche
Denken, es löst sich vom Zeitempfinden. Dass die Geschehnisse einer
gewissen Abfolge von Ursache und Wirkung folgen, liegt allein daran,
dass Ihr Geist an Gewohnheiten hängt. In Wahrheit gibt es das alles
nicht. Die Wahrnehmung ist ein zeitloser Raum ohne Grenzen, in dem
etwas erscheint, was man als Zeit oder Form bezeichnet.“
„Könnte man in dieser
unbegrenzten Wahrnehmung alle Träume träumen und gleichsam in jeden
Traum hineingehen und ihn für wahr halten?“, wollte Kwang wissen.
„Ja, im Prinzip ist es so.
Jeder dieser Träume hätte seine eigene Dauer, Stunden, Monate,
Jahre. Aber nur innerhalb der Traumwelt, in Wahrheit vergeht keine
Zeit, da alles im endlosen Bewusstsein stattfindet, das zeitlos ist.“
„Wie dem auch sei, aber wie
kommen Sie ins Spiel? Sind auch Sie nur ein Traumbild meines
sterbenden Gehirns?“
„Noch ist Ihr Geist voller
Unwissenheit, Kwang. Sie glauben, das Sterben endet mit dem Tod. Das
ist eine Illusion. Sterben ist ein ständiger Prozess, ebenso wie die
Geburt. Sterben und geboren werden – daraus formt sich das Leben.
Jeder Augenblick wird geboren und stirbt. Nichts ist von Dauer. Auch
denken Sie, Sie hätten ein Bewusstsein. Das haben Sie nicht!
Derjenige, der Sie meinen zu sein, existiert innerhalb des
Bewusstseins. Es ist nur ein Gedanke. Eine vorübergehende Entladung
im Gehirn, sonst nichts. Sie haben nie existiert, sie werden niemals
existieren! Alle Sterne und Welten befinden sich in einem Raum, der
immer ist, war und sein wird, ebenso befinden Sie sich selbst darin.
Es ist ein Tanz, der dort stattfindet. Sobald sich eine Tanzbewegung
ändert, scheint etwas zu sterben und etwas anderes geboren zu
werden. Die Bewegung hat keine unabhängige Existenz. In Wirklichkeit
wird nie etwas geboren und nichts stirbt. Aber es sieht so aus, als
ob es geschehen würde. Wir blicken wie gebannt auf den Tanz, wir
halten die Geschichte, die getanzt wird, für wirklich. Wir mögen
Dinge sehen, die wir begehren, Dinge, die wir fürchten, wichtige
Dinge, Dinge, die wir hassen. Und wir sehen uns, sehen unsere
Meinungen, unsere Vorstellungen, sehen, wie wichtig wir sind. Aber es
gibt uns nicht. Nicht als das, was die meisten glauben, zu sein. Es
existiert allein der Tanz, der die Tänzer tanzt. Auf der Erde sah
ich Ozeane ohne Eisschicht darüber. Auf diesen Ozeanen tanzen
Wellen. So sind wir. Wir sind Wellen. Die Wellen aber sind letztlich
nur die Bewegung des Wassers. Der Sterbeprozess, den Sie durchmachen,
hat die Identifikation mit den Erscheinungen der Materie etwas
gelockert. So können Sie sich frei durch den Raum bewegen, ohne
Körper. Was unsere Spezies betrifft: Wir müssen nicht erst auf den
körperlichen Tod warten; wir können uns zu jeder Zeit vom
Stofflichen lösen. Da wir auf mehreren Energieebenen leben, stellt
es kein Problem für mich dar, Sie zu begleiten. Für die Menschen
allerdings sind Sie nun so etwas wie ein Gespenst. Das reicht vorerst
an Erklärungen.“
„Mir dreht sich schon alles.
Ich werde nicht zur Erde zurückkommen? Also zumindest nicht
körperlich … Ich werde … Meine Güte, Min-Jee, sie ist Witwe!
Aber wir wollten ein Kind haben, Eltern sein. Mein Leben, es ist
fort. Ein Toter bin ich, dazu verdammt, mich selbst zu überleben!
Ich will zurück, ich will mein Leben zurück!“
Nach einem bedeutungsschweren
Schweigen sagte Xellox: „Ich habe geahnt, dass Sie sich aufregen
werden. Es ist nicht weise, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen.
Aber lassen Sie es sich gesagt sein: Es ist ein guter Tod. Wir
bewahrten Sie vor dem ersticken. Eine schreckliche Qual. Und Sie
waren nicht allein. Ich bin Ihnen gleich zur Seite gewesen. Sie haben
Min-Jee besuchen können. Jetzt können Sie sogar die Erde retten! O
ja, ich verstehe die Trauer ihretwegen. Aber das, was an der Liebe
egoistisch ist, wird früher oder später vergehen, was an ihr wahr
ist, wird bleiben. Es ist eine physikalische Formel, die allerdings
auf vielen Welten noch nicht entdeckt wurde. Kommen Sie mit mir,
sehen wir uns die inneren Sphären der Erde an!“
Als Xellox den letzten Satz
ausgesprochen hatte, fand sich Kwang in einer kuriosen Landschaft
wieder. Über allem lag ein Schimmer von Rot und Violett. Er sah
viele Menschen um sich herum, sie zankten sich und schlugen
aufeinander ein. Sie versuchten, irgendwelche nutzlosen Dinge
aufzuheben und in Sicherheit zu bringen. Aber immer wieder wurden
ihnen diese Dinge von anderen fortgenommen, weswegen sie verzweifelt
fluchten und schrien. Gelang es jemanden, einige sinnlose Sachen
beiseitezuschaffen, zerfielen die vermeintlichen Schätze zu Staub.
Diese Welt bestand aus Kämpfen und Jammern. Hier konnte niemand
Frieden finden. Überall Schmerz und sinnlose Hoffnung.
Kwang bemerkte die schlanke
Gestalt seines Führers neben sich. „Sehen Sie sich um“, sagte
Xellox, „das ist der größte Bereich des Jenseits der Erde. Stirbt
ein Wesen, so entfalten sich hier seine Anlagen ungehinderter als,
sie es im stofflichen Körper getan haben. Viele sind angefüllt mit
Hass und Gier, sie klammern sich an Dinge und widersetzen sich dem
Fluss des Lebens. Ja, auch hier fließt der Fluss des Lebens, hier,
im Reich der Toten. Jeder wird von dem Ort angezogen, der seinem
Wesen entspricht. An diesem Platz hat man sich eine Art Hölle
erschaffen. Alle spielen mit und sind geradezu begeistert, hofft doch
ein jeder auf seinen Vorteil oder auf Vergeltung. Dabei ist alles
umsonst. Loslassen wäre so einfach. Das Jenseits gleicht dem
Diesseits, allerdings mit gesteigerten Begierden.“
„Und ich? Wäre ich dort
auch gelandet, ohne Sie?“
„Nein, Sie wären in der
Sphäre der depressiven Grübler gelandet und hätten sich heulend an
die Ruinen der Vergangenheit geklammert. Dabei ist die Vergangenheit
schon vorbei, wenn man sie als Vergangenheit bezeichnet. Aber nun
sollten wir diesen Ort verlassen. Sehen Sie das dort, da hinten?“
Kwang nickte. Er erblickte
etwas, es schaute aus wie ein metallener Delfin.
„Das ist unser Raumschiff“,
erklärte Xellox.
„Wieso Raumschiff? Wir
brauchen doch keines. Wir können doch fliegen. Wir sind wie diese
gottverdammten Engel!“
„Es ist eine Frage des
Ambiente“, entgegnete Xellox. Außerdem wolle er ihm etwas zeigen.
Sie schwebten zum Raumschiff, dessen Tür sich von selbst öffnete
und den Blick auf eine geräumige Steuerzentrale freigab. Kwang ließ
sich auf einen der gelblichen gelatineartigen Sitze fallen, mit dem
er fast zu verschmelzen schien. Xellox nahm neben ihm Platz und
bediente einen Hebel, der wie ein Tentakel aus dem Sitz
herausgewachsen kam. Ein Bildschirm vor ihnen zeigte das
feinstoffliche Universum. „Wir müssen ordentlich vergrößern“,
murmelte er, „wir werden zwar keine Details erkennen, aber es kommt
auf das große Ganze an!“
„Ich sehe ein Spinnennetz
aus Lichtfäden. Zwischen den Maschen des Netzes leuchten
irgendwelche Punkte.“
„Nun, das sind sie, Kwang.
Eure Aliens, die Bewohner von Europa. Das ist ihre bevorzugte
Erscheinungsform. Es haben sich hier Tausende von Individuen
zusammengeschlossen zu einem Geist. Und es findet mehr statt als nur
der Austausch von Informationen. Jeder Einzelne ist auch das Ganze.“
„Und diese großen blauen
Flecken, die das Netz umsäumen?“
„Diese Flecken sind ihre
Flotte, ihre Kriegsflotte, es sind Waffen. Ihr Ziel sind die Bewohner
von Enceladus. Wir befinden uns bereits im Krieg mit ihnen. Es wird
nur noch nicht scharf geschossen. Auf der Erde nennt man das einen
kalten Krieg.“
„Das heißt, dieser Krieg
kann heiß werden“, ergänzte Kwang.
Xellox nickte. „Das ist das
Wesen eines Kalten Krieges. Er ist die ständige Androhung von
Gewalt.“
„Und jetzt ist der kritische
Punkt erreicht?“
„Das stimmt.“
„Es hängt mit der Erde
zusammen?“
„Sie sind sehr scharfsinnig
Kwang.“
„Warum aber wollen Sie die
Menschheit vom Einfluss der Europabewohner befreien? Das kann doch
den Krieg auslösen.“
„Unsere Einmischung hat
Gründe, wichtige Gründe. Aber alles zu seiner Zeit. Seien Sie
versichert, dass Ihr Einsatz und Ihre Beziehung zu Min-Jee eine große
Rolle spielen werden. Es geht um das Schicksal von drei Welten.
Min-Jee ist der Schlüssel. Sie wird viel Kraft brauchen und viel
Wissen.“
Andy war wie gebannt. Min-Jees
Haare Standen empor, sie breitete ihre Arme aus, wie um alle zu
umfangen, die vor ihr saßen. Funken flogen aus ihrem Kopf, zischten
als schlanke Blitze aus ihren Fingern heraus. Energie floss durch den
Boden und knisterte in der Luft. Es schien so, als täte sich der
Himmel auf, obwohl oben ja die Zimmerdecke hing. Und es war, als
regnete es Tropfen aus Licht. Sie gingen einem jeden unter die Haut
und tiefer, bis hinein in die Seele. Was da niederregnete, waren die
Worte Min-Jees, gleichsam aber auch etwas, was vom Himmel, von den
Sternen kam. Min-Jee hob vom Boden ab und schwebte durch den Raum,
während sich ein gewaltiger Strom der Gnade über die Anwesenden
ergoss. Alle Zweifel wurden weggeschwemmt.
„O Mann, das ist ja geil!“,
rief Leo aus.
Beate und Andy stimmten ihm
zu, sie waren wie die anderen im Raum in einem himmlischen Zustand.
Eine seltsame Energie brannte ihnen süß in den Adern.
Min-Jee sagte: „Einige
arbeiten für die Polizei oder einen der Geheimdienste. Manche von
denen, die sich hier versammelt haben, mögen das kritisch sehen, da
diese Institutionen vom Staat missbraucht wurden. Die Regierung, die
das Land seit Monaten aus dem Exil lenkt, konnte den Aliens und deren
Agenten nichts entgegensetzen. Stattdessen bespitzelt der Staat die
Bürger und missachtet ihre Rechte. Wobei einige das Tun der
Regierung rechtfertigen, es als Versuch ansehen, die Welt zu
schützen. Wir müssen uns über alle Unterschiede hinwegsetzen, wenn
wir uns einig sind, können wir die Gefahr bekämpfen. Wir trinken
aus einer Quelle und sollten handeln wie ein einziger Mensch. Viele
wurden von den Außerirdischen mit ihrer Weltsicht infiziert. Sie
haben gewisse Fähigkeiten von ihnen bekommen, sodass wir gegen sie
machtlos waren. Nun wird das Blatt sich wenden. Wir haben ihnen etwas
entgegenzusetzen.“
Beate rief: „Ja, und wir
sind kurz vor dem Sieg!“
Min-Jee lächelte. „So ist
es. Wir können große Erfolge verzeichnen. Wir haben die Invasoren
in ihre Schranken verwiesen. Leider mussten wir in Kauf nehmen, dass
unser Kampf immer härter wurde und es Opfer zu beklagen gab. Aber
sie werden langsam begreifen: Sie können sich nicht so leicht auf
unserer Heimatwelt festsetzen. Acht Monate haben wir Schulter an
Schulter gekämpft. Bald werden wir die Früchte unserer Taten
sehen.“
Min-Jee gab ein Zeichen. Die
Versammelten erhoben sich und verließen den Raum glücklich,
lächelnd und siegesgewiss.
Draußen erstrahlte die Welt
im Sonnenlicht. Die Zeit sei so rasch vergangen, meinte Andy, und es
käme ihm überhaupt nicht so vor, dass sie schon monatelang mit den
himmlischen Energien gegen die Infizierten und die Außerirdischen
kämpften.
„Bald werden sie am Ende
sein. Sie werden aufgeben. Die Opfer auf beiden Seiten haben sich
gelohnt“, meinte Beate.
In diesem Moment tauchten drei
Gestalten vor ihnen auf, zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen
stürzten sich auf Andy, indem sie nach seinem Kopf griffen. Er
schrie panisch. Der Mann stellte sich ihnen und wollte Beate und Leo
den Weg versperren.
„Zur Seite!“, schrie Leo
und feuerte einen Energiestrahl von seinen Händen ab. Der Fremde
verteidigte sich, er materialisierte blitzschnell einen Schild. Diese
drei waren offenbar mächtiger als die meisten Infizierten. Leo
feuerte einen weiteren Energiestrahl auf den Mann ab. Die Wucht des
Strahles zerfetzte den Arm des Fremden. Es roch nach verbranntem
Fleisch. Blut kleckerte aus dem Stumpf und bildete eine Pfütze auf
dem Gehweg. Andy bekam mit, wie die beiden Frauen von ihm abließen.
Ersah das viele Blut, es bildete eine Pfütze. Beate und Leo standen
wie gelähmt herum. Eine der Frauen rief der anderen zu, indem sie
auf den Verletzten zeigte, man müsse einen Tunnel bauen, sonst
schaffe er es nicht. Ihre Komplizin versprach, dass sie ihr Bestes
tun werde. Unversehens tat sich ein Loch auf. Es erinnerte an einen
Wasserstrudel und gleichsam an ein gewaltiges Maul.
Grau war die Decke, grau die
Wände. „Wo bin ich?“, hörte Andy sich fragen.
„Auf deiner Pritsche, wo
sonst?“, murmelte sein Zellengenosse.
„Wieso bin ich wieder hier?“
„Mann, musst du wirre Träume
haben!“
„Verdammt, das hat sich aber
überhaupt nicht wie ein Traum angefühlt! Monatelang war ich
draußen, ich wurde doch entlassen ...“
Sein Zellengenosse winkte ab.
„Typisch Knastkoller. Glaube mir, du warst hier, die ganze elende
Zeit. Morgen kommst du raus. Jetzt nur nicht noch am letzten Tag
durchdrehen!“
„Aber ich war doch bei
Min-Jee und dann …“
„War sie gut im Bett?“
„Sie verstärkt Energie“,
erklärte Andy, „und dann kamen diese zwei Frauen und sie haben
etwas mit meinem Kopf gemacht. Ich habe eine weite Ebene gesehen,
darin klaffte ein Loch. Ich fiel hinein, tiefer und tiefer. Unten
leuchtete es. Es war verdammt hell. Ich fiel mitten ins Licht hinein.
Dann wurde es weit, grenzenlos. Nur noch reines Bewusstsein
existierte. Ich verwandelte mich, spürte die Anwesenheit anderer,
die mit mir verbunden waren, so als teilten wir einen einzigen Geist.
In mir kreiste auch noch die Energie, die ich von Beate – ich
glaube, ich habe schon von ihr erzählt, meine Freundin – und von
Min-Jee erhalten habe. Min-Jee ist die Quelle der Kraft. Diese
Energie vermengte sich mit dem Raum, der Bewusstsein war. Ich
erinnerte mich an eine frühe Phase der Menschheit, an so etwas wie
einen Ursprung. Aber alles ist wie verschleiert. Dann wurde ich
wach.“
„O Mann, du bist echt weit
weg gewesen. Das kommt vom Knast, glaube mir Bruder. Weil hier alles
eintönig ist, weil du nicht wirklich weißt, warum du hier bist,
wird dein Traumleben immer wilder. Ich kenne das, ich kenne das.
Morgen bist du draußen Mann. Jetzt drehe nicht durch. Alles wird
gut.“
„Du hast wahrscheinlich
recht. Es war wohl ein Traum, ein verdammt echter Traum“, sagte
Andy, während er genau wusste, dass es kein Traum war. Er hielt es
aber für besser, nicht weiter darüber zu reden, zumal er sich immer
genauer entsann, was wirklich passiert war: Er lag am Boden, sein
Atem hatte angehalten. Seine Augen waren offen, er konnte sie aber
nicht bewegen. Dennoch erkannte er, wie das seltsame Loch, durch das
die Angreifer geflohen waren, nochmals auftauchte. Ein mächtiger Sog
ergriff ihn und nahm ihn mit sich. Er fand sich in einem kargen
Zimmer wieder – kahle Wände, einige schmucklose Stühle. Sein Hals
weitete sich, Luft strömte in seine Lungen. Ihm wurde das Leben
wiedergeschenkt. Er fühlte sich so, als würde etwas Ähnliches wie
die Energie Min-Jees in ihn eindringen. Es schien nur stiller zu
sein, ein bewegungsloses Fließen, ein Fluss von Anhalten. Es ergab
keinen Sinn und konnte nicht erklärt werden. Wenn Min-Jees Energie
eine bewegte Ekstase auslöste, einen Tanz mit den Formen der Welt,
wurde er nun von einer seltsam stillen Gewalt ergriffen, die einen
Teil von ihm in die Tiefe zog, während er gleichzeitig an der
Oberfläche blieb, im gegenwärtigen Moment. Er sah, wie eine der
Frauen, die seinen Kopf bearbeitet hatten, auf den Mann zuging,
dessen Arm von Leos Energiestoß abgefetzt wurde. Sie blieb vor dem
Verletzten stehen und breitete die Arme aus. Der Mann hörte abrupt
auf zu bluten. Eine Wand öffnete sich und zwei Leute betraten den
Raum. Ihre Gesichter wirkten ausdruckslos. Stumm gingen sie auf den
Verletzten zu, musterten ihn und verließen mit ihm das Zimmer.
Nun war Andy mit den beiden
Frauen alleine. Er verspürte eine unerklärliche Nähe zu ihnen. Der
Mann, der soeben den Raum verlassen hatte, schien auch noch seltsam
gegenwärtig. Ihm war zumute, als fühle er Tausende, ja Millionen
Wesen in sich. Diese trieben auf einem bodenlosen Ozean. Das
Universum mit all seinen Sonnenfunken schwamm auf der Oberfläche
seines schwarzen Wassers, war nicht mehr als Spiegelung einer fernen
Wirklichkeit. Es öffnete sich ein neues Auge, mit dem er besser
sehen konnte, als er es jemals zuvor getan hatte.
„Wir besitzen alle dieses
Auge“, sagte eine der Frauen, die genau verstand, was in ihm
vorging.
„Ich hatte es früher schon
gespürt. Hier sammelte sich Energie an. Nun ist es aufgegangen.
Einfach aufgegangen.“
Die Frau nickte. „Es wäre
irgendwann wieso passiert. Es wird von Energie geöffnet, oder vom
Bewusstsein.“
Andy wunderte sich, dass er
nicht das Bedürfnis hatte, Fragen zu stellen, Fragen, die angebracht
wären, wie: Wo bin ich? Was hat das alles zu bedeuten? Aber ihm
wurde klar, dass die Dinge geschahen, wie sie geschehen sollten.
„Ich bin Alice“, sagte
eine der Frauen.
„Ich heiße Karen“, sagte
die andere.
„Ich bin vom Mond Europa“,
ergänzte Alice.
„Ich bin eine Infizierte“,
sagte Karen. „Du bist in Sicherheit. Dir wird nichts geschehn.“
Alice nahm den Faden wieder
auf, den sie fallen gelassen hatte. „Die beiden Augen, mit der wir
die Welt betrachten, blicken nach außen, das dritte Auge schaut nach
innen. Die Augen, die nach außen blicken, sehen die Gegensätze, das
Auge aber, das nach innen schaut, sieht die Einheit.“
„Ach könnte ich doch immer
so sehen, wie ich jetzt sehe“, schwärmte er.
„Es ist das ursprüngliche
Sehen“, fuhr Alice fort, „es ist dein natürlicher Blick. Nichts
Besonderes. Weil du gelernt hast, ständig nach außen auf die Dinge
zu starren, hast du vergessen, dem zu vertrauen, was nach innen
schaut. Deshalb erscheint dir der einheitliche Blick so
außergewöhnlich. Im Moment siehst du, was sieht. Aber vorerst
müssen wir einen Schleier über dieses Sehen legen, zu deiner
Sicherheit. Du wurdest auserwählt für eine wichtige Aufgabe.“
Obwohl Andy ein nicht
erklärbares Vertrauen zu den beiden Frauen verspürte und zu dem,
was Alice gesagt hatte, schoss aus ihm die Frage heraus: „Und was,
wenn ich mich weigere?“
„Das wirst du nicht tun“,
behauptete Karen und sie schien dabei sehr von ihren Worten
überzeugt.
„Das wäre das Ende“,
fügte Alice hinzu.
„Das Ende wovon?“, wollte
er wissen.
Alice blickte ihm ernst in die
Augen. „Das Ende von allem.“
„Von allem?“
„Ja, von allem“,
bestätigte Alice. „Das Ende vom Mond Europa und seinen Kolonien,
das Ende der Erde und auch das Ende von Enceladus.“
„Enceladus?“
„Das ist die Macht, in deren
Auftrag eure Führerin Min-Jee arbeitet“, erläuterte Alice.
„Also stecken auch da
Außerirdische dahinter!“
Alice schwieg einen Moment
lang, dann fuhr sie fort: „Ja, Außerirdische, die den Planeten
Erde an den Abgrund gedrängt haben. Sie halten sich im Hintergrund
auf und ziehen die Fäden. Min-Jees Leute wären weniger motiviert,
wenn sie wüssten, in wessen Auftrag sie handelt. Aber so sieht es
wie der Widerstand der Menschen gegen uns aus. Obwohl er in der
Praxis sich gegen andere Menschen richtet.“
„Ja, gegen uns Infizierten“,
sagte Karen, „Diese Infektion ist eine freiwillige Sache, sie
funktioniert nur bei Menschen, die dazu bereit sind. Es setzt eine
Resonanz voraus, ein inneres Einverständnis, um die Hilfe
anzunehmen, mit der sich der Geist aus den Verstrickungen der
Illusion befreien kann. Dem getrübten Menschengeist, der sich oft
mit Gier und Hass vergiftet, musste etwas entgegengestellt werden:
eine klare Sichtweise!
Es gibt eine Alternative. Wir
müssen uns nicht länger ausrotten und quälen. Das ist es doch, was
die Menschheit bisher getan hat, oder? Ja gewiss, es wird vertuscht,
man nennt es gesundes Konkurrenzdenken, oder bezeichnet es als Kampf
für die Freiheit und Demokratie. Am Ende ist es aber Krieg,
natürlich für die gute, gerechte Sache.“
„Und nun hat sich gezeigt:
Die Hilfe Außerirdischer, führt zu einer neuen Katastrophe“,
unterbrach Andy.
Alice nickte. „Ja, so ist
es. Wir rechneten nicht damit, dass die Enceladusaner eingreifen
würden. Es hat immer diplomatische Spannungen zwischen uns gegeben,
aber nie hätten wir gedacht, dass sie derart aggressiv vorgehen
würden. Wir haben die Fäden des Schicksals beobachtet und eine
glückliche Zukunft erblickt. Offenbar ist es ihnen gelungen, unsere
Wahrnehmung der Schicksalsfäden zu trüben. Die Situation ist ernst.
Dein Freund hätte beinahe einen der unsrigen getötet. Die Führung
auf Europa muss auf solche Zwischenfälle reagieren. In diesem
Moment, in dem wir hier reden, wird das Gleichgewicht der
spannungsvollen Koexistenz zwischen Europa und Enceladus
zusammenbrechen. Es ist zu spät. Der Krieg hat begonnen und hält
die Erde umklammert. Die Menschheit ist bald nur noch Geschichte. Wir
befinden uns momentan in unserer Kolonie auf dem Grund der Tiefsee.
Selbst hier ist es nicht sicher. Um die Situation zu verändern,
brauchen wir Zeit. Die rennt uns leider davon.“
„Bedeutet das, wir können
nichts mehr machen, weil die Erde bereits in Flammen steht und jedes
Leben ausgelöscht wird?“
„Es ist fünf nach zwölf,
wie man auf der Erde sagt.“ Alice blickte in den Raum, wie um nach
den richtigen Worten zu suchen. „Manches Mal entstehen Kriege
nicht, wie meistens, aus Dummheit, Gier und Ignoranz, sondern
dadurch, dass Konflikte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben. Bis
zu einem Punkt kann man alles friedlich lösen, wenn die
Streitigkeiten klein sind. Etwas später kann man die schlimmsten
Folgen mit Mühe abwenden. Danach geht nichts mehr, dann bleibt einem
nur noch zuzusehen, wie die Katastrophe sich ausbreitet und alles
verschlingt. Bald ist der Punkt ohne Umkehr erreicht. Es gibt noch
eine letzte Möglichkeit. Um diese zu nutzen, bist du hier!“
„Ich soll die letzte Chance
sein? Der Weltenretter, wie in einem schlechten Roman?“
Karen ergriff das Wort. „Der
Keim des Unglücks, das über uns kommt, war harmlos, bevor die Leute
Min-Jees die staatlichen Behörden unterstützten. Sobald sie
aufgetaucht war, beobachteten wir sie so gut, wie es ging.
Außerirdische oder Infizierte konnten ihr aber nie nahekommen, sie
hätte uns sofort entdeckt, wegen unserer energetischen Frequenz. Im
Augenblick hast du an den Segnungen des Einheitsbewusstseins teil und
alles Enge, was du zuvor Ich genannt hattest, ist fort. Wir werden
dir dieses neue Sehen wieder nehmen. Eigentlich kann man es ja nicht
einfach wegnehmen, aber deine Gedanken werden es überdecken. Somit
wird deine Frequenz wieder die eines normalen Menschen werden,
unverdächtig für Min-Jee.“
„Aber ihr habt gemeint, es
ist schon zu spät. Fünf nach zwölf oder so.“
„Nun höre weiter“, sagte
Alice und erklärte Folgendes: „Während unserer Beobachtungen
haben wir in den letzten Monaten alle überprüft, die mit Min-Jee
Kontakt hatten. Darunter war auch Beate, deine Freundin. Bei weiteren
Nachforschungen stießen wir auf deine Geschichte. Du hast im
Gefängnis gesessen wegen staatsfeindlicher Umtriebe. Leider
beinhaltete deine Ideologie nicht nur eine Ablehnung der Methoden des
Staates, sondern du hast auch unsere Politik missbilligt. Somit
schien es vorerst so, als wärest du für unsere Zwecke nicht zu
gebrauchen. Wir erfuhren, dass du nach deiner Entlassung einer von
Min-Jees Anhänger geworden bist. In der verzweifelten Situation, in
der wir uns befanden, kam uns die rettende Idee: Noch könnte alles
gut werden. Es müsste uns nur gelingen, dich zu überzeugen. Du hast
unwissentlich für eine außerirdische Macht gearbeitet, nachdem du
zu Min-Jee gegangen bist. Hättest du das vorher gewusst, wären
wahrscheinlich deine Handlungen anders gewesen. Jetzt hast du die
Chance, es vorher zu wissen. Du kannst alle retten, uns, die Erde,
dich und diese verfluchten Enceladusaner!“
„Ich verstehe nichts, gar
nichts. Von welcher Chance sprecht ihr?“
Alice sah in fest an. „Es
handelt sich um die Möglichkeit, in der Zeit zurückzugehen.“
„Moment mal reden wir hier
von einer Zeitreise? So etwas gibt es nur in Filmen. Es ist in der
Realität nicht möglich, zumindest nicht zurück in die
Vergangenheit.“
Alice sagte: „Die Sache
verhält sich so: Eine Reise in die Zukunft ist einfach. Euer
Einstein hat die Grundlagen ja berechnet, nur wieder zurück ist
schwierig. Nun zur Reise in die Vergangenheit. Sie ist nicht
ungefährlich und kann nicht oft durchgeführt werden. In unserem
Fall haben wir nichts zu verlieren. Du reist nicht mit dem Körper in
die Vergangenheit, sondern deine Erinnerung, dein Geist geht zurück.
Das heißt, du wirst nicht zweimal da sein, sondern dich in deinem
alten Körper wiederfinden. Die technischen Details würden dich nur
langweilen. Wichtig ist: Wir müssen Min-Jee entladen und ihre
Energiequelle finden. Min-Jee ist der Schlüssel. Sie ist dazu
gezwungen immer neue Energie auf ihre Anhänger übertragen, damit
diese nicht ihre energetischen Fähigkeiten verlieren. Mich und Karen
würde sie unter normalen Umständen sofort aufspüren, wenn wir ihr
nahekämen. Sie besitzt einen starken inneren Radar. Aber du, du
kannst dich ihr nähern und ihren Radar täuschen. Wir sagen dir, wie
das zu bewerkstelligen ist und wann es passieren soll. Das ist unsere
Hoffnung.“
Es wurde immer wärmer. Der
Schweiß ließ sein Hemd am Leibe kleben. „Warum ist es so warm
hier?“
„Das Meer, es beginnt zu
verdampfen. Der Krieg ist im Gange“, sagte Alice ausdruckslos. Ein
bläuliches Licht strahlte dabei aus ihrem Herzen und erfüllte den
Raum mit seltsamen Glanz. Alles drehte sich um Andy und seine Sinne
weigerten sich, irgendetwas wahrzunehmen.
Andy schüttelte die
Erinnerung ab wie lästiges Insekt. Er fand sich im Gefängnis
wieder. Sein Zellengenosse, ein Muslim, betete gerade. Es war
wirklich passiert, sie hatten ihn zurückgeschickt, einfach so, durch
die Zeit. Jetzt war wieder damals. Alles sollte noch einmal
geschehen, nur ein wenig anders, zumindest was Min-Jee betraf. Jetzt
wusste er, was die Zukunft bringen würde: das Ende der Erde. Sie
hatten es geschafft, er konnte es nicht fassen, aber es war real.
Nichts konnte realer sein wie eine Gefängniszelle. Er war in der
Vergangenheit, nur ohne sein altes Selbst. Das existierte nur noch
als Erinnerung in ihm. Konnte er die Vergangenheit wirklich
verändern? Hatte man ihn zurückgeschickt, oder die gesamte Zeit
zurückgedreht? Er hörte auf, darüber nachzudenken. Er würde,
sagte er sich, wieso keine Antwort darauf finden. Vielleicht gab es
mehrere Welten, verschiedene Zeitlinien. Wie auch immer, er hatte das
Ende der Welt zu verhindern. Er hoffte, dass die Bewohner von Europa
wussten, was sie taten, wenn sie mit der Zeit herumspielten. Sicher
aber war das nicht, es könnte auch ein letzter Akt der Verzweiflung
gewesen sein, der sie zu einer unbedachten Handlung getrieben hatte.
Die einzige Möglichkeit seiner Aufgabe gerecht zu werden, war,
bedingungslos daran zu glauben, dass die Aliens richtig entschieden
hatten. Er schaute zu seinem Zellengenossen rüber, der sich auf den
Boden niedergehockt hatte und sich inbrünstig seinem Gott unterwarf.
Ratsherr Zarzar trat ein. Er
blickte sich mit strenger Miene um. „Recht ordentlich für die
hiesigen Verhältnisse“, murmelte er. Man merkte es an seinen
Bewegungen, dass er erst seit Kurzem diese Körperform besaß. Er
kämpfte etwas unbeholfen gegen die Schwerkraft. Mit leichtem Humpeln
ging er auf das Sofa zu und ließ sich darauf fallen. „Wirklich
hübsch hier Alal“, lobte er. Es war klar, dass es sich hierbei um
eine Höflichkeitsfloskel handelte. Sie gehörte auf Europa zum
Standardrepertoire.
„Alice!“
„Wie bitte?“
„In dieser Form, die ich auf
der Erde annehme, heiße ich Alice!“
„Gewiss doch, Ihre Tarnung
muss ja stimmen“, bestätigte Rat Zarzar.
„Es ist mehr als eine
Tarnung, es ist die Erweiterung meiner Identität“, stellte Alice
klar.
Der Ratsherr fand sich gewiss
in seiner Meinung bestätigt, dass diese Kolonisten auf der Erde, die
eine menschliche Form angenommen hatten, äußerst eigenwillig waren,
dachte Alice. Er blickte zu Chrochro hinüber, der im Prinzip als ein
vorzüglicher Bürger Europas gelten könnte, wenn er nicht dazu
neigen würde, seinen Patriotismus zu übertreiben. Seinetwegen
musste ein Mann wie Philphil halb verblödet auf einem Acker
herumbuddeln, irgendwo in der Einöde dieses verdammten Planeten. Das
waren nicht ihre Gedanken, sie hatte sie von Rat aufgefangen, teilte
sie aber durchaus, so dass es ihre hätten sein können. Der Rat
richtete seinen Blick auf Karen. Er zwang sich dabei zu einem Lächeln
– eine der wenigen örtlichen Verhaltensweisen, die man ihm in der
Eile implantiert hatte.
Als sich alle gesetzt hatten,
begann der Ratsherr seine Ansprache. „Die Situation ist ebenso
verwickelt wie gefährlich. Die Analyse der Energie, die Chro ...
oder besser Christian bei dem Wachmann vorgenommen hat, mit dem er,
wie wir wissen, bei der Befreiung eines Infizierten zusammengestoßen
ist, bestätigt unseren Verdacht. Aber das wurde Ihnen bereits
mitgeteilt. Enceladus steckt dahinter. Jeder diplomatische Kontakt zu
ihnen ist seit Langem eingestellt worden. Wir beobachten uns seit
Jahrhunderten gegenseitig und halten die Drohung aufrecht, einen
Krieg führen zu können, wenn wir es wollten. Alles in der Hoffnung,
somit einen Krieg zu verhindern. Eine Strategie, die auch auf der
Erde bekannt ist. Man nennt sie hier Abschreckung. Ein riskantes
Spiel, gewiss, aber es hat bisher funktioniert, jedenfalls solange,
bis die Erde ein Spielstein in diesem Spiel wurde. Eine besondere
Bedeutung hat dabei die Kolonie.“
„Der Rat von Europa hat die
Kolonie gebilligt“, warf Alice ein.
„Das ist richtig“,
bestätigte Rat Zarzar, „Allerdings als Kolonisten auf der Erde mit
dem Infizieren begannen, beobachteten einige Mitglieder des Rates
oben auf Europa das mit überaus kritischen Blicken. Aber letztlich
vertraute man einem unserer Besten. Ich rede hier von Ihrem Bruder,
Alice. Die Situation änderte sich. Als die Regierungen der Erde
witterten, was los war und Angst bekamen, sie könnten die Kontrolle
verlieren, griffen die Infizierten und die Kolonisten aktiv ins
Geschehen ein. Eine Art Revolution wurde ausgelöst. Sie kennen die
Geschichte so gut wie ich. Alles schaukelt sich hoch, Unterdrückung
auf der einen Seite, Aufstände auf der anderen. Deutschlands
Regierung, eine Mischung aus Korruption und Trägheit, agiert zurzeit
aus dem Exil. Oppositionelle Kräfte sind bereit, die
Regierungsgewalt an sich zu reißen. Während dieses alles geschieht,
sitzen die Enceladusaner auf ihrem blassen Mond und beobachten das
Ganze missmutig. Sie blättern in Jahrtausende alten Verträgen, an
die sich bei uns kaum jemand erinnert, welche die Enceladusaner aber
noch für gültig halten. Sie blättern und blättern und finden
natürlich auch eine Stelle, über die sie sich aufregen können. Man
weiß, es sie sind Pedanten, für sie gelten Verträge für alle
Ewigkeit. Diese Paragrafenreiter würden deshalb auch niemals eines
ihrer dürren Beine auf die Erde stellen. Aber sie haben ja andere
Wege gefunden, um ihre Pedanterie und giftige Aggressivität
auszuleben. Wir wissen zwar nicht, wie sie den Kontakt zu einem
Menschen hergestellt haben, trotz ihrer Paragrafentreue. Irgendwie
ist es ihnen dennoch gelungen. Vielleicht gab es eine Lücke in einem
ihrer halb verrotteten Verträge. Inzwischen haben Sie ja die Quelle
der feindlichen Energie aufgespürt, diese Min-Jee. Das war eine
kurze Zusammenfassung der momentanen Situation. Jetzt ist die Frage
zu klären, ob wir uns im Krieg befinden, oder kurz davor. Wenn wir
die Leute der Min-Jee als Söldner wahrnehmen, die im Auftrag von
Enceladus handeln, können wir von einem kriegerischen Akt sprechen.
Andererseits sind es Menschen, die sich uns entgegenstellen.
Offiziell haben die Enceladusaner nichts damit zu tun. Aber natürlich
stecken sie dahinter, sie führen einen verdeckten Krieg. Europa muss
handeln. Die Fäden des Schicksals zeigen eine Richtung auf, die
nicht allzu hoffnungsvoll stimmt.
Da uns die Sache alle
betrifft, sind die Sonderrechte der Kolonie aufgehoben. Der Rat der
Kolonie wird für die Dauer der Ausnahmesituation den Weisungen des
Rates auf Europa unterstellt. Von Ihnen verlangt der Rat, alles
Mögliche zu unternehmen, um Min-Jee auszuschalten.“
Karen meldete sich zu Wort.
„Verzeihung, aber das gilt doch nicht für uns, also für die
Infizierten. Ich meine, wir unterstehen nicht den Befehlen des Rates
von Europa. Oder sind wir bereits als vollwertige Mitglieder Ihrer
Gemeinschaft anerkannt? Auch gilt hier das deutsche Recht, zumal wir
uns auf deutschem Boden befinden. Ich meine, ich bin
selbstverständlich auf der Seite Europas, aber jetzt wird ein
richtig fetter Krieg zu uns auf die Erde getragen. Sie treffen
irgendwelche Entscheidungen und wir Menschen werden nicht einmal
gefragt.“
„Gewiss, ich sehe das
Problem und verstehe Ihre Konfusion“, sagte der Rat und schlug
einen väterlichen Ton an. „Es gibt hier, so erfuhr ich, eine
Krankheit, man nennt sie Alzheimer. Ist jemand davon befallen,
schwinden seine geistigen Funktionen. Somit sind andere dazu
gezwungen, dem Kranken gewisse Entscheidungen abzunehmen. Momentan
gleicht die Erde einem Alzheimerpatienten. Es ist die alte Frage, was
den Planeten Erde betrifft. Die Frage der Verantwortung.“
„Was wollen Sie damit
andeuten, dass es die alte Frage der Erde ist“, wollte Karen
wissen.