Donnerstag, 21. Oktober 2021


        

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                                 NICHT VON DIESER WELT



Diesseits der Verzweiflung leben die Kinder, jenseits die Erwachten.
Hermann Hesse, die Morgenlandfahrt



                                EUROPA ++++++++++++





Nachdem Philip die Augen geöffnet hatte, sah er das Planetensystem. Ein Pfeil tauchte auf, dessen Spitze in Richtung Jupiter zeigte und vor dem Mond Europa endete. Er hasste dieses veraltete TV-Gerät, aber er benutzte es immer wieder als Wecker. Gähnend streckte er sich. Er hätte liegen bleiben sollen, dachte er, liegen bleiben und schlafen. Wozu sollte das gut sein, dieses Aufstehen? Es gab für ihn nichts zu tun, sein Körper war ein nutzloses Etwas, das blöd durch den Tag taumelte. Dennoch, er ließ sich täglich von der verhassten TV-Kiste wecken, da er ein schlechtes Gewissen bekäme, wenn er bis tief in den Nachmittag hinein im Bett bleiben würde. Er schlich zur Kaffeemaschine, er brauchte einen Wachmacher, extra stark, um sich damit die Reste der Droge aus dem Leib zu spülen. Der Kommentar aus dem Fernsehgerät erreichte seine vom Schlaf noch halb tauben Ohren. Offenbar sendete man eine Dokumentation.

„Während des ersten Einsatzes eines Europarovers, eines sechsrädrigen Erkundungsfahrzeuges, das die Eisspalten des Mondes Europa erforschen sollte, stieß man auf ein unidentifizierbares Objekt. Die Kamera des Rover konnte Filmaufnahmen davon machen. Es krabbelte auf acht Beinen über die Oberfläche des Jupitertrabanten. Die Sensation war perfekt. Wo man es am wenigsten vermutet hätte, wähnte man, eine außerirdische Lebensform entdeckt zu haben. Bis dahin wurde angenommen, dass es auf der Oberfläche des Mondes Europa unmöglich wäre, auf Leben zu stoßen. Ist es doch dort viel zu kalt, als dass sich Wasser in flüssiger Form hätte bilden können – eine Voraussetzung für die Entstehung lebender Zellen. Die durchschnittliche Temperatur auf der Oberfläche des kleinsten Jupitermondes beträgt minus 160 Grad Celsius. Leben, so nimmt man an, kann sich nur im Wasser unter der dicken Eisschicht gebildet haben. In der Nähe des Meeresbodens herrschen weitaus höhere Temperaturen. Eine Folge des heißen Mondkerns. Nachdem der Rover das fragliche Objekt genauer untersucht hatte, bezweifelten einige Experten, dass man auf eine komplexe Lebensform gestoßen sei. Allem Anschein nach hatte man es mit einer technischen Apparatur zu tun. Das warf mehr Fragen auf, als beantwortet werden konnten. Wer hatte dieses Gerät gebaut? Und wie gelangte es auf die Oberfläche des Jupitermondes Europa? War es von der Erde dorthin geschickt worden? Und wenn ja, von wem?

All diese Fragen werden sich bald klären. Vor drei Wochen hat der Raumgleiter Medusa 4 das rätselhafte Artefakt zur Erde gebracht. Das Objekt wird gründlich erforscht. Ein Team hochkarätiger Wissenschaftler und Techniker ...“

Die Kaffeemaschine hatte ihre Arbeit erledigt. Philip griff nach der Fernbedienung und schaltete das TV-Gerät aus. Er goss Kaffee in den Becher. Etwas Essbares war nirgendwo aufzutreiben. Er wurde nachlässig, seit er nicht mehr arbeitete. Manches Mal beneidete er seine Schwester, sie hatte einen tollen Job bei der ESA. Und jetzt durfte sie sogar bei der Untersuchung dieses Dinges dabei sein, dieses berühmten Schrottes vom Mond Europa.

Er griff nach dem Smartphone und prüfte sein E-Mail-Konto. Nur Mist! Kein freundlicher Brief, wie: Lieber Philip, ich hoffe, es geht dir gut. Wir sollten uns mal wieder treffen ... Er schien nicht mehr zu existieren für die Welt, war zu einem Nichts geschrumpft. Er führte die Tasse zu seinen Lippen und schlürfte die heiße Koffeinbrühe. Einer musste ja das schwarze Schaf in der Familie sein! Seine Schwester, die gute Alice, war immer eine Mischung aus Vorzeigekind und Glücksmarie gewesen. Obendrein hatte sie einen Traumjob ergattert, gehörte zum Expertenteam, das diesen außerirdischen oder chinesischen Apparat unter die Lupe nahm.

Er suchte sich einen Zettel und schrieb mit fahriger Schrift KRATOM darauf. Er durfte nicht vergessen, es zu bestellen. Die Droge beruhigte seine Nerven und ließ ihn für kurze Zeit wieder normal werden. Oft war er überreizt, Gedanken rissen ihn mit sich fort und eine bösartige Unsicherheit sickerte wie schweres Gift in seine Welt hinein. Schon oft im Leben hatte er das verdammte Gefühl gehabt, es würde etwas nicht stimmen mit ihm und dem Universum. Dieses Gefühl war das Einzige, was ihm an früher Erinnerung geblieben war. Viele sahen einen Sinn im Dasein, wollten Kinder in die Welt setzen, Reichtum anhäufen, Erfolg haben oder gute Menschen sein. Manche glaubten an die Vernunft, andere beteten zu Gott, der ein netter alter Herr war und alles aufs Beste regelte. Er glaubte an nichts. Die Anstalten, die die Leute um all das machten, kamen ihm lächerlich vor. Er musste wirklich neues Kratom bestellen, mehrere Beutel!



Alice kniff die Augen zusammen, um jedes Detail zu erkennen. Der außerirdische Fund wurde von einem Schraubstock gehalten. Um einen Plexiglaskasten, der in der Mitte des Raumes stand, hatten sich die Experten versammelt und musterten dieses achtbeinige Ding, das vom Rover entdeckt wurde, als er einen geeigneten Platz für den Maulwurf suchte. Der Maulwurf war eine Maschine, geschaffen, sich durch die dicke Eisschicht des Mondes Europa hindurchschmelzen. Im Inneren des Maulwurfs befand sich der Cyrobot, ein intelligenter Roboter zur Erforschung des unterirdischen Meeres. Die achtbeinige Entdeckung hatte natürlich Vorrang. Der Maulwurf wurde, ohne dass er seine Aufgabe erfüllte, auf der Mondoberfläche zurückgelassen. So schnell wie möglich wurde der kostbare Fund zur Erde geflogen. Jetzt hing die Spinne, wie das Gerät genannt wurde, eingeklemmt in einem durchsichtigen Kasten und wurde von Alice untersucht. Seltsamerweise kam es ihr so vor, als lägen alle Antworten tief vergraben in ihrem Geist.

„Metall, schätze ich mal“, sagte Doktor Werner, der Leiter des Teams.

„Wir können es vielleicht aufschrauben“, bemerkte Alice und bewegte den Greifarm, um an einer Art von doppelter Mutter zu drehen. Die acht Beine zappelten träge.

„Immer schön vorsichtig, es könnte sein, dass wir keinen Roboter vor uns haben, sondern ein lebendes Wesen, das in einem metallenen Schutzanzug steckt“, meinte Doktor Pearse, der Spezialist für Exobiologie war.

„Das wäre ein Ding, wenn da wirklich jemand oder etwas drin stecken würde“, sagte Curi, der ständig betonte, dass er der kompetenteste Fachmann für Optik und sensorische Systeme war.

Alice schraubte unbeirrt weiter an der Mutter. „Es geht auf!“, rief sie und versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Sie hob eine silberne Schale von der oberen Seite der Spinne ab. Für einen Moment glaubte sie, ein Funkeln in den vier Augen des Artefaktes zu erkennen. Aber gewiss waren die Augen nichts weiter als Linsen aus Kunststoff oder Kristall. Endlich konnte sie ins Innere blicken. „Wohl keiner zu Hause“, bemerkte Alice, „da ist etwas, was aussieht wie ein Drahtknäuel.“

„Womöglich haben wir ein Gegenstück unseres Rovers vor uns, nur eben mit Beinen, anstatt der Räder. Und ...“

„Und es kommt eventuell von unten, aus dem Meer unter der Eisschicht Europas“, ergänzte Alice Doktor Werners Spekulationen.

„Das wissen wir eben nicht, noch nicht“, fuhr Doktor Werner fort, „Es kann von überall herkommen. Obwohl es Sinn machen würde, das mit den Beinen, wenn es aus dem unterirdischen Meer käme. Fahrzeuge mit Rädern wären ja in der Unterwasserwelt wenig zweckmäßig. Etwas mit Beinen dagegen könnte sich ganz gut auf dem Meeresgrund bewegen. Denken Sie an Krabben. Aber das ist vorerst reine Fantasie. Noch wissen wir so gut wie nichts.“

„Die Augen, ich brauche davon eines. Können Sie sie lösen?“, fragte Curi.

Alice tastete sich mit den Instrumenten bis zu den Linsen vor. Sie ließen sich abschrauben. Sie legte sie mit einem der Greifarme, die sie bediente, in eine kleine Schublade. Dort wurden sie sterilisiert, bevor man sie nach draußen ziehen konnte. Curi strahlte übers ganze Gesicht. Er rieb sich freudig die Hände, entnahm behutsam die Linsen und verschwand damit in einen Nebenraum.
Pearse fragte, was das sei, wovon die Drähte ausgingen.

„Wohl eine Energiequelle. Also ich werde ganz vorsichtig sein müssen. Nicht, dass uns alles hier um die Ohren fliegt“, sagte Alice und öffnete mit dem Greifarm einen Deckel. Etwas Seltsames kam zum Vorschein. Es zitterte wie Götterspeise.

Pearse wollte sich diese Substanz genauer ansehen. Er bat Alice, sie möge den Kasten mit dem wabbligen Zeug ablösen. Sie tat es und legte den Kasten in eine durchsichtige Kunststoffschachtel, die sie sogleich sterilisierte. Nachdem Pearse das Objekt seiner wissenschaftlichen Begierde in den Händen hielt, suchte er sich einen freien Tisch, richtete das Mikroskop aus und versenkte sich in die Betrachtung der außerirdischen Masse. Die Beine des Gerätes strampelten nicht mehr. Alice hatte die Energiequelle entfernt.

Unvermittelt sprang Pearse auf und fuchtelte mit den Armen herum. „Es lebt!“, rief er.

„Wie denn, ist der Pudding eine inteligente außerirdische Lebensform?“, fragte Werner halb überrascht, halb spöttisch.

„Mikroben, der Rest ist wohl eine Nährlösung“, erklärte Pearse, der langsam seine Fassung zurückgewann. „Es sind recht seltsame Mikroorganismen, und wenn ich nicht irre, dann produzieren sie Strom. Es ist sozusagen eine lebende Batterie. Ähnliches habe ich noch nie zuvor gesehen. Könnte extraterrestrischen Ursprungs sein. Wäre aber auch möglich, es handelt sich um das Ergebnis eines genetischen Experimentes irgendeines Landes auf der Erde. Ich halte es allerdings für außerirdisch, zu neunzig Prozent.“

„Dann wäre das also der erste Kontakt. Das, worauf man schon lange gewartet hat: Der Beweis, dass wir nicht allein im Universum sind“, bemerkte Alice.

„Zu neunzig Prozent“, wiederholte Pearse.

Curi stürmte in das Labor und warf die Linse, die er untersucht hatte, erregt auf den Tisch.

„Um Gotteswillen“, meckerte Werner, „das ist die wahrscheinlich kostbarste Linse auf der Welt!“

„Ist eine Standardlinse: Sie stammt von der Firma Zeiss und wurde in Deutschland gefertigt. Ich besitze ein Dutzend davon. Eine der Linsen aus dem Ding ist in diesem Kästchen hier!“ Er holte eine Schachtel aus der Tasche seines Laborkittels. „Jetzt kommt die Überraschung: Die beiden Linsen, die von Zeiss und diese vermeintlich außerirdische hier, unterscheiden sich nicht im Geringsten voneinander. Größe, Gewicht, alles stimmt überein. Zweifelsfrei ist unsere Linse von dieser Welt. Wahrscheinlich auch von Zeiss“, sagte Curi.

Eine Minute lang lag Stille im Raum, dann sprach Doktor Werner: „Wir haben bis jetzt eine Batterie, womöglich außerirdischen Ursprungs und Glaslinsen, von der Firma Zeiss. Etwas ist hier seltsam. Das Beste ist, vorerst Schweigen darüber zu bewahren. Wer weiß, was dahintersteckt.“
Der Roboter vom Mond Europa hing wie ein totes Tier im Greifarm. Niemand sagte ein Wort.







Hier entsteht ein Roman, zumindest einer in seiner Endfassung. Das Manuskript ist in seiner ersten Form fertig, wird aber noch ordentlich überarbeitet. Die Sparte ist Science-Fiction. Welche Art von Science-Fiction es ist? Also es ist kein wirklicher Hardcore Science-Fiction, eigentlich recht wenig Hardcore.


 Vielleicht spielt der technische Aspekt bei fortgeschrittenen Kulturen nicht die Rolle, die wir ihm zumessen. Vielleicht haben sie sich mittels Biotechnik schon so weit verändert, dass sie das, was wir unter Technik verstehen, hinter sich lassen konnten. Abgesehen davon, sehe ich die technische Seite nicht im Mittelpunkt. Es ist nicht das Thema des Romans.


Nun man mag einwenden, bei der technischen Seite gehe es darum, das Gefühl der Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, dass etwas Fantastisches einer scheinbar realen oder zumindest möglicher Grundlage bedarf, um glaubwürdig zu scheinen. Ich muss zugeben, dass der hier vorgestellte Roman nach und nach immer fantastischer wird, ja, dass er geradezu ins Unglaubliche mutiert. Dabei holt er den Realismus, der in ihm wohnt, aus anderen Bereichen als den rein technisch Möglichen. Er beschäftigt sich nämlich mit Fragen, die uns nicht allzu fremd sind. Was geschieht, wenn verschiedene Kulturen aufeinanderstoßen? Inwiefern darf man in die Geschicke anderer eingreifen? Ab wann wird Krieg unvermeidlich? Gibt es eine vollkommen andere Sichtweise auf die Realität? Und wie kann das, was gut gemeint ist, zum Gift werden? Also es sind mehr die menschlichen Fragen als die Technischen, die hier aufgeworfen werden. Ich möchte das Folgende doch als, obwohl es sich hochgestochen anhören mag, soziologisch, metaphysischen  Science-Fiction Roman bezeichnen. 


Gibt es Inspirationen für das Werk. Ursprünglich nicht, als ich aber darüber nachgedacht habe, fielen mir Autoren wie Philip K. Dick (wen hat er nicht inspiriert?), Kurd Laßwitz – besonders sein Roman AUF ZWEI PLANETEN, sowie Olaf Stapledon (Der Sternenmacher) ein.
Wer sich durch meine vorhergehende Beschreibung des folgenden Machwerkes nicht abschrecken lässt, mag es wagen, in diese Geschichte einzutauchen. Aber vorsichtig, ich übernehme keine Garantie dafür, dass man noch der ist, wer man zuvor war, wenn man aus der Geschichte wieder aufgetaucht.
Jetzt aber genug gequatscht. Es soll künftig (ich werde mich bemühen) wöchentlich ein Teil des Romanes erscheinen. Nun zum ersten Te
il.