TEIL 2
Philip
starrte auf das summende Smartphone. Ein Anruf von seinem Exschwager.
Er wunderte sich, da er mit ihm kaum noch Kontakt hatte.
„Philip,
falls du deine Schwester erreichen willst: Sie ist nicht da, sie ist
verschwunden“, sprach es aus dem Lautsprecher. „Laura ist vorerst
bei mir und es geht ihr gut, obwohl sie ihre Mutter vermisst.“
Philip
war sich nicht klar, ob er alles verstanden hatte. „Was heißt das:
Alice ist nicht da?“
„Verschwunden,
ohne auch nur ein Wort zu sagen. Laura hat sich an die Nachbarn
gewandt, die haben dann die Polizei benachrichtigt. Die Polizei wird
sich bestimmt auch bei dir melden. Du weißt nicht zufällig was?“
„Ich?
Nein! Ich weiß nur, dass sie an diesem Projekt arbeitet, diesem
außerirdischen Zeug, wovon sie im Fernsehen berichtet haben.“
„Ich
hoffe das Beste, dass sie bald wieder auftaucht. Machs gut Philip!“
Er
legte das Smartphone aus der Hand, die jetzt kraftlos an seinem Arm
hing. Er fragte sich, ob er den Anruf soeben wirklich geführt hatte.
Es gab nichts daran zu rühren, es war kein Traum gewesen, sondern
die absurde Realität, die einem immer wieder neue Fragen vor die
Füße warf. Wie konnte seine Schwester nur verschwinden? Sie wäre
niemals einfach losgegangen und hätte die kleine Laura
zurückgelassen! Etwas musste passiert sein, etwas Unvorhersehbares,
Schreckliches. Er betete, dass sie noch lebte.
Er
durfte nicht nur warten und nichts tun! Er musste sich aufraffen,
seine Trägheit abschütteln, etwas unternehmen. Nein, Alice konnte
nicht tot sein, das akzeptierte er nicht. Sie lebte, irgendwo, sie
wartete und brauchte Hilfe. Er fühlte sich seltsam, ihm kam es so
vor, als hätte er für Sekunden durch ihre Augen geschaut. Ein
abgeschlossener Raum. Er fror. Sie hockte in einer Ecke und sah zu,
wie eine Spinne ein Netz webte. Er spürte nicht seinen, sondern den
Körper seiner Schwester, ihre Gedanken schwammen in seinem Kopf.
Zwischen ihm und Alice gab es keine Grenze. Zitternd saß er in
diesem Gefängnis. Als er tief ausatmete, fand er sich in seiner
Wohnung wieder. Hastig sprang er auf, steckte Kreditkarte und
Schlüssel ein und rannte panisch aus dem Haus.
Vor
dem Grundstück seiner Schwester angekommen, fragte er sich, was er
hier überhaupt wollte. Er hatte keine Ahnung. Irgendetwas führte
ihn, lenkte seine Schritte, ein Instinkt, der mehr wusste als sein
Verstand. Es herrschte Betrieb. Männer schleppten Kisten aus dem
Haus. Unsicher ging Philip zur Eingangstür, vor der er sogleich
angesprochen wurde. Er solle doch bitte weitergehen, hier werde
gearbeitet.
„Aber
das ist das Haus meiner Schwester!“
„Aha“,
sagte der Mann, der sich vor ihm aufgebaut hatte, „Sie sind das.“
„Es
hört sich an, als hätten Sie auf mich gewartet. Man scheint ja das
ganze Haus leerräumen zu wollen. Ist das so üblich bei einem
Vermisstenfall?“, wollte Philip wissen.
Der
Mann nickte. „Das Verschwinden Ihrer Schwester ist kein
gewöhnlicher Fall. Wie Sie wissen, arbeitete sie für die
Weltraumbehörde ESA. Es müssen Unterlagen sichergestellt werden.“
„Verstehe“,
sagte Philip mit nachdenklicher Miene, „haben Sie schon eine Spur,
einen Verdacht, wo sie sein könnte?“
Der
Polizist presste seine Lippen zu einem Strich zusammen. „Nein, ich
gehöre nicht zu dieser Art Polizei. Dafür ist eine andere Abteilung
zuständig.“
„Zu
welcher Art von Polizei gehören Sie denn, wenn ich fragen darf?“
„Zu
der Art, von der man selten hört. Wir sind für die nationale
Sicherheit zuständig. Wir sorgen dafür, dass wichtige Informationen
nicht in die falschen Hände geraten. Der dahinten, der kleine Dicke
neben der Birke, der ist von der normalen Polizei. Aber sollten Sie
etwas von Ihrer Schwester hören, melden Sie sich zuerst bei uns, das
hat absoluten Vorrang!“, sagte der Mann vom Geheimdienst und
überreichte Philip eine Karte mit einer Telefonnummer.
Philip
bedankte sich oberflächlich und lief zum kleinen Dicken hinüber.
„Ich bin der Bruder der Vermissten, Philip Stein.“
Der
Ermittler schaute ihn traurig von unter her an. „Ich bin
Polizeioberkommissar Lehmann. Sehen Sie, alles weg, alle Hinweise
sind weg. Sie räumen alles leer – die sind von der Regierung. Ach,
was rede ich: Die sind mehr als die Regierung!“
Philip
nickte. „Ich weiß. Haben Sie Spuren, Anhaltspunkte?“
„Spuren?
Nö – Sie ist verschwunden, hat keine Hinweise hinterlassen. Sagen
Sie: War ihre Schwester vielleicht in einer gewissen Form lebensmüde,
depressiv? Entschuldigen Sie, aber ich muss diese Fragen stellen.
Reine Routine.“
Philip
schüttelte den Kopf. „Sie hätte niemals ihre Tochter alleine
gelassen.“
Der
Ermittler nickte, wobei sein Doppelkinn wackelte. „Hören Sie, wenn
Sie etwas Neues erfahren sollten, sagen Sie mir gleich Bescheid. Ich
meine, wirklich gleich. Nicht erst denen da, der Geheimpolizei. Falls
ihre Schwester noch lebt – verzeihen Sie meine direkte Rede –
dann sind die Chancen so etwas größer, sie zu finden. Die da hinten
sind nur an Informationen interessiert, am beschaffen von Daten und
an Geheimhaltung von Daten, nicht an Menschen.“
Philip
ergriff die Visitenkarte, die der Kommissar ihm reichte. „Verstehe“,
sagte er, drehte sich um und verließ das Grundstück. Kurz dachte er
daran, des Nachts hier aufzutauchen und heimlich ins Haus zu
gelangen. Aber er verwarf das schnell wieder. Sie würden gewiss
Wachen aufstellen. Es musste ja verdammt wichtig sein, dieses
Projekt, sagte er sich, diese Erforschung des Apparates vom Mond
Europa. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er war nicht
besonders gut darin.
Alice
war fort, einfach so. Der Geheimdienst trieb sich in ihrem Haus rum.
Die Kriminalpolizei schickte einen traurigen, fetten Ermittler
vorbei, der wahrscheinlich gar nicht ermitteln durfte, der auch
nichts zu ermitteln hatte, da alle Beweismittel weggeschafft wurden.
Er stellte sich die Frage, wie viel der Geheimdienst wirklich wusste
und was er vertuschte?
Philips
Kopf schmerzte und seine Gedanken wurden zu flinken Fischen, von
denen nicht ein einziger zu fassen war. Er wollte sich an etwas
erinnern. Da war aber nichts in ihm. Nicht vielmehr als ein Nebel,
ein milchiger Vorhang, hinter dem sich alles Mögliche verbergen
mochte. War es Alzheimer, war es Ausdruck der großen Müdigkeit, die
ihm seit Langem schon befallen hatte, und die er mit sich schleppte
wie einen monströsen Stein? In der Krone einer Pappel trällerte
eine Amsel. Ein Pfauenauge taumelte wie sterbend durch den
Augenblick. Seine Schwester, ja, er wollte seine Schwester suchen.
Sie lebt, sagte er sich, sie lebt! Unvermittelt schaute er abermals
durch Alices Augen. Eine Spinne ließ sich an einem Faden von einer
Decke herab. Etwas holte ihn ruckartig wieder auf die Straße zurück.
Er stand in der Siedlung neben all den teuren Häusern. Dieses
Unbekannte, das ihn ergriffen hatte, rüttelte etwas in ihm wach.
Vielleicht gab es ja Engel. Er fand diese Vorstellung schön und
lächelte. Eine Stimme in ihm sprach: „Ab jetzt wirst du Wunder
erleben!“
Er
schauderte, eine unsichtbare Hand hatte ihn gepackt und die Führung
über sein Leben übernommen.
Ein
Expertenteam, hieß es, sollte das Gerät vom Jupitermond Europa
untersuchen. Philip sagte sich, dass er jemanden von diesem Team
ausfindig machen müsse. Mit diesen Leuten hatte Alice viel Zeit
verbracht. So könnte er gewiss etwas erfahren.
Er
schloss die Tür auf, war wieder daheim. Nachdem er seinen Computer
hochgefahren hatte, gab er ROBOTER VON EUROPA in die Suchmaschine
ein. Es erschienen jede Menge Artikel über den Jupitermond, zumeist
reißerisch aufgemacht, aber er fand darin kaum Hinweise über die
Wissenschaftler, die an dem außerirdischen Artefakt forschten. Erst
nach langer Suche stieß er auf die Namen von zwei Leuten. Scheinbar
hatten beide an dem Projekt mitgearbeitet. Weiter war nichts zu
erfahren. Er wollte sich die Facebook-Seite seiner Schwester ansehen.
Seine Bemühungen blieben vergeblich, die Seite lud nicht. Er sah
seine Mails durch: Reklame; die Mahnung, dass die Ausleihfrist eines
Buches bald abgelaufen sei; eine Nachricht mit der Aufschrift: BITTE
ÖFFNEN!! Vermutlich Spam, entschied er. Als er grade dabei war, sie
zu löschen, brachte ihn ein Impuls dazu, sie dennoch anzuklicken.
Die Mail beinhaltete einen der beiden Namen, die er im Internet
gefunden hatte. Darunter stand eine Adresse. Die Mail stammte von
einem anonymen Server. Ihm wurde klar, dass hier etwas nicht stimmte:
Erst schienen alle Informationen, die er gesucht hatte, gelöscht
worden zu sein, nun bekam er eine von den Adressen, die ihn
interessierten, einfach so zugeschickt! Morgen nahm er sich vor,
würde er diesen Mann besuchen. Jetzt war er zu müde dazu.
Er
mixte sich einen Smoothie, gab Kratom mit hinein und schluckte die
leicht bittere Masse. Nach wenigen Minuten wirkte die Droge. Eine
wohlige Wärme breitete sich in ihm aus, sein Kiefer wurde taub. Er
setzte sich vor seinen Computer und klickte einige Musikvideos auf
Youtube an. Beim Hören der Melodien redete er sich ein, die Welt sei
vollkommen in Ordnung.
Der
Ton des alten TV-Gerätes drang an sein Ohr, aber der Schlaf zog
Philip langsam und zwingend wieder in die Tiefe. Bilder flatterten
vorbei, er sah Fäden, weitverzweigt, die Zukunft und Vergangenheit
durchwebten. Abrupt verschwanden diese Erscheinungen und machten
einer grauen Weite Platz. Jemand schien zu rufen: 'Wir sind hier!' –
Diese Worte hallten nicht laut. Man konnte sie nur innerlich hören.
Er fand sich am Rand von etwas Gewaltigem wieder. Es handelte sich um
ein Loch oder Tunnel, um einen Pfad zu einer versteckten Wahrheit.
„Wir sehen dich!“, rief es aus unbestimmbarer Richtung. „Wir
sind hier!“ Der Abgrund übte einen unheimlichen Sog auf ihn aus,
er zog, zerrte und saugte mit aller Kraft. Es lag eine betörende
Süße in der Luft, gleichzeitig aber umklammerte ihn die Angst und
er fror. Er riss die Augen auf! Sein Schlafanzug war durchgeschwitzt.
Erbarmungslos schien die Sonne ins Zimmer und ließ Tausende von
Staubteilchen aufleuchten, die wie verlorene Seelen im Raum hingen.
Er kroch aus dem Bett, schleppte sich zum Badezimmer und warf sich
zwei Hände voll Wasser ins Gesicht.
Einige
Zeit später stand er vor dem Haus mit der Adresse, die ihm in der
anonymen Mail zugesandt worden war. Nachdem er geläutet hatte,
erschien eine rundliche Dame an der Tür.
„Guten
Tag, ich möchte gerne ihren Mann sprechen“, sagte er.
„Meinen
Mann? Ich dachte schon, Sie sind einer von denen, die gestern hier
waren, von diesen Geheimheinies. Aber dann wüssten Sie ja, dass er
nicht hier ist. Mein Mann ist fort, verschwunden, einfach so. Aber
eigentlich soll ich es ja niemanden sagen. Also vergessen Sie es
besser wieder.“
„Wie?
Sie haben Redeverbot? Aufgrund welchen Gesetzes eigentlich?“
„Irgendetwas
wegen der inneren Sicherheit oder so, glaube ich zumindest“, sagte
die Frau zögernd.
„Hören
Sie: Ich bin hier, weil meine Schwester Alice, Alice Stein-Lumen,
verschwunden ist, genauso wie Ihr Mann. Beide waren Kollegen.“
„Ja,
und der Freund meines Mannes ist auch nicht mehr zu erreichen. Mit
dem hat er ebenfalls zusammengearbeitet!“
„Sieht
aus, als wären alle fort, die an dem Projekt beteiligt waren. Sie
wissen, dieses Europa-Projekt.“
Die
Frau begann zu flüstern: „Es kann sein, dass sie uns beschatten.
Ich traue denen nicht. Besser, Sie gehen.“ Sie drückte die Tür
vor seiner Nase zu.
Er
blickte sich um: Niemand war zu sehen, aber vielleicht saß jemand in
einem der Autos auf der anderen Straßenseite und beobachtete ihn
durch abgetönte Wagenscheiben. Selbst in den Häusern konnten sie
sich verschanzt haben. Wer auch immer: der Geheimdienst, die Polizei,
Agenten einer feindlichen Macht oder sogar Außerirdische. Er spürte
Blicke, kalte Augen starrten ihn an. Er schüttelte sich und
versuchte, diese schreckliche Vorstellung loszuwerden. Nein, da war
gewiss niemand, ganz bestimmt nicht! Es lag an den Nerven. Er war
nicht verrückt. Er war gesund! Zumindest wollte er daran glauben.
Er
lief und lief und achtete nicht darauf, wohin seine Schritte ihn
führten.
„Hey!“,
rief ihm unvermittelt jemand zu.
Philip
zuckte zusammen und schaute sich um. Er erkannte Kommissar Lehmann,
den Polizisten, den er vor dem Haus seiner Schwester getroffen hatte.
„Sie?“, fragte er überrascht.
Der
Kommissar nickte. „Ich konnte es nicht lassen. Ich habe Sie
beobachtet.“
„Gott
sei Dank“, sagte Philip, froh darüber, dass sein Gefühl von
vorhin keine Einbildung war. Er war offenbar nicht paranoid. Er wurde
wirklich verfolgt.
„Wie
bitte?“
„Ach,
schon gut. Bin ich verdächtig?“
Kommissar
Lehmann schüttelte den Kopf. „Sie sind der unverdächtigste Kerl,
der mir je über den Weg gelaufen ist. Hören Sie zu, die Sache ist
so: Die Akte ist geschlossen. Heute kam die Nachricht von der
Staatsanwaltschaft. Ihre Schwester geht mich offiziell nichts mehr
an.“
Philip
schaute verständnislos drein. „Aber Sie verfolgen mich trotzdem.
Warum?“
„Sehen
Sie“, sagte der Kommissar und versuchte dabei, seine Stimme ein
wenig förmlich klingen zu lassen, „es ist doch so, man hat mir den
Fall entzogen und ... Haben Sie schon die Nachrichten gehört?“
Hatte
er nicht. Er informierte sich nur unregelmäßig darüber, was die
Meinungsindustrie der Masse zum Fraß vorwarf. „Nur wenn ich mich
langweile oder mich ärgern will, tu ich mir das an.“
„Die
Meldungen von heute sind besonders interessant: Außerirdisches Leben
gilt als bewiesen. Und man redet hier nicht von Mikroben in
irgendeiner Schleimbrühe. Man geht von einer ganzen Zivilisation
aus. Diese Apparatur, an der Ihre Schwester geforscht hat, ist weder
aus China, noch aus Korea, sondern definitiv nicht von dieser Welt!
Nachdem man das festgestellt hat, wurde sofort eine neue Behörde
gegründet. Ich nehme an, dort arbeiten Leute vom BND und dem
Verfassungsschutz.“
Philip
griff sich an die Stirn. „Moment mal, wieso BND und
Verfassungsschutz?“
„Na
wegen der Gefahr einer feindlichen Übernahme!“
„Feindliche
Übernahme? Wäre da nicht eher das Militär gefragt? Zur Abwehr der
Raumschiffe, falls diese Fische oder was sie immer auch sind, uns
angreifen werden.“
Der
Kommissar schüttelte energisch seinen Kopf: „Nein, nein – wir
sind hier in keinem Science-Fiction-Film. Man geht nicht davon aus,
dass sie mit Raumschiffen ankommen, um alles kurz und klein zu
schießen. Vielmehr vermutet man, dass sie schon hier sind!“
„Dass
Fische vom Mond Europa bei uns in den Teichen schwimmen?“
„Mag
sein, vielleicht nicht in den Teichen, aber in der Tiefsee. Das wäre
noch nicht weiter schlimm, allerdings geht man davon aus, dass sie
schon seit längerer Zeit ihre Leute hier bei uns haben. Also nicht
ihre eigenen, aber Menschen, die für sie arbeiten, Sympathisanten.
Diese Verblendeten träumen von einer neuen, einer besseren Welt
unter der Herrschaft der Außerirdischen.“
Philip
lachte auf. „Vollkommen absurd!“
Kommissar
Lehmann stimmte ihm zu. „Wahrscheinlich, aber die meisten Politiker
beurteilen die Situation kritisch und warnen vor den Gefahren
staatsfeindlicher Umtriebe, vor Terrorismus. Reine Hypothesen. Man
hat aber vorsorglich schon einmal eine neue Behörde gegründet, den
sogenannten TAD, den Terrestrischen Abwehrdienst. Eine ähnliche
europäische Behörde soll bald folgen.“
„Aber
das ist doch Schwachsinn!“
„Gewiss,
ich sagte ja, die Politiker ...“
„Man
hat noch gar keinen Kontakt zu diesen Europabewohnern. Vielleicht
gibt es sie gar nicht. Dieses Gerät, das man entdeckt hat, kann von
ganz woanders herkommen.“
„Na
ja, das Eis ist da oben eben zu dick“, überlegte Kommissar Lehmann
laut, „noch hat man sich nicht durchschmelzen können. Aber man
wird alles Mögliche unternehmen. Und Bomben werden sie aller
Wahrscheinlichkeit nach auch hochschicken, der Vorsorge halber.“
„Und
was hat das alles damit zu tun, dass Sie mir auf den Fersen sind? Und
wer verdammt kümmert sich jetzt um meine Schwester?“, wollte
Philip wissen.
Der
Kommissar machte eine entschuldigende Geste. „Nun, offiziell habe
ich Sie nicht beschattet. Ich hoffe auch, dass Sie nicht von anderen
ins Visier genommen werden. Ich will den Fall weiter verfolgen,
privat. Ich werde der Einzige sein, der sich um ihre Schwester
kümmert.“
„Warum?“
„Keine
Ahnung, es ist wie ein Trieb. Ich will den Fall nicht aufgeben! Es
ist vielleicht der größte und geheimnisvollste, den ich je hatte.
Mag sein, ich bin nur auf der Welt wegen dieses einen Falles. Nennen
Sie es Besessenheit oder Idiotie. Ich kann nicht anders!“
„Hören
Sie, jetzt wo ich langsam begreife, welche Zusammenhänge es gibt,
frage ich mich, warum ich Ihnen trauen sollte!“
Der
Kommissar presste die Lippen zusammen. „Sie können nicht wissen,
ob mir zu trauen ist. Vertrauen bedeutet, ohne Netz zu springen.“
Philip
nickte bedächtig. „Sie haben es gewiss schon herausbekommen, nicht
nur meine Schwester ist verschwunden, sondern das ganze
Forschungsteam.“
„Tja,
das ist das, was Sie und ich wissen. Es ist das Einzige, was wir
wissen. Ich melde mich wieder. Und trauen Sie niemanden!“
„Gewiss“,
sagte Philip, „Misstrauen bedeutet, nicht zu springen, obwohl es so
ausschaut, als würde man von einem Netz aufgefangen!“
Kommissar
Lehmann lächelte bitter und ging seines Weges. Philips Schädel
brummte.
Geschäftiges
Treiben herrschte auf der Straße. Die Menschen rannten gehetzt und
schnappten kurzatmig nach Luft. Eine Mischung aus Feindseligkeit und
Verblödung drückte sich in ihrer Mimik aus. Gedankenverloren
trottete Philip den Fußweg entlang, kam aber ruckartig zu sich, als
ihm eine Frau vor die Füße stolperte. Sie prallten zusammen. Ihre
Handtasche fiel zu Boden. Unzählige nutzlose Dinge purzelten
durcheinander und bedeckten einen guten Teil des Bürgersteiges.
„Heute
ist der Tag der seltsamen Zufälle“, meinte die Frau.
Hans
Lehmann blickte in den Spiegel. „Nein, ich werde nicht gehen, werde
nicht in das Krankenhaus gehen, nur um möglichst unbequem zu
verrecken!“
Sterben
hatte eigentlich nicht auf seiner Liste gestanden, zumal kam ihm das
ungelegen, jetzt, wo er bald hätte Opa werden sollen! Außerdem gab
es da eine Aufgabe, den letzten Fall, der zu lösen war. Er würde
sich unauffällig verhalten und weiter seinem Job nachgehen. Nebenher
könnte er das Puzzle lösen, das ihm das Schicksal auf den letzten
Metern des Weges vor die Füße geworfen hatte. Mochte der Krebs ihn
auch zerfressen, der letzte Fall stellte eine heilige Mission dar;
sie erforderte Inbrunst und eine Leidenschaft, die kein Zögern
duldete.
Es
läutete an der Tür. Es musste seine Tochter sein. Er hörte die
Schritte seiner Frau über den Flur klappern. Die Haustür wurde
geöffnet und gedämpfte Stimmen drangen von außen ins Zimmer. Er
blieb stehen, konnte nicht loskommen von seinem Spiegelbild. Das bin
also ich, stellte er fest. Ihm war sogleich klar, dass dieser Gedanke
nicht stimmte. In Wahrheit wusste er nicht, wer er war. Er dachte an
den Schock, nachdem der Arzt die Diagnose gestellt hatte. Am nächsten
Tag kam die Verzweiflung, gefolgt von einer ständigen Trauer, die
Trauer über sich, über das, was war, und über das, was noch käme.
Wie Sand schien das Leben. Es rann ihm durch die Finger. Tränen
rollten vereinzelt übers Gesicht. Seltsamerweise war ihm so zumute,
als würde er sich in dieser Trauer seit Langem wieder selbst spüren.
Auch das verschwand bald, wurde zu Sand, den man nicht greifen, nicht
halten konnte. Die Welt hatte sich verändert, sie war lebendiger
geworden, direkter, farbig, die Augenblicke wogen schwerer in diesem
Gewahrsein von Vergänglichkeit. Er wurde zu einem Schwamm, sog alles
auf, bis er mit Lebendigkeit gefüllt lächelte. Wie seine Seele voll
mit Leben war, so war sein Leib angefüllt mit Tod, mit wuchernden
Zellen. Er drehte sich um und ließ den Spiegel hinter sich.
Auf
dem Sofa im Wohnzimmer saßen seine Tochter und sein Schwiegersohn.
Er hörte, wie seine Frau in der Küche Kaffee kochte.
„Schön,
dass ihr da seid“, sagte er.
„Hallo
Papa, gehts dir gut?“
„Ja,
prima, fühle mich großartig.“
„Du
schaust auch gut aus“, bemerkte sein Schwiegersohn.
Hans
Lehmann schmunzelte über den Witz, den er als Einziger im Raum
verstand. Es war schön, dass er noch gut aussah am Ende seines
Lebens. – O ja, man blüht immer auf, bevor man abtritt! – hätte
er sagen können. Ja, irgendwann sollte er es jemanden sagen – oder
nicht. Vielleicht war alles bedeutungslos und es zählte nur der
Moment, immer wieder, bis in alle Ewigkeit.
Seine
Frau betrat das Zimmer, eine Kanne mit heißem Kaffee in der Hand. Es
duftete nach Nachmittag. Die Dinge schienen zu lächeln. Die Zeit
stand still.
Philip
lag auf dem Bett. Die Bilder des Tages spulten sich vor dem inneren
Auge ab. Er sah die Frau des Wissenschaftlers vor sich, den
Kommissar, die Tasche auf dem Boden, aus der viele Gegenstände
herauspurzelten und sich als buntes Chaos auf dem Gehweg verteilten.
So war es: Lauter Gegenstände liegen auf der Straße, man kann nicht
genau sagen, was es da zu sehen gibt. Eben alles so Sachen sind es,
überflüssiges Zeug, eigens erschaffen, um Damentaschen zu füllen.
Ihr Gesicht zerfließt. Die Erinnerung wird ungenau. Ihre Nase sieht
er, sie zeigt sie ein wenig aufwärts, adlig und fein. Die Frau nennt
ihren Namen: Karen. Sie betont das K dabei, als läge darin ein
Geheimnis. Er reicht ihr einen Kamm, den er mit anderem Zeug hastig
vom Fußweg aufgelesen hat. Sie lächelt verlegen, stopft alles
zurück in die Tasche und sagt: „Ich denke, wir sehen uns wieder!“
Schon
ist sie weg, als hätte sie sich aufgelöst. Er fragt sich, wie sie
nur darauf gekommen ist, dass sie ihn wiedersehen wird! Die
Erinnerung versickert. Ihm wird mulmig, er weiß nicht, ob er einen
Fehler begangen hat, indem er auf eigene Faust losgezogen ist, um
mehr über seine Schwester zu erfahren. Er muss fort, fort von hier,
raus aus der Wohnung, aus der mickrigen Höhle, in die er sich immer
hatte zurückziehen können, um sich zu reinigen von der schmutzigen
Welt da draußen. Jetzt ist er heimatlos. Sie beobachten ihn, das
spürt er. Er muss los, aufstehen und fliehen, aufstehen und
überleben!
Er
sprang aus seinem Bett, schnappte eine Reisetasche und stopfte
allerlei hinein: Einen Schlafanzug, den Rasierer, ein T-Shirt, alles
an Kratom, was er besaß, ein zweites Hemd. Mit zitternder Hand nahm
er sein Smartphone vom Tisch und wollte nachschauen, welches Hotel
Zimmer frei hatte. „Nein, nur nicht das Smartphone benutzen!“,
schrie eine Stimme in ihm. Er durfte keine Spuren hinterlassen.
Gewiss wurde das Smartphone abgehört. Er steckte es trotzdem ein,
vielleicht um irgendwann einmal damit falsche Spuren legen zu können,
oder auch nur, weil es teuer war.
Was
aber, fragte er sich, wenn keine Gefahr für ihn bestünde? Was, wenn
er sich das lediglich einbildete? Allerdings hatte der Kommissar
einen starken Verdacht geäußert. Andererseits benahmen sich
Polizisten meistens ziemlich paranoid. Das war ihre Berufskrankheit.
Dieser spezielle Polizist schien noch mehr durchzudrehen als seine
Kollegen. Er sah nicht nur überall Verbrechen, sondern ahnte eine
Verschwörung. War das nicht der Übergang von der partiellen
Paranoia zur generellen, von der Neurose zur Psychose? Oder konnte
der Kommissar vielmehr als ein bedachter und vernünftiger Mann
gelten? Er wusste es nicht, er wusste nicht das Geringste! Diese
Erkenntnis reichte ihm aus. Er verließ sein Zimmer und suchte sich
eine andere Bleibe.
Das
Hotel machte einen schäbigen Eindruck, aber es war günstig. Die
Farbe an den Wänden bröckelte ab. Der Teppich in der Vorhalle hätte
durchaus wieder einmal gereinigt werden können. Das Zimmer roch
muffig, aus einem rissigen Holzschrank dünstete das Aroma von
Mottenkugeln und biss in die Nase. Immerhin stand ein Computer auf
dem Tisch, was sein Herz höherschlagen ließ. So musste er nicht nur
herumsitzen und die kahle Wand angaffen.
Er
setzte sich auf den etwas zu harten Sessel und schaltete den Computer
an. Bald war er auf der Website mit den neusten Nachrichtenclips. Ein
blasser Sprecher starrte in die Richtung der Zuschauer. „... der
Datenschützer. Die Persönlichkeitsrechte blieben selbstverständlich
gewahrt, hieß es seitens des Innenministeriums. Nach Stellungnahmen
des Verfassungsschutzes sowie des Bundesnachrichtendienstes sei nicht
auszuschließen, dass die sogenannten Europabewohner bereits in den
meisten Ländern der Erde Menschen als Agenten angeheuert hätten,
die bereit seien, gegen die Interessen ihrer eigenen Regierungen zu
handeln. Zweifelsfreie Beweise habe man bisher noch nicht beibringen
können. Jedoch lägen gewisse Verdachtsmomente vor, die Anlass zu
ernsthafter Sorge gäben. Man werde unter anderem verstärkt
alienfreundliche Vereinigungen ins Visier der Ermittlungen nehmen. Zu
diesem Zweck habe der TAD, der Terrestrische Abwehrdienst, eine
Unterabteilung ins Leben gerufen, das IES, das Institut für
Erdsicherheit.
Das
Verteidigungsministerium arbeite daran, zur Sicherheit der
Bevölkerung eine neue Abschreckungsstrategie zu entwickeln, dies
erfordere eine engere Zusammenarbeit mit der ESA. Eine Aufstockung
des Verteidigungshaushaltes sei dazu unverzichtbar, betonte der
Regierungssprecher. Die Bedrohung durch eine außerirdische Macht
...“
Philip
stoppte das Video. Meine Güte, sagte er sich, da braut sich ja was
zusammen! Bedrohung aus dem All. Das war ja wie in einem miserablen
Science-Fiction-Roman.