Sonntag, 14. November 2021

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Irgendwo mussten sie geblieben sein, diese Wissenschaftler. Sie alle waren mit ihren Autos vom Gelände des Instituts gefahren. Er hatte den Pförtner befragt und hielt dessen Auskünfte für glaubwürdig. Kommissar Lehmann trottete mit in Falten gezogener Stirn auf das ESA-Gebäude zu. Hier waren sie zuletzt gesehen worden, bevor sie sich buchstäblich in Luft aufgelöst hatten. Nun wollte er abermals den Pförtner befragen, möglicherweise hatte er ein Detail übersehen.

Er grüßte den Pförtner und zeigte seine Dienstmarke. Dieses Mal stand er einem anderen Mann gegenüber. „Sehen Sie, ich habe ja schon Ihren Kollegen befragt, den, der an dem Tag Schicht gehabt hatte, als Frau Alice Stein-Lumen zuletzt im Institut gesehen wurde. Möglicherweise ist Ihnen etwas zu Ohren gekommen und Sie können mir einen Hinweis geben.“

Der Pförtner kratzte sich am Kinn. „Nun, ich denke nicht, dass ich Ihnen da helfen könnte. Ich habe auch nur gehört, dass alle wie immer zum Feierabend mit ihren Wagen rausgefahren sind. So, wie jeden Tag. Nur, na ja, das wird nichts Wichtiges sein: Die Frau Stein-Lumen, so habe ich es von einem Kollegen, als sie rausgefahren ist, da saß noch wer bei ihr im Wagen. Wer das war, konnte keiner sagen. Abgedunkelte Scheiben, Sie wissen ja. Na ja, kommt ja öfters vor, dass jemand Mitarbeiter aus anderen Abteilungen ein Stück im Wagen mitnimmt. Ein Mann soll's wohl gewesen sein. Das ist aber auch alles, mehr weiß ich auch nicht.“

Der Kommissar bedankte sich. „Das könnte durchaus von Belang sein“, bemerkte er und ging zum Parkplatz zurück, wo sein Auto stand.

Er setzte sich hinter das Steuer, steckte die Autochipkarte in den Schlitz, aber drückte den Startknopf nicht. Seine Lungen saugten sich mit Luft voll, dann atmete er seufzend aus, um sich von einer Last zu befreien, die ihm aufs Herz drückte. Ja, sagte er sich, das musste die Erklärung sein. Der Fremde im Wagen. Gewiss hatte dieser Mann eine Waffe in der Hand, oder seinen Anweisungen wurde gefolgt, weil er sich als Regierungsbeamter ausgewiesen hatte. Vermutlich war es ein Mitarbeiter des IES, des neuen Geheimdienstes, der angeblich für die Erdsicherheit zuständig war, dessen Machenschaften niemand durchschaute. Und so, vermutete der Kommissar weiter, war Alice Stein-Lumen wohl nicht die einzige Mitarbeiterin gewesen, die an dem Tag eine Begleitung im Wagen zu sitzen hatte. Sie alle mussten bei ihrer Arbeit etwas entdeckt haben. Die Öffentlichkeit sollte auf keinem Fall erfahren, um was es sich dabei handelte. Aber wo befanden sich die Wissenschaftler jetzt? Hatte man sich damit zufriedengegeben, sie an einem geheimen Ort unterzubringen, oder war es zum letzten Schritt gekommen, und sie wurden eliminiert? Er verbesserte sich und ersetzte das Wort eliminiert durch ermordet. Er erschreckte vor den Gedanken, die aufdringlich durch seinen Geist huschten. Waren sie wirklich so weit gegangen? Wenn ja, wie lange noch konnte man die Sache vertuschen? Ein Angehöriger könnte zu viel reden, unbequeme Fragen stellen! Vielleicht war ein Virus mit im Spiel, das sich gegen Desinfektion ihres Untersuchungsgegenstandes als resistent erwiesen hatte. Wer wusste das schon? Irgendetwas musste passiert sein, etwas Seltsames, und es könnte sich wie ein kalter Schatten über das Schicksal der Menschheit legen.

Die Polizei hatte man ausgeschaltet, alles unterlag strengster Geheimhaltung. Würde er bei seinen privaten Nachforschungen erwischt werden, ginge es ihm an den Kragen! Was hatte er schon zu verlieren? Sein Leben war ein Spiel ohne Zukunft. Er überlegte den nächsten Schritt. Ihm fiel nichts ein, stattdessen bemächtigte sich seiner eine aufdringliche Vorstellung: Er sah einen Knochenmann vor seinem inneren Auge, der zu ihm sagte: „Der nächste Schritt ist immer der, den man als Nächstes macht!“ Dann lachte der Kerl schauerlich.

Bist du der Tod?“, fragte Kommissar Lehmann.

Ich bin der, von dem du glaubst, dass ich es bin“, bekam er zur Antwort. „Sie werden dir bald auf die Spur kommen.“

Wer“, fragte er, „wird mir auf die Spur kommen?“

Der Knochenmann klapperte mit den Zähnen. „Höre ich da etwa Unsicherheit aus den Worten? Nun, die Sicherheit wird sich noch einstellen! Ja, sie werden kommen. Sie fühlen sich mächtig, sie werden Angst verbreiten. Sie sind aber nicht allmächtig. Eigentlich sind sie schwach, wenn man genau hinschaut, und sie haben einen starken Gegner, einen, der unbesiegbar ist. Sie sehen ihn nur noch nicht.“ Der Knochenmann nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich über ein Feld. Unversehens standen sie am Rand eines Abgrundes. „Da musst du hinunter“, sagte Lehmanns unheimlicher Begleiter. „Dieser Mut, der mehr Vertrauen ist als Heldenhaftigkeit, er ist deine Waffe.“

Aber“, warf Hans Lehmann scheu ein, „das überlebe ich ja gar nicht!“

Da gackerte der Knochenmann so heftig, dass der Kommissar wieder zu sich fand und in seinem Auto hochschreckte.

Er startete den Wagen und fuhr los. Wie mechanisch schaltete er das Radio ein. „... Verteidigungsetat erhöht. Das neue Gesetz zur terrestrischen Sicherheit könne die bürgerlichen Grundrechte einschränken, betonte der Sprecher der Regierung. Hierbei sollten keine grundlegenden Rechte abgeschafft werden, vielmehr gehe es darum, die Grundrechte der Bürger dauerhaft zu schützen, indem man effektiver gegen Feinde des Staates und der menschlichen Gattung vorgehen könne. So sei es vorübergehend nötig, den Datenschutz bereits bei der bloßen Vermutung einer Kollaboration mit Außerirdischen oder ihrer menschlichen Agenten aufzuheben. Auch sei das Festhalten von Personen auch ohne richterlichen Beschluss bis zu acht Wochen möglich. Wegen der besonderen Sicherheitslage könne die Pressefreiheit in gewissen Fällen eingeschränkt werden. Aufgrund der momentanen Ereignisse, die unsere Freiheit bedrohen könnten, habe sich die Regierung gezwungen gesehen, diese Gesetzesänderungen ohne die Zustimmung des Parlamentes durchzuführen. Ab sofort gelte der Notstand. Es handele sich dabei alleinig um ein Instrument zum Schutze der Bevölkerung. Man wolle damit die freiheitlichen Rechte weder einschränken noch abschaffen. Diese Maßnahmen seien auch deswegen nötig geworden, da es sich in letzter Zeit gezeigt habe, dass es bestimmte Gruppen gebe, die gegen die Interessen des Staates und der Menschheit handelten und mit außerirdischen Mächten kooperierten. Es werde eindringlich darum gebeten, die Bemühungen der Behörden und Sicherheitskräfte zu unterstützen und verdächtige Personen zur Meldung zu bringen. Innerhalb der nächsten Tage wolle man zu diesem Zweck entsprechende Telefonnummern veröffentlichten. Diese könnten unbürokratisch und auf Wunsch anonym von den Bürgern genutzt werden.

Nun zum Sport: Die Fußballsaison ...“

Er schaltete das Radio aus. Ja, der Knochenmann in seiner Vision hatte recht gehabt: Sie waren mächtig. Jetzt wusste er, welchen Schritt er als nächsten zu gehen hatte.


Ein Vorhang aus Regen hing seit Stunden in der Luft. Es war nachmittags. Der Himmel trug das gleiche Grau wie die schmutzige Stadt, die träge unter ihm lag. Kommissar Lehmann wandte sich vom Fenster ab. Gleich sollte das Verhör beginnen. Der Verdächtige war ein vorbestrafter Dealer, der sich grade daranmachte, vom Kleinhändler in die Mittelklasse seiner Zunft aufzusteigen. Er hatte bis jetzt tapfer geschwiegen, was ziemlich schlau war. Bloß die Dummen und Ängstlichen redeten bei der Polizei. Der Mann wurde ins Büro gebracht.

Lehmann bot ihm einen Platz an. Zu seinem Kollegen sagte er: „Gehen Sie ruhig, es kommt gleich noch jemand fürs Protokoll.“

So befand er sich für einen Moment mit dem Verdächtigen allein im Zimmer. Das wollte er ausnutzen. Er wählte seine Worte mit Bedacht: „Sehen Sie, die Sache ist die, dass die zwei Säcke mit dem Kokain, wären nicht ihre Fingerabdrücke drauf, überhaupt nichts beweisen würden. Sie könnten jemand anderem gehören. Möglicherweise hat ein flüchtiger Bekannter das Kokain bei Ihnen untergestellt, ganz ohne Ihr Wissen. Aber Ihr Fingerabdruck existiert. Ich weiß das. Ich bin einer der wenigen, die das wissen. Um als unschuldig zu gelten, müsste ihr Fingerabdruck verschwinden. Es könnte auch nichts schaden, wenn es wirklich eine Person gäbe, die die Drogensäcke bei Ihnen untergestellt hat. Sie haben heute ein unverschämtes Glück.“ Lehmann hielt ihm einen Zettel vor die Nase. „Der hier war‘s! Die Fingerabdrücke könnten einfach verschwinden. Ich habe da gewisse Kontakte. Geben Sie nur den Namen zu Protokoll, den Sie hier lesen.“

Der Verdächtige sah den Kommissar mit großen Augen an. Die Tür zum Büro ging auf und der Kollege, der das Protokoll aufnehmen sollte, trat ein. Er setzte sich und flüsterte dabei einen halb zerkauten Gruß.

Nachdem man die persönlichen Daten des Verdächtigen aufgenommen hatte, fragte Kommissar Lehmann ihn, ob er den Eigentümer des beschlagnahmten Kokains sei. Der Mann schüttelte den Kopf. „Aha“, sagte Lehmann, „also wenn das nicht Ihre Droge war, wessen Droge war es dann?“

Philip, Philip heißt der Kerl, Philip Stein!“

Kommissar Lehmann atmete erleichtert auf.

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