Sonntag, 19. Dezember 2021

         TEIL 9

Philip schlug die erste Seite des Schnellhefters auf und las:

Mein Name ist Karen, je nach Gelegenheit auch Durga. Ich schreibe hier alles so auf, wie ich mich daran erinnere. Gewiss mag mancher es für eine unglaubliche Geschichte halten. Diejenigen aber, deren Augen offen sind, werden wissen, dass sie wahr ist. Natürlich ist sie nicht wahr, aber es ist gut, wenn man sagt, dass man die reine Wahrheit schreibt. Zumal die Wahrheit wirklich in der Geschichte drin steckt. Also sagen wir: Es ist eine Fantasie auf realer Grundlage. Die Wahrheit, ganz nackt, wäre zu schwer zu verdauen. Man muss sich an sie erinnern, Stück für Stück. Dazu soll diese Geschichte beitragen.


Alice, Ingenieurin am Institut der ESA für Raumfahrttechnik, sagte scherzhaft, dass sie zu denen gehöre, welche die Kantine für einen der besten Orte hielten, und nicht wie ihr Bruder irgendein Laboratorium.

Philip kicherte. Sie hatte recht, er war ein leidenschaftlicher Tüftler, der gerne die Zeit vergaß, wenn er sich mit einem technischen Problem konfrontiert sah. In der Kantine servierte man an diesem Tag als Vorspeise Blumenkohlsuppe. Ich hätte sie mit einer etwas größeren Prise Muskatnuss bevorzugt. Ich entsinne mich genau.

Mein Name ist Karen, aber das sagte ich schon. Ich arbeite hier als Philips Assistentin. Sollte ich Doktor Stein sagen? Nein, ich bleibe bei Philip, so kann sich ein möglicher Leser besser in ihn hineinversetzen. Um Philip soll es hier hauptsächlich gehen, um ihn und um das Wunder, das sich uns offenbarte. Ich bin eine unbedeutende Berichterstatterin. Also bitte ignorieren Sie mich einfach.
Müller aus der Chefetage tänzelte am Tisch vorbei, grüßte mechanisch und setzte sich, da er sich für etwas Besseres hielt, weit weg von uns. Alice sagte irgendwann: „So, ich sollte wieder an die Arbeit“, erhob sich und ging in ihr Büro. So saßen wir eine Weile allein am Tisch, also Philip mit mir, und wir machten uns übers Hauptgericht her: Seelachsfilets.

Professor Pull steuerte auf unseren Tisch zu und fragte, ob er sich zu uns setzen dürfte. Wir nickten. Er nahm Platz. Mir war unbehaglich zumute, denn Professor Pull hatte uns erwischt, einen Tag zuvor, in flagranti sozusagen. Es war meine Schuld gewesen. Ich habe Philip geküsst, auf dem Flur, da ist dann Professor Pull um die Ecke gekommen. Er hat gelächelt, nichts gesagt, aber sich seinen Teil garantiert gedacht. Wir wollten es geheim halten, vorerst, das mit uns. Ein Wissenschaftler, der mit seiner Assistentin ein Verhältnis hat, nein, der sie liebt, das hat doch etwas – ich weiß nicht – Anstößiges? Immerhin ist er ihr Chef! In Wirklichkeit war er nie mein Chef, er war immer nur er selbst, keiner, der jetzt von oben herunter bestimmt oder so.

Da saß nun Professor Pull an unserem Tisch. Er lächelte mehrdeutig. Unvermittelt schaute er ernst aus seinem faltigen Gesicht heraus. „Hören Sie, wie Sie wissen, ist das meine letzte Woche hier. Irgendwann wird der Mensch gebrechlich, will seine Altersbezüge kassieren, gemütlich am Kamin sitzen, in einem Buch schmökern und Kamillentee trinken. Meine Laborräume werden geräumt, mein Sessel wird für Müller freigemacht. So einfach geht das. Wissen Sie, ich hatte lebenslang ein Projekt zu laufen. Man hat sich oft darüber amüsiert. Geldgeber konnte ich dafür nie gewinnen. Na ja, aber das Projekt ist mein Hobby geblieben, bis heute. Das Ergebnis davon befindet sich unten im kleinen Laborraum, der immer verschlossen ist und den alle für einen Lagerraum gehalten haben. Ich möchte Ihnen beiden gern zeigen, was sich dort drinnen befindet. Sie gefallen mir. Sie machen nicht den Eindruck von Ignoranten, sondern scheinen mit echter Neugier ausgestattet zu sein. Bitte kommen Sie mit mir!“

Professor Pull erhob sich, atmete tief durch. Erwartungsvoll folgten wir ihm.


Der Raum befand sich im Keller. Professor Pull schloss ihn bedeutungsvoll auf und bat uns, einzutreten. Dort gab es nichts weiter zu sehen, als zwei längliche Röhren und ein Pult mit Messanzeigen hinter dem ein Computer stand.

Also, Sie werden gleich komisch gucken und vielleicht lachen, ja Sie werden denken, ich hätte den Verstand verloren. Dem aber ist nicht so. Hier steht ein Raumschiff!“, sagte der Professor.

Wir sahen uns an, Philip und ich. Wir schwiegen. Der alte Mann musste wirklich verrückt geworden sein, oder aber, er wollte einen Scherz mit uns machen, dessen Pointe wir nicht durchschauten. „Und wissen Sie, wohin es fahren soll?“, fragte Professor Pull rhetorisch. „Zum Zentrum des Universums!“

Ja, jetzt schien es uns klar: Er wurde senil. Glücklicherweise hatte er ja nun Anspruch auf Altersbezüge. Für die Arbeit am Institut wäre er in seinem Zustand wieso nicht mehr geeignet gewesen.

Eine wunderbare Idee Professor“, sagte Philip, „Sie sollten uns ein andermal ausführlich darüber berichten, aber jetzt ...“

Aber nein, nein – Sie verstehen nicht“, fuhr Professor Pull aufgeregt fort, „die Materie ist das Problem. Sie können ein Raumschiff nicht endlos beschleunigen, da die kosmische Strahlung dem Schiff, je schneller es sich bewegt, immer mehr Widerstand entgegensetzen wird. Der Fehler besteht im Festhalten an der Vorstellung von Materie und einem dreidimensionalen Raum. Sie können mit herkömmlichen Mitteln nicht frei durch Zeit und Raum navigieren. Ich habe das Problem gelöst: Mein Raumschiff besteht nicht aus Materie, es kann auch durch die Zeit fahren, Lichtgeschwindigkeit ist recht langsam für dieses Schiff.“

Ich lächelte verkrampft. Der Mann tat mir leid, er hatte offenbar den Verstand verloren, vollkommen. Begeistert redete er weiter auf uns ein: „Der Fehler der meisten Physiker besteht darin, dass sie das Universum als Materie-Energie-Geflecht sehen. Aber sie haben dabei einen wesentlichen Faktor ausgelassen: Bewusstsein! Wenn es stimmt, und Bewusstsein ist ein wesentlicher Teil des Universums, so gibt es zwangsläufig ein Bindeglied zwischen Bewusstsein und Materie. Ich habe dieses Bindeglied gefunden: Feinstoff!“

Aber das ist doch Unsinn, es existiert weder ein Feinstoff noch irgendeine Art von Äther. Das ist reine Esoterik“, warf Philip ein.

Es ist Wissenschaft“, behauptete Professor Pull stur, „sofern man unter Wissenschaft nicht etwas versteht, das einen Faktor wie Bewusstsein ausschließt. Ja, gewiss stammt der Begriff Feinstoff aus dem Vokabular der Esoteriker und Okkultisten. Diese Leute haben etwas entdeckt, sie wussten aber nicht, was. So formulierten sie allerhand obskure Ideen darüber. Aber wovon ich rede, das folgt rein logischen Gesetzen. Sehen Sie, dieser Feinstoff ist ja nicht nur ein Bindeglied zwischen Bewusstsein und Energie, sondern auch Stoff einer eigenständigen Realität. Mir ist es gelungen, in diese Realität einzudringen, sowie aus deren Material ein Raumschiff zu bauen. Mit meinem Computer und den Geräten dort ist es möglich, Kontakt zum Feinstofflichen herzustellen. Natürlich können die Astronauten, die dieses Schiff steuern sollen, es nicht mit den physischen Körpern betreten, sondern nur mit ihrem feinstofflichen. Dazu dienen die Röhren, die sie hier sehen können. Durch schwache magnetische Impulse wird das Nervensystem auf eine Frequenz gebracht, die dabei hilft, den feinstofflichen Körper vom biologischen zu lösen. So kann der feinstoffliche Teil der Astronauten im feinstofflichen Raumschiff reisen.“

Philip sagte: „Jetzt kommen wir der Sache schon etwas näher. Sie reden von so etwas wie Astralreisen. Dazu soll man ja kein Raumschiff brauchen.“

Spontane Reisen außerhalb des Körpers können überall hinführen. Dank meiner Technik wird der Astralraum stabilisiert. Man kann darin präzise navigieren.“

Es ist doch möglich, dass solche Reisen nur im eigenen Bewusstsein stattfinden“, gab, Philip zu bedenken.

Professor Pull lächelte wissend. „Ja, das habe ich auch einmal vermutet, aber wenn das Universum aus Bewusstsein und Energie besteht, wo befindet sich dann die Grenze zwischen Ihrem Bewusstsein und dem Universum? Ich schlage vor, Sie überzeugen sich und steigen in die Röhren. Fliegen Sie ins Zentrum des Universums, fliegen Sie in den Ursprung hinein, dahin, wo alles begann!“

Mhh, wir wollen uns beide mal kurz beraten“, sagte Philip.

Professor Pull ging in eine andere Ecke des Raumes. Philip flüsterte mir ins Ohr, dass der Professor offenbar an eine Form der Schizophrenie leide. Er habe gehört, man solle in einem solchen Fall, dem Kranken weder widersprechen noch ihm zustimmen. Dieser könne sich ansonsten noch tiefer in seine Wahnvorstellungen hineinsteigern. Philip hielt es für das Beste, wenn wir vorerst mitspielen würden, dann nach kurzer Zeit aus den Röhren herauskämen und Pull mitteilten, dass es nicht funktioniert habe. „Ich muss nur noch feststellen, ob irgendwelche Kabel zu den Röhren führen. Nicht, dass wir am Ende gegrillt werden“, tuschelte er mir abschließend zu.

Ich nickte, seine Idee schien mir angesichts der Situation recht gut zu sein. Als ich zum Professor sagte, dass wir bereit seien, zappelte er freudig und erklärte uns sein Feinstoffraumschiff: „Vorn am Steuerpult können Sie zwei Bildschirme sehen. Der linke Schirm zeigt den Blick auf das stoffliche Universum, der rechte auf das Feinstoffliche. Ja, sie werdenbeide seiten des Universums wahrnehmen. Daneben finden Sie den Computer, er übernimmt die Steuerung. Sie kommunizieren mit ihm verbal. Das Schiff ist hundert Meter lang und 50 Meter breit. Es verfügt über eine Energiekanone, falls Sie einmal einen Kometen wegsprengen müssen. Fliegen Sie immer nur geradeaus, wenn Sie Abweichungen feststellen, korrigieren Sie diese per Computer. Das war's schon.“

Verstehe, aber sagen Sie, in diesen Röhren, ist da etwas Elektronisches eingebaut?“, fragte Philip besorgt.

Nein, die magnetischen Impulse sende ich von hier aus.“ Professor Pull zeigte auf einen kleinen Kasten, der auf seinem Arbeitstisch stand. „Das hier reicht, ist mit hochfrequentem Feinstoff gefüllt.“

Beruhigt, dass sich keine elektrischen Leitungen in der Nähe befanden, krochen wir in die Röhren hinein. Drinnen war es dunkel. Eine Art Matratze lag in meiner Röhre, somit konnte ich recht bequem darin liegen. Ich überlegte, wie lange ich wohl dort ausharren musste. Mich überkam bald ein Kribbeln, das zunehmend stärker wurde. Ich ängstigte mich. Es würde doch nicht etwa entgegen den Beteuerungen des Professors, Strom in die Röhren geleitet werden? Zweifellos durchfloss mich eine Energie und sie wurde zunehmend kraftvoller, bis es schmerzte. Dieses Phänomen verschwand ruckartig und Licht erstrahlte um mich herum. Ich blinzelte mit den Augen, bis ich die Umgebung wahrnehmen konnte. Zwei Bildschirme sah ich und einen Computer. Ich befand mich im Inneren des Raumschiffes, so wie Professor Pull es beschrieben hatte! Es ging mir ganz gut, trotz der absurden Situation, in die ich geraten war. Nur eines beunruhigte mich: Ich war allein. Was sollte ich bloß machen? Bevor ich darüber weiter nachdenken konnte, flimmerte etwas im Raum, eine Art Säule aus glühender Luft, welche sich bald verdichtete und menschliche Form annahm. Es war Philip, er materialisierte sich vor mir. Verwundert blickte er sich um, dann sprach er mich an: „Du bist nicht real“, sagte er, „das ist ein Traum.“

Doch, ich bin wirklich hier“, widersprach ich, „sieh dich nur um: Alles ist real!“

Philip verschloss seine Augen und sprach beschwörend: „In die Röhre, ich muss in die Röhre zurück; es ist nur eine Halluzination, eine verfluchte Halluzination!“

Also ich bin keine Halluzination. Vielleicht bist du ja eine. Wie kann man das testen?“

Gute Frage. Ich weiß, dass Traumfiguren, denen man in luziden Träumen begegnet, keine komplizierten Rechenaufgaben lösen können. Das kleine Einmaleins und Plus und Minus kriegen sie noch hin, was aber darüber hinausgeht, ist ihnen zu schwer. Ich teste dich jetzt mal. Wie viel ist 48 X 48?“

Das ist 2304!“

Stimmt“, bestätigte Philip.

Das Problem für mich bestand darin, dass ich keinen solchen Test kannte, somit war es für mich nicht möglich, zu bestimmen, ob das, was mich umgab, real war oder ob es mein eigener Geist produzierte. Ich hätte Philip etwas fragen müssen, was ich nicht weiß, aber er. Allerdings könnte ich seine Antwort nicht überprüfen. Ich musste meine Unsicherheit akzeptieren. Es sah alles real aus und fühlte sich auch so an, also beschloss ich, so zu handeln, als wäre es real. Wir setzten uns in die Pilotenstühle.

Computer“, rief ich, „hörst du mich?“

Ja, ich höre“, antwortete eine weibliche Stimme von oben her.

Philip fragte: „Computer, alles startbereit?“

Alles ist startbereit“, sagte die Stimme.

Dann starte bitte“, befahl Philip.

Gestartet“, sagte der Computer.

Schon war auf einem der Bildschirme die Erdkugel zu erkennen. Sie schwebte blauglänzend im Schwarz des Raumes. Auf dem anderen Bildschirm flimmerten Punkte. Das Raumschiff beschleunigte. Bald lag das Sonnensystem hinter uns. Der Computer zeigte eine Sternenkarte, so konnten wir sehen, wo wir uns befanden. Wir durchstreiften die Leere des Raumes, dann wieder schossen Sternenhaufen an uns vorbei, sie schimmerten rötlich und violett. Wir sahen purpurne Gasnebel, riesige Schlangen, die sich durch das All bohrten.

Die Zeitachse wird korrigiert“, meldete die Stimme des Computers, die etwas zu erotisch klang, aber wohl Professor Pulls Geschmack entsprach.

Alles pulsierte, Sterne entstanden und vergingen, oder sie vergingen erst und brannten dann wieder auf, als gleißendes Feuer, das aus ihren eigenem Tod heraus glühte. Scheinbar bewegten wir uns rückwärts durch die Zeit. Falls Begriffe wie Zurück und Vor überhaupt noch eine Bedeutung hatten. Weitaus interessanter schien allerdings, was wir auf dem Monitor sahen. Wir erblickten Geflechte von Gestirnen, verknüpft mit telepathischen Bändern, die sich weit hinzogen und zu einem großen Bewusstsein anwuchsen, das glückstrahlend in ständiger Meditation dahinschwebte. Alles das konnte ich sehen, und indem ich es sah, fühlte ich es auch und verstand es unmittelbar. Ich sah Welten, deren Freude ich mitempfand und manches Mal, dort wo die Bewohner in ewigen Kämpfen stritten, konnte ich ihren Schmerz spüren und wortlose Schreie durchstachen mir die Seele. Einige der Planeten, die an unserem Schiff vorbeisausten, strahlten Eitelkeit aus, andere wiederum leuchteten in stiller Demut. Jedes Sonnensystem war ein Wesen mit eigener Intelligenz und unverwechselbarem Charakter. Viele dieser Welten stürmten jung und aufstrebend voran, zeigten Zuversicht und Mut, andere indessen waren längst vergreist, sie zogen träge ihre Bahn um sterbende Sonnen.

Es gab die Welten der Krieger, für die der Kampf allein Ruhm und Ehre bedeutete. Andere Welten waren mit Denkern besiedelt, die immer kompliziertere Dinge entwickelten und die Technologie in erstaunliche Höhe trieben. Ich sah Welten voll mit seligen Kindern, dort glich das Leben einem ewigen Spiel. Für deren Bewohner schienen die Tage immer wieder neu wie der erste Tag. Alles war angefüllt mit Lachen, und es kam mir so vor, als würde sich die Freude weit in den Weltenraum verströmen. Die verzweifelten Welten dagegen taumelten in ewigen Qualen dahin, ziellos und verloren. Ihre Bewohner badeten in Hass, und geschlagen mit der Blindheit des Geistes, erschufen sie sich immer wieder neue Höllen, eine trostloser als die andere. Manche der Welten mussten durch jedes Elend hindurch, bevor sich das weiße Licht der Erkenntnis auf ihnen ausbreiten konnte. Dann aber blitzten sie diamanthell auf und warfen ihr Licht weit durch die Dunkelheit des Raumes. Solche leuchtenden Welten begannen Raumschiffe zu bauen, Schiffe aus Feinstoff, gedankenschnelle Pfeile, die das Sternenmeer durchkreuzten. So glitten sie dahin, Schwärme von Schiffen, leuchtenden Insekten gleich. Unzählige Punkte, blau, rot und grün blinkend, und auch gewaltige künstliche Inseln schwebten, groß wie Planeten, erhaben durch den Raum. Zusammengehalten wurden sie vom Bewusstsein unzähliger Intelligenzen. In ihnen pulste unbändige Schöpferkraft. Hatten die Zivilisationen eine gewisse Entwicklungsstufe überschritten, machten sie sich auf zur Heimat, zum Stamm, aus dem alle Äste wachsen. Es schien wie ein Instinkt, keine Lebensform konnte ihn unterdrücken. So stürzten sich Tausende von Schiffen dem Zentrum entgegen, dem Anfang und dem Ende. Immer rasender wurde ihre Fahrt, bis ein ungeheurer Strudel sie anzog, der den Himmelsraum, der ihn umgab, in eine Kreisbewegung zwang. Eine Spirale aus Licht sah ich, ein Muster, ein Mandala, es schuf aus sich selbst heraus immer wieder neue Formen, die einen kurzen Moment dastanden wie Schriftzeichen, dann auseinandertaumelnd zerbröselten, um Teil eines neuen Alphabets zu werden. Und all die Schiffe verdichteten sich zu einem Wirbel von Energie, zu einem immer rasender werdenden Tanz. So kreisten sie um das Zentrum des Himmels, das ausschaute wie eine Kugel, aber ebenso ein Loch im Raum hätte sein können. Auch schien es einem Tunnel ähnlich, der in etwas Dunklem hineinführt, das wie eine tiefschwarze Pupille funkelte. Immer weiter steuerten wir gegen den Lauf der Zeit auf das Zentrum zu. Der Weltenraum implodierte, er stürzte in sich zusammen. Es war, als würde eine Unendlichkeit in eine Unendlichkeit hineinfallen, ein sterbender Riese aus Welten gebaut, ein Aufschrei von Milliarden Atomen, die mit maßloser Kraft auseinandergefetzt wurden. Eine Weltgeschichte nach der anderen gab dem kosmischen Sog nach, zerfiel zu zahllosen Erinnerungen, bisnicht mehr als eine Wolke von Vergessen blieb, schwebend als dünner Nebel vor dem Auge des Unbegreiflichen.

Ich spürte einen Ruck, etwas wie eine kleine Explosion; dann sah ich nichts mehr. Absolute Stille. Ich war allein. Keine Raumschiffe, kein einziger Stern flackerte. Wo war mein Körper geblieben? Ich fand ihn nirgendwo. Etwas aber existierte: die Allwissenheit! Alle Antworten schienen mir gegenwärtig. Sämtliche Fragen, die ich mir stellte oder hätte stellen können, lösten sich auf. Dieses Wissen, das so segensvoll zu mir kam, zeigte sich nicht in Gedankenform. Es bestand aus etwas anderem; wobei ich nicht sagen kann, aus was. Es war feiner, als Gedanken es sind. Vor allen Dingen war es zeitlos, schon immer da gewesen, auch würde es ewig existieren. Abermals ein Ruck. Unser Raumschiff musste noch ein Stück weiter gekommen sein. Ich durchstieß die Grenze des Universums und fiel, fiel hinein in den Ursprung, jenseits der Zeit, der Ausdehnung, die wir als Raum kennen. Nun versuche ich, etwas zu beschreiben, was sich jeder Beschreibung entzieht. Darum werden jetzt nur alberne Worte folgen.

Man stelle sich einen uferlosen See vor, welcher aus Honig besteht. Man taucht ein in diesen See und schmeckt seine Süße mit jeder Zelle. Wenn man ganz von diesem Geschmack durchdrungen ist, fällt die Grenze weg, die Grenze zwischen einem selbst und dem Honigsee. Oder vielleicht ist es so: Der Honigsee schläft und träumt süß. Er träumt von jemand, der im Honigsee badet, all die überwältigende Süße schmeckt, mit Leib und Seele schmeckt, und der dann untergeht und freudig stirbt, weil das Sterben ja auch nur wie das Schmecken des Honigs ist. Das Süße überdauert, das Süße ohne Honig und ohne jemanden, der etwas schmecken könnte. Süße, Süße, berauschende Süße, namenlos, ohne Schmerz, ohne Glück, ein Ozean aus brennender Leidenschaftslosigkeit. In diesem Moment endet der Traum des Honigsees und er findet sich als das wieder, was er immer war: der Honigsee. Er kennt sich nicht, wenn er nicht von sich träumt.

Oder jemand sitzt in freier Landschaft und lauscht der Stille, bis er selbst so still ist, dass er erkennt, dass er auch die Stille ist und die Stille nur sich selbst belauscht. Dann steht der Mensch auf und geht fort, wobei er weiß, dass er nie ein Mensch gewesen ist, dass er nicht weiß, was oder wer er ist. Die Stille aber bleibt die Stille. Nun muss man sich den Honigsee oder die Landschaft wegdenken, sodass nur noch die Süße bleibt und die Stille. Auch sollte niemand da sein, der sagen könnte: Das ist süß und das ist still!

So also war das, was vor der Zeit lag. Obwohl es noch kein Davor gab. Es existierte jenseits von alldem, was wir uns ausdenken könnten. Hier muss ich so tun, als gäbe es eine Zeit, sonst ließe sich nichts erklären. Also: Vor der Entstehung des Universums gab es dieses, was weder nichts noch etwas war, sondern einfach nur war. Und auf einem Male war ich selbst das, was nur so da war, ohne etwas Bestimmtes zu sein. In diesem Moment erschien eine Frage: Wer bin ich? Das war seltsam, da mich ja die Sphäre der Allwissenheit umgab, die jede Frage unnötig machte. Dennoch stand meine Frage im Raum, in der Leere, im Nichts. Sie war das Einzige, was existierte. Ich war meine Frage. Es kam bald eine Antwort. Energie wuchs an, wie ein Fluss, der immer neue Nebenarme bildet, bis sich alles Wasser brausend ins Meer ergießt. Aus mir wuchs ein Spiegelglas heraus. In diesem Spiegel blickte ich staunend hinein – und ich erkannte das Universum. Und dieses Ganze, das ich erblickte, war gleichsam der Spiegel, der mir unzählige Facetten meiner selbst zeigte. Ich verstand: Die Welt existierte, weil ich mir diese Frage gestellt habe. Ich hatte ein Spiel begonnen. Nun hieß es mitspielen! Im Spiegelglas kreisten die Welten, ebenso wie sie in mir kreisten. Aller Raum existierte hier, alle Zeit, aufgehoben in diesem Augenblick. Ich sah und spürte: Auf manchen der Welten entstand Leben, auf einigen von ihnen stellte man sich die gleiche Frage, die ich mir gestellt hatte. Diese Frage hallte in mir als leises Echo wider. Seltsam, dass man sich so eine Frage stellte, wo doch die ganze Welt die Antwort darauf war! Und immer war ich es, die fragte. Jedes Wesen schien ja nur getrennt von mir, da ich es im Spiegel erblickte, der aus mir herausgewachsen war, als Antwort meiner Frage. Im Spiegel erscheinen Illusionen. So ist versehentlich das Universum entstanden. Ich war die Frage und war die Antwort. Ich musste hysterisch lachen.

Ich fand mich im Raumschiff wieder und sah mich um. Philip saß auf seinem Platz, er lachte ebenfalls. Mir wurde klar, dass er in etwa das Gleiche erlebt haben musste wie ich. Vorsichtig erhob ich mich, ging zu ihm hin und küsste ihn auf die Nasenspitze. Etwas hatte sich verändert in uns. Wir rasten auf unsere Galaxie zu, auf unser Sonnensystem, auf die Erde. Es ging wahrlich gedankenschnell. Wir landeten. Alles wurde schwer. Ich spüre die Zeit förmlich, wie sie mich ergriff und durchdrang. Ich öffnete meine Augen: schummriges Licht. Ich lag in dieser Röhre. Als ich herauskletterte, erschien es mir seltsam, wieder in Pulls Labor zu sein. Alles schaute aus wie in einem Traum.

Ich bin hier“, sagte ich, weil mir nichts anderes einfallen wollte.

Professor Pull strahlte. „Willkommen zurück!“

Bald kam auch Philip aus seiner Röhre herausgekrochen und lief schwankend hin und her. Er blieb stehen, sah Professor Pull an und sagte: „Wir waren am Ende und am Anfang der Welt gewesen. Nun ist etwas in uns, eine bestimmte Art des Sehens, des Wissens. Die Welt kann nie mehr so sein wie zuvor.“

Und er hatte recht. Es ist irgendetwas in uns eingedrungen, da draußen. Das Zentrum des Universums existierte jenseits von allem, und es hatte uns zu sich geholt. In ihm treffen sich die Fäden des Schicksals. Der Kontakt, den wir erfahren hatten, zeigte seltsame Folgen. So verschwand in der darauffolgenden Zeit mein Körper des Öfteren. Also es war nicht so, dass plötzlich der Körper weg war, sondern ich steckte nicht mehr in ihm. Es schien, als befände sich der Körper in mir. Aber das zu erklären ist müßig. Entweder man gehört zu den Wissenden und versteht, oder eben nicht. Auch andere Dinge veränderten sich. Wo waren meine Grenzen geblieben? Sie wurden flexibel oder lösten sich vollständig auf. Ich begriff, dass unsere scheinbaren Begrenzungen von unseren Ideen über die Welt bestimmt wurden. Hätten wir früher etwas genauer hingeschaut, wären uns unsere Irrtümer gewiss aufgefallen. Nun stand alles klar vor mir: Wir waren nicht unsere Gedanken, nicht unser Körper, nicht unsere Meinung über uns. Nach dieser Erkenntnis kam die Phase des Beobachters. Ich schaute und schaute. Ich glaubte, eine beobachtende Instanz zu sein, losgelöst von allem. Ich sah meine Umgebung, meine Person, meine Gedanken und Gefühle, aber nichts davon war ich. Ich war Wahrnehmung, ein Stern, heller als tausend Sonnen, ein Punkt von Bewusstheit. Die Welt begann zu glänzen. Auch war es mir möglich, dass ich weit entfernte Gegenstände, so sehen konnte, als befänden sie ganz in der Nähe.

Es passierte noch mehr Seltsames: Ich lief eine belebte Straße entlang und war fort, es gab nur Schritte, einen Körper, der ging. Ich lief dahin, willenlos, eine Marionette, geführt an unsichtbaren Fäden. Alles um mich herum bewegte sich durch den gleichen Mechanismus. Niemand auf der Welt tat etwas, alles passierte einfach nur. Ich konnte nicht mehr sagen, ob ich existierte, oder nicht. Irgendwann war er weg, dieser Punkt, der beobachtete, dieser Punkt aus Bewusstsein, der so faszinierend gewesen ist. Eine Art von Wahnsinn breitete sich aus. Ich begriff schnell: Dieser Wahnsinn war nichts anderes, als die Wiederkehr des normalen Menschenverstandes, jener eingeschränkten Sichtweise, die ab nun für mich einem Gefängnis glich. Verzweifelt schloss ich die Augen. Wieder sah ich das Zentrum der Welt, das selbst kein Teil dieser Welt war. Es sandte Energie aus. Mein Körper zitterte zwei ganze Tage lang. Von da ab wusste ich: Ich war frei!

Philips Erfahrungen ähnelten den meinen. Es folgte bald das sogenannte Rippen und das Infizieren. Was das ist? Nur Geduld. Ich werde mit dem Rippen beginnen: Anfangs tauchte eine leise Ahnung auf, dann folgten Schübe veränderter Wahrnehmung. Was wir erlebten, war wie ein Heraustreten aus dem Zeitgefüge. Die Gegenwart wurde breiter, so könnte man es sagen, und Geschehnisse, die hintereinander stattfanden, konnten wir gleichzeitig wahrnehmen. Es fiel uns leicht, Impulse in anderen Menschen zu spüren. Die übliche Grenze zwischen einem selbst und der Welt schmolz mehr und mehr dahin. Dank unseres erweiterten Bewusstseins konnten wir schneller als andere auf eine Situation reagieren. Aber das war erst die Basis für das eigentliche Rippen. Wenn man annimmt, dass die Welt wie ein Film ist, können wir uns vorstellen, dass man diesen Film auf eine DVD gespeichert hat. Die Daten auf einer DVD kann man nicht verändern. Allerdings kann man eine DVD rippen, den Film auf den Computer übertragen, um dort die Daten der DVD zu verändern. Im übertragenden Sinn bedeutet das, die Daten der Realität zu manipulieren. Das ist das, was wir das Rippen nennen. Und deswegen können wir auch wissen, was im jeweils nächsten Moment geschehen wird. Auf der DVD mit den Daten der Welt ist der ganze Film gebrannt, von Anfang bis Ende. Die Kunst ist, die Daten richtig auszulesen. Später, als wir andere infiziert hatten – ja, wir konnten andere mit unseren neuen Fähigkeiten anstecken – testeten wir das Rippen. Wir spielten allerhand Spiele, sie sollten uns fangen und so weiter. Wir entkamen ihnen immer, da sie anfangs das Rippen nur mäßig beherrschten. Wenn zwei Menschen so ein Spiel spielen, und sie können gleich gut rippen, dann ist es ein seltsames Gefühl. In etwa so, als würde man gegen sich selbst Schach spielen. Das Rippen scheint den Naturgesetzen zu widersprechen, ist aber nichts anderes als deren Erfüllung. Man kann das auch als Wunder bezeichnen. Nun zum Infizieren. Ich war schneller als Philip. Er hatte mich gebeten, Bücher aus der Bibliothek zu besorgen. Dort traf ich auf Martin, einem jungen Mann mit freundlicher Ausstrahlung. Er wurde mein Opfer! Um die ersten Computerviren zu bekämpfen, entwickelte man Gegenviren. Der Virus, von dem ich rede, sitzt im menschlichen Bewusstsein. Er begrenzt oder verhindert die Möglichkeit, dass man sein volles Potenzial leben kann. Ich sah Martin an und wusste instinktiv, was zu tun war. Es entstand eine Verbindung zwischen uns. Er wurde angezogen von mir. Nein, er wurde angezogen von etwas in mir! Es geschah, weil er dazu bereit gewesen war. Er reagierte auf eine Frequenz, die aus mir herausströmte. Eine Erinnerung erwachte in ihm. Die Erinnerung an die Heimat, an das Zentrum, das uns alle hervorgebracht hat. Lange wurde sie überlagert von dem Unsinn, mit dem man unsere Gehirne füttert. Jetzt brach diese schöne Kraft durch. Er zitterte. Mit unsichtbarer Hand griff in ihn hinein. Er war wie ein Acker, und ich ließ die kostbare Saat der Wahrheit in seine Seele fallen. Der Virus wurde bekämpft, der bisher jede Erkenntnis getrübt hatte. Nun ist so ein Schleier, der vor der Erkenntnis hängt, ja kein Schleierchen, sondern ein grobes Gewebe aus Meinungen und Vorurteilen, das man für real hält. Eine heilsame Infektion kann sanft verlaufen oder dramatisch. Geist und Körper beginnen damit, sich wieder in ein natürliches Gleichgewicht einzupendeln. Ich musste zu Martin etwas sagen, musste ihn einladen, denn er sollte unbedingt Philip kennenlernen. Martin bedurfte der Unterstützung. Bis jetzt hatte er in der Finsternis gelebt, nun ging eine neue Sonne auf, ein loderndes Gestirn der Wahrheit zerstörte seine Welt aus Schatten. So etwas kann sehr verwirrend sein. Ich spürte, dass wir, die Infizierten, in Kontakt bleiben sollten. Ich wusste nicht genau, warum, da ich – trotz meiner neuen Fähigkeiten – nicht weit genug in die Zukunft schauen konnte, um die Wege des Schicksals klar zu erkennen. Martins Verstand blähte sich immer wieder auf, webte neue Schleier. Er versuchte, alles in ein System zu pressen, und tat die gemachte Erfahrung als unbedeutend ab. Das alte Suchtgift: Erklärungen, Erklärungen. Der Mensch ist ein elender Junkie, wenn er denkt, gierig nach immer neuem Blabla, nach der alten Leier.

Montag, 13. Dezember 2021

                                                                    TEIL 8

 

 

 

Die Straße war fast unbelebt, wenige Passanten gingen ihres Weges. Zwei Polizeiwagen fuhren vorbei. Sie stoppten in einiger Entfernung. Sechs bewaffnete Beamte sprangen aus dem Wagen. Sie riefen einem Fußgänger zu, er möge stehen bleiben und die Hände nach oben nehmen. Der ältere Herr, den man wohl gemeint hatte, lächelte freundlich, ließ aber seine Hände da, wo sie waren, und schlenderte seelenruhig auf die Polizisten zu.

Was Sie nun sehen werden, das können Sie noch nicht begreifen. Ihre persönlichen Schleier haben sich etwas gelüftet, was von der Nähe des Todes herrührt. Zusätzlich wurde offenbar ein gewisser Prozess bei Ihnen ausgelöst, ohne dass sie es mitbekommen haben. Bei jenen, die gänzlich entschleiert sind, wurden sämtliche Filter des Bewusstseins weggefegt. Sie selbst blicken noch durch die Begrenzungen Ihres Denkens und Ihrer Gewohnheiten, deswegen begreifen Sie nicht, was die Welt wirklich ist. Der Mann da hinten lebt im Weiten. Das Gegenteil vom Weiten ist die Enge. Normalität ist Enge. Die Weite ist etwas, was außerhalb der Wahrnehmung der meisten Menschen liegt. Man kann sie nicht spüren, solange man sich hauptsächlich mit Nebensächlichkeiten betäubt. Man ist ja mit so vielen Dingen beschäftigt, dass man das Unbedingte versäumt. Weite ist Voraussetzung für eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft, die wir Rippen nennen. Doch das entzieht sich noch ihrer Denkweise. Für Sie scheint es Magie zu sein, aber es ist das Natürlichste von der Welt“, sagte die geheimnisvolle Frau mit bedeutungsschwerer Stimme.

Hans Lehmann zuckte zusammen. Einer der Polizisten da hinten hatte geschossen. Offenbar ein Warnschuss. Der freundliche Herr indes lächelte unermüdlich weiter. Da er unbewaffnet schien, stürzten sich mutig zwei Beamte auf den Mann, der partout die Hände nicht hochnehmen wollte. Flink sprang der Kleine einen Schritt zur Seite. Einer der Polizisten griff dadurch ins Leere und rempelte seinen Kollegen an. Beide stolperten und landeten unsanft am Boden.

Schießt!“, rief jemand schrill. Eine Kugel spaltete eine der Steinplatten des Bürgersteiges, Splitter schossen aufwärts. Der Herr, um den es ging, zeigte sich unberührt vom Geschehen, er trottete seelenruhig weiter. Ein Polizeibeamter nahm ihn ins Visier, musste aber kräftig husten, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Waffe zu senken und nach Luft zu schnappen. Der Kollege neben ihm fing an zu weinen. Er schluchzte unter Tränen: „Ich kann nicht mehr!“ Ein weiterer Staatsdiener stolperte und klatschte der Länge nach hin. Heldenhaft stieg der Fahrer des einen Polizeiwagens aus und stellte sich dem Flüchtigen in den Weg. Der Kleine schaute ihm in die Augen und verbeugte sich höflich. Da begann der Polizist wild lachend zu tanzen. Die Staatsmacht schien vollkommen verwirrt. Der kleine Herr aber stieg munter in das leer stehende Dienstauto ein und gab Gas. Sogleich sprangen zwei Polizisten in den ihnen verbliebenen Wagen. Der Motor brummte seltsam, dann verstummte er knatternd. Unterdessen war der Flüchtige auf und davon.

Kommissar Lehmann hatte die Maulsperre bekommen. Eine unbewaffnete, gebrechlich wirkende Person war einer Gruppe von durchtrainierten Polizeibeamten entkommen.

Interessant, nicht wahr?“, sagte Karen. „Wir Entschleierten, wir Infizierten werden als Terroristen gejagt, aber wir können uns recht gut verteidigen, wie Sie ja gesehen haben. Es kommt von der Infektion. Sie bewirkt das. In Ihnen beginnt sie auch zu arbeiten.“

Ich begreife absolut nichts. Was war das?“, wollte Kommissar Lehmann wissen. „Hellsichtigkeit? Hat der Mann in die Zukunft geblickt, sodass er dem ersten Polizisten ausweichen konnte? Und hat er dann die Handlungen der anderen mit Gedankenkraft beeinflusst? Warum in aller Welt ist das Auto nicht angesprungen?“

Karen Lachte. „Ihr Verstand ist aber recht eifrig dabei, Erklärungen zu suchen. Präkognition, Telekinese und Telepathie, diese ganzen parapsychologischen Begriffe fassen es nicht. Nehmen wir mal die sogenannte Telepathie. Dabei glaubt man an einen Sender und an einen Empfänger. Das ist Unsinn! Das Weite umfasst alles, was man als Sender oder Empfänger bezeichnen könnte. Es gibt nichts, was nicht aus dieser Weite kommt. Man kann es nur erkennen, wenn man die herkömmliche Art der Wahrnehmung aufgegeben hat. Solange Sie die Welt einteilen und in den Schraubstock Ihrer erlernten Begriffe zwängen, werden Sie sich in einem Irrtum befinden. Der Infizierte, der den Polizisten entkommen ist, hat Ihnen ein Spiel gezeigt, das Spiel eines Sehenden mit ein paar blinden Kindern. Normalerweise wären sie ihm überhaupt nicht so nahegekommen, aber das Ganze fand nur Ihretwegen statt. Bisher haben Sie in einem Gefängnis programmierter Sinne gelebt, jetzt erkennen Sie, was möglich ist. Wenn Sie die Schleier der Illusion hinter sich gelassen haben, wird eine Tür aufgehen und rückblickend wirkt ihr bisheriges Leben wie ein enger Gang, finster und angefüllt mit abgestandener Luft. Toll, oder?“

Und diese Tür, wie kann man sie öffnen?“

Sie schaute ihn ernst an. „Das Schloss dieser Tür besteht aus Ihren Vorstellungen über die Welt und aus der Anstrengung, die sie aufwenden, um diese Vorstellungen aufrechtzuerhalten. Sie mögen nun meinen, sie müssten sich nur mehr anstrengen, damit Sie diese alten Vorstellungen loswerden. Das ist auch eine Vorstellung. Es funktioniert nicht. Lassen Sie das alles sein! Tun Sie nichts, dann sind Sie bereit, bereit dafür, dass sich die Infektion in Ihnen ausbreiten kann.“

Ich soll einfach nichts tun? Das soll alles sein?“

Glauben Sie mir, noch ist es schwierig für Sie, nichts zu tun; denn Sie wurden ihr ganzes Leben dazu angehalten, etwas zu tun. Sobald Sie in die Nähe des Nichttuns gelangen, empfinden Sie Ungeduld und Langeweile. Der ruhelose Geist schreit nach Beschäftigung, nach Unterhaltung, notfalls gibt er sich auch mit einem Problem zufrieden, damit webt er neue Schleier, womit er weiterhin die Wahrheit verdecken kann.“

Und Sie meinen, ich werde bald so sein, wie diese Infizierten?“

Karen lachte hell auf. „Aber gewiss! Die Nachricht, dass Sie bald sterben werden, hat Sie gehörig durcheinandergebracht. Irgendwann hatten sie einen zufälligen Kontakt mit einem Infizierten. Jetzt waren Sie auch noch Zeuge einer missglückten Festnahme. Zu allem Überfluss sind Sie auch noch mir begegnet. Das hat etwas Wesentliches in Ihnen ausgelöst, eine Erinnerung, die verborgen war, die nun hervorkriechen wird. Sie müssen wissen: Ich bin hochgradig ansteckend. Außerdem ist das Schicksal nicht aufzuhalten. Schließen Sie die Augen und Sie werden die Macht erblicken. Millionen Sterne spuckt sie aus und Millionen Sterne verschlingt sie wieder. Ihr altes Leben wird von Ihnen abfallen wie eine verbrauchte Haut. Sie haben keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Gehen Sie zu Alice!“

Sie lebt noch?“

Sie schläft, aber sie wird bald erwachen. Sie werden sie finden Vertrauen Sie drauf. Sie wissen, wo Sie steckt, haben es immer gewusst, allein Ihre letzten Schleier verbergen dieses Wissen. Sie sind vom Schicksal auserwählt. Nichts kann einen von der Unendlichkeit trennen“, sprach Karen. Sie lächelte seltsam, sodass das Lächeln in ihm hineinflog, sich weitete, bevor es sonnenhell aufloderte.


Planlos lief Philip durch graue Gassen, wusste nicht, wohin er gehen sollte. Von fernher erklangen Stimmen, sie schienen etwas zu rufen: eine Parole. Wohl wieder eine dieser illegalen Demonstrationen. Eigentlich gab es ja nur noch illegale Demonstrationen, da das Demonstrationsrecht soweit beschnitten wurde, dass der Begriff 'Legale Demonstration' kein Platz mehr darin fand.

Dahinten wird demonstriert“, sagte Durga alias Karen.

Er hatte sie nicht kommen sehen und schreckte zusammen.

Das Volk wird immer frecher, da man es mit immer mehr Regeln gängeln will. Selbst der Hinweis auf eine außerirdische Gefahr hilft da nicht weiter.“

Sie werden sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Man wird noch härter durchgreifen“, meinte Philip bitter.

Es wird alles gut, es wird alles gut“, beruhigte sie ihn.

Na ja, bis jetzt ist noch nicht viel zu sehen von dem Guten: Irgendwelche Agenten sind hinter mir her; Alice ist immer noch verschwunden und ich weiß nicht einmal genau, wer ich bin. Viel kann eigentlich nicht mehr schiefgehen. Und bevor ich es vergesse: Ein Mensch, dem ich vertraut hatte, war ein Verräter und ist jetzt eine Leiche. Außerdem muss ich mir überlegen, wer du bist. Entweder bist du meine Assistentin, falls ich ein Wissenschaftler sein sollte, oder du bist eine Agentin, die so tut, als wäre sie eine Terroristin, oder du bist eine Terroristin, die eine Agentin spielt. Kann auch sein, dass du eine außerirdische Kreatur bist, falls es so etwas geben sollte.“

Erinnere dich, dann wird alles gut.“

Sie gingen in ein kleines Café, bestellten Apfelkuchen und Espresso. Sie hatte die ganze Zeit etwas in der Hand gehalten, das sie ihm nun überreichte. Es war ein Schnellhefter.

Ich habe alles aufgeschrieben. Es für dich ist. Lies das! Du spielst darin eine wesentliche Rolle.“ Sie aß ihren Kuchen auf und kippte ihren Espresso hinterher. „Ich werde jetzt gehen. Ich lasse dir Zeit, damit du dir alles in Ruhe durchlesen kannst.“ Sie stand auf – Hoffnung und Trauer vernebelten ihr die Augen – und verließ das Café.

Mittwoch, 8. Dezember 2021

                                                         TEIL 7

Als Philip wieder auf der Straße stand, versuchte er erst gar nicht, seine Gedanken zu sortieren. Er zog das Smartphone hervor und rief Elmar an. „Ich war in diesem Institut, du weißt, meine Schwester hat dort gearbeitet. Der Pförtner hat mich erkannt und schickte mich zum Direktor. Stell dir nur vor, der kannte mich scheinbar auch. Irgendwie wusste ich sogar, wie er hieß. Ich habe im Institut gearbeitet, hat er behauptet. Und dann wurde es noch verrückter, diese Frau, ich habe ihren Namen vergessen, ich habe sie schon einmal erwähnt, sie war auch dort. Sie arbeitet im Institut, hat sie gesagt. Und jetzt halte dich fest: Meine Assistentin will sie gewesen sein, das behauptet sie ganz ernsthaft. Der Direktor nannte sich Müller. Kennst du einen Müller? Übrigens, ich soll einen Doktortitel haben, o Mann. Und eine Atombombe wollen sie zünden, auf diesem Mond, auf Europa, stell dir vor!“

Hört sich ja wild an. Beruhige dich. Atme tief durch Philip. Wir sortieren das jetzt mal. Das war keine gute Idee in das Institut zu gehen. Die haben bestimmt was mit dem Verschwinden von Alice zu tun. Sie werden es nicht gerne sehen, wenn jemand herumschnüffelt. Hinter dem Institut steht die ESA, hinter der ESA stehen Deutschland und die EU und ihre ausführenden Organe, die IES und der TAD, die sich nicht um irgendwelche Regeln scheren, weil es Geheimdienste sind. Ich will dich nicht unnötig beunruhigen, aber du bist in Gefahr, definitiv.“

Und ich habe dort gearbeitet in dem Institut?“

Nein Philip, davon weiß ich nichts. Und mit dem Doktortitel muss ich dich enttäuschen. Du hast dein Studium abgebrochen. Deine Schwester konnte immer alles viel konsequenter durchziehen. Du warst intelligent, kreativ und sensibel, hattest aber nie ein Ziel, warst immer auf der Suche nach einer Wahrheit. Es existiert keine Wahrheit, es gibt nur Menschen und ihre egoistischen Ziele, Menschen, die gezwungen sind, Dinge zu tun, die sie nicht wollen. So ist das Leben, die Gewissenlosen stehen an der Spitze der Pyramide. Es herrscht ewiger Krieg. Weil wir diese Realität nicht ertragen können, betäuben wir uns oder glauben an eine Wahrheit, die uns erlösen könnte. Aber da ist nichts, nur das ewige Hamsterrad der Macht, der Spiegel unserer Eitelkeit. Aber ich schweife ab. Sie haben dich belogen, dieser Müller, der Pförtner und deine angebliche Exassistentin. Sie kennen deine Krankenakte. Sie wissen, du hast Probleme mit dem Gedächtnis. Das nutzen sie eiskalt aus. Keine Ahnung, warum sie das tun. Sie könnten dich ja auch einfach verschwinden lassen, falls du ihnen zu unbequem wirst. Obwohl – langsam hege ich einen fatalen Verdacht.“

Was meinst du Elmar? Das macht mir jetzt Angst. Und ich Trottel habe auch noch Ihr Smartphone benutzt. Ich dachte, es ist sicher. Ich bin geliefert.“

Höre zu, wir müssen uns treffen! Weißt du noch, wo das Kino war, damals? Wir sind oft dorthin gegangen, am Wochenende – Biskopstraße.“

Ja da war was. Das Kino, ich entsinne mich Elmar. Es ist eine echte Erinnerung, nicht etwas, an das ich mich nur zu erinnern glaube, weil es mir jemand sagt.“

Genau, das ist eine echte Erinnerung. Komm heute dorthin, um siebzehn Uhr.“

Ich werde dort sein“, versprach Philip, warf das Smartphone auf den Boden und trat einige Male drauf, bis es zerbrach. Er lachte kalt. Beinahe hätte er wirklich geglaubt, er wäre ein Doktor gewesen, mit hübscher Assistentin! Aber eines musste man dieser Frau lassen, um den Finger wickeln konnte sie einen ja geschickt. Ja, Karen war ihr Name. Na bitte, das Gedächtnis arbeitete wieder recht gut. An das alte Kino konnte er sich auch entsinnen, wenn auch schemenhaft, aber immerhin. Seine Hände zitterten. Er hatte heute noch keinen Kratomtee getrunken.

Bald schon saß er in der Bahn und dachte an grünes Malaysia Kratom. Er blickte nach oben zum Bildschirm, auf dem die neusten Nachrichten verkündet wurden. Er las: Eine illegale Demonstration wurde heute Nachmittag in der Innenstadt aufgelöst. Dabei trugen offenbar mehrere Polizisten Verletzungen davon. Achtzig Personen wurden wegen des Tatbestandes des Landesfriedensbruches festgenommen. Der Innenminister bezeichnete die Demonstration als Zusammenrottung von Chaoten, dessen vornehmliches Ziel es sei, Unruhe zu stiften und Hass zu verbreiten. Der Schriftzug verschwand und machte dem Gesicht einer Frau Platz. Philip bekam eine Maulsperre. Das war doch diese Karen! Es erschien ein Text unter dem Bild: Terroristin gesucht! Die Polizei bittet um ihre Unterstützung und nimmt sachdienliche Hinweise gerne entgegen. Die Terroristin Durga Friedensreich wird als äußerst gefährlich einschätzt. Sie schreckt nicht vor Waffengebrauch zurück. Es liegt ein internationaler Haftbefehl gegen sie vor. Sie ist mit großer Wahrscheinlichkeit Mitglied einer radikalen Gruppe. Diese Gruppierung soll direkte Befehle vom Jupitermond Europa erhalten. Ihr Ziel ist es, die Staatsautorität und die Demokratie zu zerschlagen. – Durga also hieß sie in Wirklichkeit, sagte sich Philip, Durga Friedensreich, und sie war wohl doch nicht vom Geheimdienst. Und plötzlich wurde ein Aufruf gestartet, ihretwegen, kurz, nachdem er bei ihr gewesen war. So lange hatte sie im Institut unbehelligt gearbeitet. Sie musste sogar den Sicherheitscheck der ESA bestanden haben. Er fragte sich, ob sie wirklich im Institut beschäftigt war. Vielleicht hatte sie sich gestern dort hineingeschmuggelt. Gewiss war sie nur seinetwegen da gewesen. Aber woher konnte sie wissen, dass er kommen würde? Ihm schwindelte. Die Welt hatte alle Festigkeit verloren. Sie wurde zu einem wabernden Etwas aus Energie, strukturlos. Sein Verstand raste. Er sah Spiralen vor sich, Kreise, Labyrinthe, Räume, die sich mehrdimensional ineinander verschachtelten. Überall Wegweiser, die in die Irre führten. Nichts schien mehr sicher, er selbst wusste nicht, wer er war. Und woher kamen eigentlich die ganzen Gedanken?

Er sprang aus dem Zug, rannte den Bahnhof entlang, die Treppe hinunter bis auf die Straße. Dort suchte er das Gebäude, in dem früher einmal das alte Kino war. Hatte hier tatsächlich einmal ein Kino gestanden? Ein Zaun, halb zerfallen, eine mit Rissen überzogene Ruine, mehr war da nicht.

Er wartete nicht lange. Elmar kam auf ihn zugelaufen, begrüßte ihn und führte ihn durch eine Lücke im Bauzaun. „Hier draußen könnten wir gesehen werden. Lass uns ins Haus gegen“, sagte Elmar und blickte sich ängstlich um.

Aus Philip schoss es heraus: „Sie ist eine Terroristin, keine Geheimagentin! Man sucht sie. Ich habe es in der U-Bahn gelesen. Und sie heißt auch nicht Ka-ka-dingsda, sondern ganz anders, Durga heißt sie. Vorhin hat sich noch im Institut herumgetrieben.“

Elmar meinte, er solle sich beruhigen und mit ins Haus kommen.

Eine Tür stand offen. Sie betraten das halb zerfallene Gebäude, modrige Luft blies ihnen entgegen. Matt fiel das Licht durch zersplitterte Fensterscheiben, legte sich über Staubflocken und schimmliges Gemäuer.

Philip, ich muss dir einiges sagen. Vor allem, dass es mir leidtut.“ Elmar machte hier eine Pause, als suche er nach Worten. Er senkte den Kopf. „Sehr leidtut mir das. Die Verhältnisse sind nun einmal so, wie sie sind. Ich arbeite inzwischen für das IES.“

Hinter Philip knackte etwas. Er blickte sich um. Ein Mann mit maskenhaftem Gesicht war in den Raum gekommen. Seine grauen Augen hatten jeden Glanz eingebüßt, falls da mal je einer gewesen sein sollte. Seine Lippen, zusammengepresst zu schmalen Strichen, wirkten wie von einem Maler kreiert, dem das Rot ausgegangen war. Der Mann hielt eine Pistole in der Hand und zielte damit auf Philips Kopf. Es war ein seltsames Gefühl, so in die Mündung einer Waffe zu blicken. Er empfand keine Bedrohung, es war vielmehr so, als träumte er die ganze Situation, als wäre er in Wahrheit absolut sicher und jenseits jeder Gefahr. Langsam drehte er sich zu Elmar um.

Ein Mitarbeiter, zur Sicherheit“, bemerkte Elmar. „Du hast keine Ruhe gegeben, wolltest unbedingt herausfinden, was mit Alice geschehen ist. Du hättest Staub aufwirbeln können, der liegen bleiben sollte. So kam ich ins Spiel. Als Kumpel aus alten Zeiten konnte ich dich unverdächtig beobachten. Beinahe wäre alles gut gelaufen: Ich hätte dich im Auge behalten und dir abgeraten, weiter nach der Wahrheit zu suchen. Dann aber ist diese Frau dazugekommen, diese Karen. Als man bemerkte, dass sie zu dir Kontakt aufgenommen hatte, wurde die Sache eine Nummer größer. Nun sollte ich dich nicht bloß von deinem Plan abhalten, nach Alice zu suchen, sondern ich wurde auch dazu angehalten, möglichst viel über deine neue Bekannte herausfinden. Als du sie schließlich im Institut wiedergetroffen hast, war das natürlich ein Erfolg. Aufgrund deiner letzten Information, dass Karen und Durga identisch sind, hat man sogleich den Fahndungsaufruf aktualisieren können. Ich werde einen Bonus ausgezahlt bekommen.“

Nun ergriff der Mann mit der Pistole das Wort. „Sie müssen keine Angst haben, Ihnen wird nichts passieren. Sie werden befragt, vielleicht können Sie sich ja an wichtige Details erinnern. Anschließend unterschreiben Sie eine Schweigeverpflichtung, dann ist alles wieder wie zuvor, als wäre nichts geschehen“.

Philip nickte, er wusste, dass diese Worte eine einzige Lüge waren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich eine Gestalt aus dem Schatten der Wand löste. Er konnte ihre Umrisse erkennen, mehr nicht. Auch der IES-Mann hatte die Gestalt bemerkt und richtete seine Waffe auf sie. Es knallte, der IES-Agent sank zu Boden, röchelte und blieb reglos liegen. Seine Augen starrten verständnislos zur Decke.

Der Schatten trat in die Mitte des Raumes. Philip erkannte ihn: Es war dieser Kommissar, der ihn davor gewarnt hatte, jemanden zu vertrauen. Der angeschossene IES-Mann zappelte am Boden. Er hatte noch ein kleines Flämmchen Leben in sich und schoss. Elmar sackte in sich zusammen. Sein Hemd färbte sich rot. Reglos blieb er liegen. Der Schütze ließ seine Waffe fallen und verwandelte sich in ein totes Stück Fleisch.

Dummer Elmar, dich hätten sie wieso erledigt! Sie hassen Zeugen“, sagte Philip. Er wandte sich an den Kommissar, „und mich hätten sie auch erledigt, alles im Namen der Freiheit. Und wie kommen Sie eigentlich hierher?“.

Ich verstehe es selbst nicht“, antwortete der Kommissar. „Ich hatte eine Vision.“

Eine Vision? Äußerst seltsam. Und diese Vision hat Sie hierher geführt?“

Es ist vollkommener Quatsch, gewiss, und doch ist es so gewesen. Ich glaube nicht an irgendwelche komischen parapsychologischen Sachen. Ich bin durchaus Realist. Ich wusste nur, dass diese Vision auf Tatsachen verwies. Es ist nicht zu erklären. Aber wie auch immer, Sie müssen jetzt fort. Gehen Sie, verstecken Sie sich. Man wird Sie jagen, zumal man Sie damit in Verbindung bringen wird.“ Der Kommissar zeigte auf die beiden toten Männer. „Ich muss noch meine Patrone aus dem einen herausschneiden. Machen Sie es gut, viel Glück!“

Philip nickte. „Ja, Sie haben recht, ich sollte mich aus dem Staub machen, so schnell wie möglich.“ Er wandte sich um und verließ die Ruine.


Der Kommissar holte sein Taschenmesser hervor. Vorsichtig schnitt er die Kugel aus der Brust des toten Agenten heraus. Er wischte das Messer mit einem Papiertaschentuch sauber, anschließend versuchte er, seine Hände vom Blut zu befreien, was nicht ganz gelang, weshalb er sie in die Hosentaschen steckte, bevor er die Ruine verließ.

Nachdem er einige Minuten lang gelaufen war, tauchte eine Frau an seiner Seite auf. Sie sprach ihn an. „Sie suchen mich. Ihnen ist es nur noch nicht bewusst. Sie wissen von den Agenten, die angeblich die Bürger vor außerirdischen Mächten schützen sollen. Sie fragen sich, wo nur diese Alice nur stecken mag. Sie werden bald sterben, hat man Ihnen gesagt.“

Kommissar Lehmann erstarrte. „Wer sind sie? Niemand weiß das, nur mein Arzt und ich!“

Ich weiß alles. Nennen Sie mich Karen. Das ist einer meiner Namen. Bald werden Sie verstehen. Was man im Institut bei der Untersuchung des Objektes gefunden hatte, entsprach nicht den Erwartungen. Man konnte nicht mehr mit absoluter Sicherheit behaupten, dass die Existenz außerirdischen Lebens erwiesen ist. Die Sache ist ja so: Man braucht die Außerirdischen, braucht die Gefahr, vor der man warnen kann. Seit es mit den USA abwärtsgegangen ist, haben auch hier die Leute das Vertrauen ins System verloren. Viele stellen sich kritisch dazu oder machen zumindest ihrem Unmut Platz. Grund genug, dass der Staat die Zügel anzieht, einige Rechte abbaut und die Bespitzelung der Bürger vorantreibt. Meinen Sie nicht auch? Wie aber soll man das rechtfertigen? Da kommen doch die Außerirdischen gerade recht. Ja, gefährliche Außerirdische – Aliens, die hier ihre Agenten platziert haben. Fehlt nur noch der Beweis dafür. Das Gerät vom Mond Europa musste für echt erklärt werden. Und hoppla, schon hatten sie ihre Rechtfertigung für alles. Es wurde der Feind geschaffen, den man sich gewünscht hat. Deswegen mussten die Wissenschaftler verschwinden – und mit ihnen Alice. Aus Sicherheitsgründen. Den wirklichen Kampf führt man nicht gegen Aliens, sondern die Regierung befindet sich im Kalten Krieg gegen das Volk.“

Sie scheinen sich ja gut auszukennen“, bemerkte Kommissar Lehmann ironisch.

Nicht doch so misstrauisch. Also, wo war ich gleich noch? Ja, die Außerirdischen als Rechtfertigung. Man sucht Monster, die für alles herhalten müssen. Da man sie nicht vorweisen kann, muss man zumindest so tun, als gäbe es Beweise für ihre Existenz. Was nicht heißen soll, dass es nicht tatsächlich Europabewohner gibt. Fakt ist: Es existiert eine Macht, sie ist nicht von dieser Welt, aber sie wirkt in der Welt. Diese Macht hat dafür gesorgt, dass sie jetzt hier sind, in diesem Moment, und das hören, was ich sage. Es ist nicht der Feind.“

Lehmann spürte eine unerklärliche Kraft, sie kroch in ihn hinein, durchströmte seinen Körper und setzte sich im Herzen fest. Er war nahe daran zu weinen. Es, was immer es sein mochte, zog ihn mit sich. Er fühlte sich seltsam frei, fast so, als wäre er sein ganzes Leben eingesperrt gewesen und hätte jetzt die Tür des Gefängnisses offen vorgefunden. Es zeigte sich ihm ein Ort, an dem alles durchtränkt schien von süßer Unbegreiflichkeit. Als Kind hatte er diesen Ort gekannt. Später war das alles in Vergessenheit geraten. Die Welt wurde zu einem Zimmer mit blinden Fenstern. Eine neue und doch altbekannte Energie rüttelte ihn wach. Dieses Wunder ging von der Frau neben ihn aus, strömte aber gleichzeitig von überall herbei. Auch spürte er jene zarte Kraft in sich selbst. Sie kroch aus der Tiefe seines Herzens hervor.

Das war nur der Schatten, den Sie gespürt haben, ein leichter Hauch. Bald wird es sich ganz zeigen“, sagte Karen. „Sie müssen sich nicht fürchten, wenn Sie sterben. Das Sterben ist wie das Zerreißen eines Schleiers, der vor der Wahrheit hängt. Sie glauben, Sie seien ein Mensch in einem vergänglichen Körper. Das sind Sie nicht! Es erscheint Ihnen nur so. Sie haben vergessen, wer Sie sind. Ich bin hier, um ihre Erinnerung anzuregen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Sie schlenderten ein Stück weiter. „Halt, bleiben Sie hier stehn!“, rief sie. „Gleich wird geschossen. Es wird uns nichts passieren. Vertrauen Sie mir.“

Sonntag, 28. November 2021

                                TEIL 6

 

Auf Wiedererinnern“, sprach sie und senkte traurig den Kopf.

Er drehte sich um und ging.

Der Abend verdrängte langsam aber unaufhaltsam den Tag. In einem Park fand er eine freie Bank, auf die er sich setzte. Der Horizont schien fern wie nie zuvor. Einige Krähen markierten den Himmel mit ihrer schwarzgrauen Anwesenheit und flogen den kraftlosen Strahlen der Sonne entgegen. Eine Tasche mit wenigen Sachen, einige Tüten Kratom und ein Smartphone, das war alles, was er noch besaß. Er kramte einen Zettel aus seiner Brieftasche hervor. Er liebte Zettelwirtschaft. Er las Elmars Nummer ab und rief ihn an. „Hallo, Philip hier. Sie war wieder da!“

Oh, Philip, hallo, du meinst bestimmt diese merkwürdige Frau, von der du mir erzählt hast.“

Ja, und sie sagte allerhand komische Dinge, so, als würden wir uns von früher her kennen und ich hätte das vergessen. Komisch ist, dass ich glaube, dass ich tatsächlich Erinnerungslücken habe.“

Bleibe ganz ruhig Philip, du stehst unter Stress wegen der Sache mit deiner Schwester, du kannst dich deshalb nicht konzentrieren. Du bist leicht traumatisiert und schützt dich, indem du bestimmte Dinge ausblendest. Diese Frau, wer sie auch immer sein mag, nützt das aus. Also mir ist keine Karen bekannt. Wir haben uns allerdings eine Weile nicht gesehen. Vielleicht hast du sie in der Zwischenzeit kennengelernt.“

Nun Elmar, ich denke, ich habe niemanden mehr kennengelernt. Ich lebte zurückgezogen. Ich war etwas angeschlagen: die Nerven! Ich musste sogar Tabletten schlucken, deswegen. Aber mein Gedächtnis war, soweit ich mich entsinne, immer in Ordnung. Diese Karen, stell dir vor, sie wusste, dass ich in der Bücherei war. Sie hat draußen auf mich gewartet. Sie tat so, als würde sie mich gut kennen. Ich drehe langsam durch.“

Bleib ruhig, das ist vielleicht genau das, was sie will: Dich verrückt machen!“

Kann sein Elmar, kann sein. Entweder ist sie vom Geheimdienst oder von den Leuten, die mit den Außerirdischen sympathisieren. Die sind gegen die Regierung, du weißt, man warnt ständig vor ihnen.“

Vielleicht solltest du freundlicher zu ihr sein, so tun, als würdest ihr vertrauen. Das wäre die Chance, von ihr zu erfahren, wer sie ist, was ihre Ziele sind und für wen sie arbeitet. – Was hast du jetzt eigentlich vor?“

Keine Ahnung, irgendwie die Nacht rumkriegen und sehen, was kommt.“

Gut, mach das. Bei mir kannst du leider nicht übernachten. Ist nicht persönlich gemeint, aber wenn diese Fremde dich in einer Bücherei aufspüren konnte, kann sie dir wahrscheinlich überallhin folgen. Falls du sie wiedersiehst, solltest du unbedingt herausbekommen, was mit ihr los ist.“

Du hast recht. Ich notiere mir, was du gesagt hast. Gut, ich melde mich wieder“, sagte Philip und steckte das Smartphone ein. Unterdessen hatte der Himmel sich dunkelblau gefärbt und wirkte wie der Schatten eines Riesen. Die Welt war einst geboren im Riesen und starb immer wieder von Neuem in seinem Magen. Der Riese war die ewige Dunkelheit, etwas Tiefes, das kein Sterblicher ausloten konnte. Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Die Sonne weckte ihn, er setzte sich auf. Sein Rücken schmerzte. Eine Bank war als Bett nur bedingt brauchbar. Er blickte zum morgendlichen Horizont und ihm wurde klar, was er zu tun hatte.

Das Institut“, flüsterte er, „das Institut“. Er entsann sich, er wusste genau, wo es sich befand. Er sah es innerlich vor sich. Alice musste ihn wohl einmal dahin mitgenommen haben, obwohl er nicht mehr sagen konnte, wann das passiert sein sollte. Nein, nicht nur begleitet hatte er sie, er war drin gewesen, im Institut. Er hatte Alice in ihrem Laboratorium gesehen. Es wurde ihm jetzt noch einmal gegenwärtig: Sie steht am Tisch und schraubt an etwas herum. Sie lächelt stolz. Er schaut genau hin, will sehen, was das ist, was da vor ihr liegt. Aber er erkennt es nicht, er sieht es wie durch Milchglas. Er weiß aber, wenn sie fertig geschraubt hat, wird die Welt nicht mehr das sein, was sie gewesen war. Nachdenklich lief er zur U-Bahnstation.


Dieser verfluchte Narr!“, schimpfte Kommissar Lehmann in sich hinein. „Dieser Narr wird direkt in sein Unglück laufen!“ Der Haftbefehl war bereits da, bloß dieser verdammte Philip konnte nicht aufgetrieben werden. Im Gefängnis wäre er zumindest sicherer aufgehoben als auf der Straße. Heute Morgen hatte er veranlasst, dass jeder seiner Mitarbeiter ein Foto des Gesuchten ausgehändigt bekam. Nun wurden sämtliche Hotels und Pensionen in der Nähe der Wohnung des Tatverdächtigen aufgesucht, in der Hoffnung, ein Portier könnte sich erinnern. Dass der vermeintliche Verdächtige unschuldig war, hatte dabei keine Bedeutung. Er wollte ihn retten, mit allen Mitteln.

Das Telefon läutete. Endlich kam der Anruf, auf den er so lange gewartet hatte. Das Hotel wurde gefunden. Dort hatte er Unterschlupf gesucht. „Jemand hat für ihn ein Zimmer gemietet“, bemerkte der Kollege am anderen Ende der Leitung. „Ja, wir werden nachforschen, was für ein Typ das ist. Nein, heute Nacht war das Zimmer nicht belegt. Kann sein, er kommt nicht wieder. Bald erfahren wir, wie lange und wohin er vom Hotelzimmer aus telefoniert hat. Falls er überhaupt telefoniert hat. Aber es wird ja alles gespeichert heutzutage.“

Ja, es wird alles gespeichert“, wiederholte Kommissar Lehmann und legte auf. Kurz darauf läutete das Telefon abermals. Er drückte den Hörer ans Ohr. Der Staatsanwalt war dran. Der Fall Philip Stein müsse sofort zu den Akten gelegt werden. Eine Anweisung des Justizministeriums. Eine Anklage sei nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Somit bestehe kein Grund, den Fall weiter zu verfolgen. Herr Philip Stein könne so viel Kokain besitzen, wie er wolle.

Kommissar Lehmann knirschte mit den Zähnen. Sein Rettungsversuch war gescheitert. Was nun? Zum zweiten Mal hatte man ihm einen Fall entzogen. Aber er wollte keine Ruhe geben, bis er Alice Stein-Lumen gegenüberstand. Was sollte er tun? Er hatte keine Idee. Sein Körper wurde schwer, eine tiefe Müdigkeit war über ihn gekommen, zog ihn abwärts, aber nicht in den Schlaf hinein, er blieb dabei seltsam wach. Es schienen nur die Augen, die in die Welt hinausschauten, eingeschlafen zu sein, aber es gab noch andere Augen, die nicht nach außen blicken, dennoch klar sahen.

Der Menschen Glaube, der ist ja so klein, dass ein Senfkorn dagegen wie ein Berg erscheint“, sprach der Knochenmann, der unvermittelt neben Kommissar Lehmann aufgetaucht war. „Schau her und erkenne das Schicksal!“

Zähneklappernd verschwand diese groteske Gestalt wieder. Nun erschien eine Art Abrisshaus, eine Ruine, durchnässt und zerfallen. Eine Pistole erkannte er, Blut sah er auch, frisches Blut. Dann – ein Straßenschild und eine Uhr. Er merkte sich die Uhrzeit, den Straßennamen und die Zahl, die kurz vor ihm aufblinkte, wohl die Hausnummer der Ruine.

Des Menschen Glaube ist so klein!“, meckerte der Knochenmann von Ferne her.

Der Kommissar schreckte hoch. Gewiss war er kurz eingenickt und dabei in einen kuriosen Traum versunken. Einen Straßennamen und eine Uhrzeit geisterten durch seinen Kopf. Sollte er dort hinfahren, eines Traumes wegen? Er lachte über seine Gedanken. Das wäre nicht normal, einem Traum zu folgen. Andererseits galten die normalen Gesetze für ihn nicht mehr. Er war dabei, sich von allem zu verabschieden, die Erinnerung loszulassen, die Hoffnung zu vergessen. Immer mehr wurde ihm klar, dass weder eine Vergangenheit existierte, noch etwas, das man eine Zukunft hätte nennen können. Es exisierte das, was man zu tun hatte, ob man wollte oder nicht. Bisher war er daran gewohnt gewesen, seinen eigenen Gedanken zu vertrauen, Erklärungen und Gründe zu brauchen, damit alles einen Sinn bekäme. Damit war es nun vorbei. Es gab weder einen Sinn noch ein Ziel. Es gab nichts, gar nichts, nur etwas, was getan werden musste, weil es wieso geschehen würde. Es war der Lauf der Dinge, der nicht fragte, ob er sein durfte. Er existierte einfach, übermächtig und zwingend. Diese Erkenntnis war den Weisen oder Sterbenden vorbehalten, oder er wurde verrückt, weil eine andere Wirklichkeit in sein Gehirn tropfte.

Er erblickte sich als Kind, das stundenlang in seinem Spiel versunken das Glück genoss; sah sich als Schüler, der widerwillig lernte; sah sich als Polizist, frisch von der Polizeischule kommend, spürte den Augenblick, als er seiner Frau zum ersten Male begegnet war; sah seine Tochter als Baby, als frisches Dasein, das in die Welt hineinstaunte. Sein ganzes Leben hing vor ihm wie ein großes Gemälde, ein Werk voller Jahre, die wie Farbabstufungen aufeinanderfolgten. Er erkannte in den Tupfern und Linien des Bildes seine Träume, Taten und Sehnsüchte. Manches war geglückt, vieles misslungen, Hoffnungen gescheitert. Augenblicke, hell und funkelnd sprangen bunt ihm entgegen: der Beginn eines Sommertages, damals, als er grade sechs Jahre alt war; ein Abend, an dem er gemeinsam mit seiner jungen Frau den Sternen einer Zaubernacht Namen gegeben hatte. Und dann das erste Mal, als seine Tochter den Mund zu dem Wort Papi formte. Diese Momente ragten wie Berge aus dem Tal der Zeit heraus, bis hinein in den Himmel, der sich zeitlos über all die Formen des Lebens streckte.

Er kannte keine Zweifel mehr, er wusste, was er zu tun hatte. Zuerst aber rief er einen seiner Kollegen an, presste das Telefon ans Ohr und sagte ihm, dass sie den Fall Philip Stein abblasen müssten. „Befehl von oben, von ganz oben. Wie? Sie haben herausgefunden, mit wem er telefoniert hat? Ach nein! Na ja, wie gesagt, wir sind da raus.“

Der Kommissar legte den Hörer auf. Jetzt wurde die Geschichte ernst.


Philip hatte das Institut erreicht. Er ging zum Pförtnerhäuschen, ohne zu wissen, was er dort sagen sollte.

Der Pförtner sah ihn überrascht an. „Ich habe Sie erst gar nicht erkannt. Aber schön, dass Sie wieder einmal vorbeischauen Herr Doktor Stein! Ich werde gleich Herrn Direktor Müller anrufen und Ihnen einen Besucherpass ausstellen.“

Philip war verwirrt: Er konnte sich nicht daran erinnern, je eine Doktorarbeit geschrieben zu haben! Der Pförtner telefonierte kurz und überreichte ihm einen Besucherausweis. „Direktor Müller erwartet Sie.“

Philip schaute den Mann hilflos an. „Verzeihen Sie, Sie wissen ja, ich war lange nicht mehr hier, außerdem war ich sehr krank; wenn Sie mir also sagen könnten, wie ich zu Direktor Müllers Büro komme, wäre ich Ihnen dankbar.“

Gehen Sie geradeaus, dann ins Gebäude links hinein. Im dritten Stockwerk ist das Büro. Steht groß Müller an der Tür. Er hat sich ein neues Schild machen lassen. Echt Messing.“

Philip dankte dem Pförtner und betrat das Haus. Er fragte sich, wer dieser Direktor Müller war, und was er mit dem zu schaffen gehabt hatte! Gleich würde er es herausfinden. Er klopfte an die Bürotür, an der ein wirklich protziges Messingschild glitzerte.

Ja, bitte!“, rief jemand von drinnen.

Philip trat ein. Im Büro standen mächtige Sessel sowie zwei Aktenschränke aus tropischen Hölzern, alles ebenso teuer wie geschmacklos. Ein solariumgebräunter Anzugträger stürmte auf Philip zu, legte die Hände auf seine Schultern, schaute ihn mitleidig an und zwang sich dann zu einem Lächeln, das etwas zu breit geriet. „Philip, du alter Saukerl, welch eine Freude, dass du hier vorbeischaust! Wie geht’s dir so? Erzähle!“

Nun, ganz gut. Ich habe leichte Probleme mit meinem Gedächtnis, aber ...“

Ja Philip, ich weiß, warum du gekommen bist – wegen Alice. Tragische Sache. Als sie von hier losgefahren ist, war alles so wie immer. Wer konnte ahnen, dass sie nicht mehr wiederkommt?“

Sie war nicht die Einzige, ich habe mit der Frau eines Wissenschaftlers gesprochen, der mit Alice zusammengearbeitet hat. Alle sind sie verschwunden, alle, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben.“

Der Direktor nickte. „Sie sind fort, alle, die es untersucht haben.“

Dieses Ding vom Mond Europa?“

Ja, dieses verfluchte Ding! Es hat bereits die Welt verändert und unser Leben. Nichts wird mehr so sein, wie es gewesen war. Du hättest das Team geleitet, wenn deine Krankheit nicht ...“

Philip schaute Müller fordernd in die Augen. „Was habt ihr herausgefunden?“

Nun, du weißt, wir leben in schwierigen Zeiten, man kann nicht mehr so reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist.“

Ich verstehe Eddy“, Philip stutzte, da ihm der Vorname von diesem Müller eingefallen war, „da gibt es den Abwehrdienst, TAD genannt, dann existiert noch das Institut, das IES, und sie alle sind um unsere Sicherheit mehr als besorgt.“

Es ist schon seltsam, alles fing mit dir an.“

Wieso mit mir Eddy?“

Ich habe dich beneidet um deine großen Ideen. Ich war immer der Pragmatiker, du der Visionär.“

Vielleicht habe ich heimlich dich beneidet.“

Mag sein, aber du warst es, der die Chefs der ESA überzeugen konnte, das Europaprojekt zu starten, nachdem diese Sache mit den USA passiert ist, der Wirtschaftscrash, wonach die NASA dann auch in die Pleite gegangen ist. Du hast unerbittlich an Leben auf den Eismonden geglaubt. Du warst der große Planer, hast die ersten Modelle des Maulwurfs entwickelt, hast errechnet, wie er sich am effektivsten durch die dicke Eisschicht schmilzt und wühlt. Erst deine Argumente haben dafür gesorgt, dass Geldmittel geflossen sind. Du warst mein bester Mitarbeiter, ehrlich. Ich schätze, bei der nächsten Beförderung hättest du mich überholt und wärst ein ganz großes Tier bei der ESA geworden. Was nun allerdings abläuft, das würde dir nicht gefallen. Der Maulwurf wird bald die erste Forschungssonde in Unterirdische Meer von Europa absetzen, ein zweiter Maulwurf, der dann folgen soll, wird die Drohne befördern, die Drohne mit der Bombe. Man nennt das einen Präventionsschlag.“

Also höre mal Eddy, du meinst, die werden die Bombe zünden, ohne Beweis, dass die Bewohner von Europa feindliche Absichten hegen? Bevor man sie überhaupt wirklich entdeckt und mit ihnen geredet hat?“

Eddy Müller setzte ein ernstes Gesicht auf. „Es ist die erste deutsche Atombombe. Nuklearer Verteidigungstorpedo sagen wir dazu. Da sind die bösen Begriffe nicht drin: Atom und Bombe. Seit in den USA das Chaos herrscht, will Deutschland zeigen, wer hier in der westlichen Welt das Sagen hat. Europa ist ja schon auf deutscher Linie. Und das andere Europa, der Mond, der um den Jupiter kreist, soll dran glauben. Einfach eine Machtdemonstration: Deutschland als Retter der Welt!“

Philip schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber das würde bedeuten, dass man eine ganze Zivilisation ausrottet, wegen des bloßen Verdachtes, sie könne uns gefährlich werden.“

Na ja, vielleicht ist der Mond Europa unbewohnt“, gab Eddy zu bedenken. „Es gibt ja auch die Ganymed-Hypothese. Demnach hätten Bewohner des Mondes Ganymed auf der Suche nach einem Ort, der ihrer Heimat gleicht, den Mond Europa entdeckt und eine Rakete dorthin geschickt, die das Ding abgesetzt hat. Die Spinne.“

Vielleicht hat man sich grundsätzlich geirrt, vielleicht sind die Eismonde keine guten Kandidaten für Leben“, bemerkte Philip.

So etwas sollte man in der Öffentlichkeit nicht äußern. Das würde unterstellen, unsere Regierung wäre blöde.“

Falls es Aliens gibt, sind sie ganz anders. Sie werden nicht unseren Vorstellungen entsprechen. Es könnte sein, dass sie uns weit überlegen sind, überlegen und unbesiegbar.“

Wenn es sie gäbe, Philip, wer weiß, ob sie uns angreifen würden?“

Befreien möglicherweise, befreien aus einem Käfig, geschmiedet aus tausend Jahre Intoleranz und Dummheit. Sie würden uns die Augen öffnen, wir könnten sehen, dass wir Teil der großen kosmischen Familie sind, dass das, was wir den Feind nennen, uns in Wahrheit näher als der eigne Herzschlag ist.“

Eddy lachte trocken. „Immer noch der alte Visionär!“

Stimmt, mir fehlt das Gen fürs Pragmatische. Tja, dann wäre ja alles gesagt.“

Gib acht auf dich“, mahnte Eddy, dabei klang er wie ein besorgter Vater.

Mach‘s gut Eddy“, sagte Philip, schüttelte die Hand des Direktors und verließ das Büro.


Auf dem Flur glaubte Philip, einer Halluzination zu begegnen. Karen kam auf ihn zu, als wäre es das Natürlichste auf der Welt und sagte: „Schön, dich hier zu sehen.“

Verdammt, was machst du denn hier im Institut!“, rief er und glotzte ungläubig.

Ich arbeite hier zufällig. Verzeihe, ich vergesse immer, wie viel du vergessen hast. Ich war deine Assistentin.“

Meine Assistentin? Und du hast mit meiner Schwester zusammengearbeitet?“

Sie nickte. „Ja. Wir drei waren ein gutes Team. Wir sind immer noch ein gutes Team, hoffe ich.“

Philip spitzte die Lippen und fragte sie, warum sie nicht wie Alice an der Untersuchung der außerirdischen Apparatur mitgearbeitet habe.

Ich war mit dem anderen Projekt beschäftigt. Projekt Pandora.“

Pandora?“

Du weißt, die Frau aus der alten Sage. Sie besaß eine Kiste, in der sich alle Übel befanden. Einmal geöffnet – ist es zu spät. Die Übel springen heraus und peinigen das Land.“

Verstehe Karen, ich verstehe: Pandora bringt die Bombe nach Europa. Die ultimative Verteidigung gegen eine Bedrohung, die existieren könnte. Und man muss eine Zeitschaltuhr aktivieren, bevor der Maulwurf die Unterwasserdrohne mit der Bombe unter dem Eis absetzt. Funkwellen schaffen es nicht, das Eis zu durchdringen. Der Befehl ist von einem bestimmten Punkt ab nicht mehr umkehrbar.“

Es ist, wie du sagst. Wir arbeiten mit der NATO zusammen. Es gilt als Verteidigungsfall.“

Aber wir wurden nicht angegriffen!“

Nun ja, Philip, die bösen Aliens verfügen über Massenvernichtungsmittel. Die hat zwar noch keiner gesehen; es reicht allerdings aus, wenn man es ihnen unterstellt. Wesen, die ein mehrbeiniges Erkundungsgerät zurechtzimmern können, sind zu allem fähig, oder?“

Massenvernichtungswaffen? Vielleicht nur Imaginäre. Und die Erde holt zum Erstschlag aus?“

Ja, aber doch nur zur Verteidigung. Man kann ja nicht warten, bis man wirklich angegriffen wird, ansonsten könnte es zu spät sein. Deswegen muss die Verteidigung vor dem Angriff stattfinden.“

Mit anderen Worten: Die Erde ist der Aggressor.“

Das sei nicht die offizielle Lesart, bemerkte Karen. Die Menschen verteidigten lediglich ihre Freiheit in der Umlaufbahn des Jupiters.

Okay Karen, habe es kapiert. Und du machst da mit, bastelst an dieser Pandora?“

Aber die Bombe wird niemals explodieren, dazu kommt es nicht.“

Du klingst ziemlich überzeugt.“

Ach Philip, bevor die Bombe hochgehen kann, wird etwas anderes explodieren, etwas, was viel mehr Kraft hat: reines Bewusstsein.“

Wie ist das, wenn reines Bewusstsein explodiert?“

Karen lächelte selig und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund. „Wunderbar“, sagte sie, „es ist einfach wunderbar.“