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Das
Dach der Halle wurde von nur wenigen Säulen getragen. Allein sie,
die Kinder Europas, konnten zu jener Zeit Derartiges bauen. Eines
Tages würden sie das alles vernichten, ihre Spuren tilgen. Dann
könnten die Menschen ihren eigenen Weg gehen, ohne bei der Hand
gehalten und geführt zu werden. Sie schürzte das Gewand und
betrachtete ihre Beine. „Ob ich mich je daran gewöhne“, seufzte
sie, „an dieses ständige Balancieren auf zwei Stangen aus Knochen,
Muskeln und Haut? Ich will meine Flossen wiederhaben! Warum hat man
keine Unterwasserstation gebaut?“
Philphil
sah sie an. „Irgendwann gewöhnt man sich an diese Beine. Eines
Tages bauen sie bestimmt eine Station auf dem Meeresgrund. Momentan
sollten wir uns möglichst oft sehen lassen. Die Menschen bedürfen
der Führung.“
„Ja
gewiss, sie brauchen ihre Götter, ihre Gottkönige und all die
übernatürlichen Wesen und – ganz modern – einen Gott, einen
Vater aller Dinge.“ Übermütig streckte sie ihre Arme nach oben
und drehte sich. „Ich bin eine Naturgewalt!“
„Bald
schaffen sie es alleine, dann können wir uns zurückziehen.“
„Wir
wären schon längst weg, wenn diese Ersten …“
„Und
die auf Enceladus sehen das überhaupt nicht gerne. Sie meinen, wir
hätten die Verträge gebrochen.“
„Ach,
diese alten Verträge … Außerdem mussten wir doch ...“
„Natürlich
Alal, nachdem uns die Sache mit den Ersten entglitten ist, versuchen
wir, den Schaden zu begrenzen.“
Sie
schritt zum Thorn und setzte sich. Sie gähnte. Das liebte sie, auf
Europa war Gähnen unbekannt. „Ich bin froh, dass ich keine
wirkliche Königin bin und dass der Rat auf Europa entscheidet.“
„Obwohl
viele Mitglieder des Rates noch nie auf der Erde waren, treffen sie
Entscheidungen. Sie wissen nicht, wie es hier wirklich zugeht.“
Eine
Wache trat ein, grüßte förmlich und meldete Besuch an: den ersten
Priester.
„Soll
hereinkommen. Die Wache kann draußen bleiben!“, befahl sie mit
klarer Stimme.
Die
Wache zog sich zurück, der Priester kam angeschlichen und verbeugte
sich übertrieben. „Hochlöbliche Sonne, die die Nacht vertreibt,
klarer Quell, der uns labet, du Blume, die in der Wüste blüht,
Herrscherin über die Sterblichen. Mein Haupt neigt sich vor eurem
Glanze!“
„Diese
Begrüßung ist weder aufrichtig unterwürfig, noch kleidet sie einem
Priester. Sie trägt vielmehr einen recht anmaßenden, ja ich möchte
sagen, kecken Ton in sich, ebenso verbitte ich mir den Klang der
Ironie, der diese Grußworte misstönig begleitet. Allzu leichtfüßig
ist die Grenze von der Heuchelei zur Blasphemie überschritten.
Warnten euch nicht die heiligen Schriften davor?“
Halb
springend, halb tänzelnd hüpfte der Priester bis an den Thron
heran. „Gewiss, Überheblichkeit ist eine Sünde, die nicht
geduldet werden darf. Da ich der erste Priester bin, kann ich
allerdings nicht blasphemisch sein. Blasphemie ist es, mir zu
widersprechen. Ich rede hier, wie sich versteht, vom Volk, ihr seid
eine Göttin, Widerrede ist euer Recht. Ansonsten muss hart
durchgegriffen werden, niemand darf unsere Autorität anzweifeln“,
sprach der Priester mit geschwollenem Pathos und tätschelte ihr den
Kopf.
„Reiß
dich zusammen! Du bist albern. Wenn die Wache uns belauscht!“
„So
ist er eben unser guter Chrochro“, sagte Philphil.
„Nun,
die Wache steht gewiss auf ihrem Posten und Diener sind nicht
zugegen. Sie würden auch nichts verstehen, da wir in der Sprache der
Götter reden“, rechtfertigte sich Chrochro. „Riecht übrigens
gut hier. Besser als im öffentlichen Tempel drüben. Was ist das?
Myrrhe, Olibanum und …?“
„Wir
geben Styrax hinzu. Und einen Hauch Sandelholz. Wolltest du nur mal
so vorbeischauen, oder gibt es einen Grund für dein Erscheinen?“
„Sagt
mal, warum habt ihr hier keine Bank?“
„Man
steht oder kniet vor mir. Ich bin ein höheres Wesen!“
„Für
die ja, aber doch nicht für uns“, motzte Chrochro.
„Wir
spielen alle unsere Rollen. Irgendwann wird die Theokratie
abgeschafft werden, dann kommen die Imperatoren, die Demokraten und
so weiter“, mischte sich Philphil ein.
Sie
fixierte Chrochro. „Wir passen uns ihrer jeweiligen Entwicklung an.
Wachstum braucht Zeit und tut manches Mal weh. Wir spielen unsere
Rollen für sie. Sie sind wir. Ich liebe sie alle, sie haben sich nur
verlaufen.“
„Entschuldige,
ich bin mit meinen Späßen ein wenig zu weit gegangen.“
„Schon
gut. Du bist gewiss nicht nur zum Plaudern hier, oder?“
„Leider
nicht. Botschaft von den obersten Göttern!“
„Ich
ahnte es. Wenn der Rat von Europa sich meldet, handelt es sich um
eine ernste Angelegenheit.“
„Haltet
euch fest: Die Sklaverei wird abgeschafft!“
„Was,
die Sklaverei?“, fragte Philphil. „Es ist doch alles unter
Kontrolle.“
Chrochro
fuchtelte mit seinen Armen herum. „Leider nicht. Etwas ist
schiefgelaufen. Die Ersten weiterhin in der Nähe der Menschen zu
lassen, wäre zu gefährlich. Manche Sklaven sind schon aufgestiegen
und herrschen selbst über Sklaven. Bald werden sie ihre Ketten
zerreißen.“
„Man
hätte sie integrieren sollen“, meinte sie.
„Das
ging einfach nicht Alal, sie sind zu verschieden, zu unkontrolliert“,
sagte Chrochro. „Ihr einziger Nutzen war es, als Sklaven zu dienen.
Das war ihre Existenzberechtigung. So hatte man sie bisher halbwegs
unter Kontrolle. Sie üben schlechten Einfluss auf die Menschen aus.
Viele lassen sich anstecken und verwirren. Neid und Hass wachsen
unter den Ersten. Sie werden gefährlich. Das könnte die gesamte
menschliche Zivilisation wegfegen. Unsere Aufgabe ist es, laut
Anweisung des Rates, dafür zu sorgen, dass die Ersten verschwinden.
Passt dieses einigen Menschen nicht, soll mit Strafe nicht gespart
werden. Aufstände sind zu vermeiden. Um die Massen zu beruhigen,
soll Milde in anderen Bereichen walten. Gewisse Freizügigkeiten
können toleriert sind tolerierbar, sofern sie die Ordnung nicht
gefährden..“
„Manches
Mal hasse ich diesen Job“, sagte sie. Sie war eine Königin ohne
Macht, eine Göttin ohne Himmel. Sie war nichts, ein Nichts, das man
aus dem Wasser gezogen und an Land geworfen hatte, ein Ding mit zwei
Beinen, eine Marionette in den Händen des Rates. Sie erschrak über
sich selbst. Hatte sie etwa Zweifel? Wie konnte sie sich anmaßen, es
besser wissen zu wollen als der Rat? Der Rat verfügte über eine
Weisheit, die ihr fehlte, er sah, wie die Schicksalsfäden sich in
ferner Zukunft verweben würden. Sie musste sich beugen, demütig
neigen, selbst wenn alles in ihr sich dagegen regte. Es war dieser
Planet, der die Zweifel in die Seele brachte, der verwirrte und
irgendwann jeden irremachte.
Chrochro
nickte verständnisvoll. „Gewiss, wir alle wären lieber auf
Europa, würden gern durch das kühle Wasser der Heimat gleiten, uns
an den Lichtern der Städte und am Farbenspiel der Quallen erfreuen.
Aber uns fällt die Aufgabe zu, hier alles zu ordnen.“
Sie
nickte zögerlich, fragte sich, ob es richtig gewesen war, dass man
die Ersten versklavte. Der Rat auf Europa hatte es allerdings so
entschieden – und der irrte nie. Gewiss hatte man die Linien des
Schicksals sorgsam studiert, bevor man seine Schlüsse zog. „Die
Sklaven haben wichtige Arbeit verrichtet, sie haben Steine
geschleppt, Städte gebaut, mühsam Quader auf Quader gesetzt, bis
die Pyramiden ihre mächtigen Schatten über den Wüstensand wandern
lassen konnten“, warf sie ein.
„Andererseits
kann man zurzeit durchaus auf sie verzichten“,sagte Philphil.
Chrochro
nickte. „Die Menschen vermehren sich recht brav. Es wachsen
genügend Arbeiter nach, auch Sklaven ...“
„Eine
Welt ohne Sklaven wäre schön!“
„Du
hast ein großes Herz Alal“, sagte Chrochro. „Das wäre gewiss
schön. Es wird auch so kommen. Nur nicht jetzt. Es entspricht nicht
der Entwicklung der Menschen.“
„Chrochro
hat recht“, sagte Philphil, „alle Zivilisationen sind diesen Weg
gegangen, haben sich unter Schmerzen aus stinkendem Schlamm erhoben,
bis sie sich zur vollen Größe aufrichten konnten. Am Ende steht die
Erkenntnis des Lichtes der Einheit. Dazu aber müssen sie überleben,
es wäre darum nicht gut, die Menschen zu verweichlichen. Stolze
Welten werden aus Blut geboren, sie schöpfen ihre Weisheit aus dem
Schmerz.“
Sie,
die Gottkönigin,
rief mit zwischen Stärke und Verzweiflung schwankender Stimme: „Ich
weiß immer noch nichts! Warum, weshalb, was ist der Grund? Die
Menschen haben bisher die Ersten als Sklaven gehalten und die
Kontrolle über sie gehabt. Es war alles in Ordnung. Auch besteht
keine Gefahr, dass sie sich kreuzen. Die Ersten werden von uns
sterilisiert, sobald wir sie anliefern.“
„Das
ist der Punkt. Es sind zu viele. Die Situation wird unübersichtlich.
Man will nichts riskieren“, sagte Chrochro.
„Es
hat also Fälle von ...“
„Genetischer
Vermischung gegeben. Genau.“
„Wie
konnte das passieren Chrochro?“
„Keine
Ahnung. Eine ganze Stadt wimmelt von denen. Mischlinge eben. Es wurde
möglicherweise gepfuscht beim Sterilisieren, oder es konnten einige
entkommen. Sind ja recht flink die Dinger. Lange haben wir die Stadt
nicht bemerkt. Sie hat sich einfach entwickelt, ohne unser
Eingreifen. Sie haben durchaus Beachtliches geleistet. Oberflächlich
besehen. Aber es ist eine Welt des äußeren Glanzes und der inneren
Fäulnis.“
Sie
fasste zusammen: „Sie vermischen sich und bauen ohne unser Wissen
eine ganze Stadt. Warum lässt man sie denn nicht? Sollen sie sich
vermehren und Städte gründen.“
Philphil
meine, dass der Rat das kaum zulassen würde.
Chrochro
nickte. „So ist es. Es kann nicht funktionieren, nicht auf Dauer.
Die aggressiven Triebe der Ersten werden immer wieder durchbrechen.
Bis jetzt haben sie gute Dienste geleistet. Sie beseitigten die
Konkurrenten der Menschen, sie waren brauchbare Sklaven, aber sie
sind aufrührerisch. Sie achten uns nicht, sie fürchten uns nur. Sie
haben kein Bedürfnis nach dem Heiligen. Sie leben in einer Welt in
der Egoismus und Gier herrschen. Wenn sie sich mit Menschen
zusammentun, dann zum eigenen Vorteil. Zu allem Überfluss ist auch
noch diese verdammte Intelligenz in ihre Köpfe gekommen. Das war
nicht geplant. Man rätselt, wie sie sich so rasch entwickeln
konnten. Wie dem auch sei, irgendwann würden die Ersten gegen uns
hetzen und die Ordnung der Menschen auflösen, bis alles im Chaos
versinkt.“
„Aber
die fleischliche Vermischung mit den Menschen könnte einiges
abmildern“, gab sie zu bedenken.
Chrochro
sagte: „Wenn man schmutziges Wasser mit sauberen mischt, wird das
schmutzige ein wenig reiner, aber das saubere ist dann trübe. Alle
Erfolge der Menschheit ständen auf dem Spiel. Aber so weit wird es
nicht kommen. Tatsache ist, die Menschheit kann nur ohne die Ersten
überleben. Wir müssen handeln, wenn wir Untergang und Anarchie
verhindern wollen! Die Sklaven und unsere Zuchtreservate bereiten mir
keine Sorge. Allerdings müssen wir eine ganze Stadt loswerden, auch
die Dörfer ringsherum. Niemand darf überleben.“
„Und
es gibt keinen anderen Weg?“
„Nein
Alal, nicht nur ich habe darüber nachgedacht, auch der Rat auf
Europa, die Weisen, die Bürger, alle. Nur diese Lösung verspricht
Erfolg. So können die Menschen eine Zukunft haben. Es werden einige
Leben geopfert, damit tausend Generationen leben können.“
Alal
fühlte sich unbehaglich. Sie wollte nicht als Schlächterin in
künftigen Geschichtsbüchern verewigt werden.
Chrochro
fuhr fort: „Es werden Aufstände kommen, kleine Aufstände, dafür
sorge ich persönlich. Das wird später den Verlust der Sklaven
rechtfertigen.“
„Und
diese Stadt voller Mischlinge, wer soll sich um die kümmern? Ich
etwa?“
„Keine
Sorge Alice. Das wird schon erledigt. Eine Flut.“
„Zumindest
haben wir damit nichts direkt zu tun“, sagte Philip.
„Doch“,
widersprach Chrochro, der über die neusten Informationen des Rates
verfügte, „wir müssen zuvor kurz noch diese Stadt aufsuchen.“
„Und
was sollen wir dort?“, fragte sie ungehalten.
„Man
meint wohl, wir sind die Besten, die drei Spitzenleute sozusagen. Wir
sollen die Botschaft überbringen.“
„Botschaft?“
Chrochro
erläuterte: „Es gibt in dieser Stadt auch genetisch reine
Menschen. Man möchte, dass wir sie warnen, damit sie rechtzeitig
fliehen können. Es leben dort Leute, die an den Monotheismus
glauben. Wir kommen als Engel, fordern sie auf, ihre Heimat zu
verlassen, sagen ihnen, was sie weiterhin zu tun haben.“
Sie
fühlte sich mehr als schlecht. Sie sollte ein rettender Engel sein –
für einige, vermutlich für recht wenige; der Rest durfte absaufen
wie Vieh! Tausend Gedanken, tausend Träume waren dazu bestimmt, von
den Fluten weggespült zu werden! Innerlich griff sie in nach den
Fäden des Schicksals. Sie sah sich schon jetzt, wie sie verschleiert
durch die Gassen huschte, Blicken auswich, welche die künftigen
Opfer ihr zuwarfen. Opfer, die noch nicht wussten, dass sie als
solche auserwählt waren und ihrem Schicksal nicht entkommen konnten.
Höhere Wesen, wie sie eines war, hatten ihnen diese Rolle
aufgedrängt. Die Unreinen mussten ausgemerzt werden. Es würde nicht
persönlich gemeint sein. Ein chirurgischer Schnitt, der anderen eine
Jahrtausende lange Entwicklung verspräche. Wieso gelang es ihr
nicht, ihnen in die Augen zu blicken? Immerhin war sie ein Engel,
eine Göttin, eine Königin, ja mehr noch: Sie konnte schneller
schwimmen als die Delfine, sie kam vom Mond Europa, sie konnte in das
Geflecht des Schicksals hineinspähen, konnte das Herz der Welt
fühlen, sie brannte wie ein Stern, war eine Seele aus Licht, frei
von tierischen Instinkten. Sie, diese anderen da, diese Kreaturen,
sie müssten sich wegdrehen, sich ducken und die Augen verbergen vor
dem Antlitz eines Engels, der, wenn auch nicht so leichtfüßig wie
sonst, an ihnen vorbeischwebte. Sie wusste, was sich in ihr regte,
sie schwer werden ließ: das seltene Gefühl der Schuld. Aber sie war
nicht schuldig! Sie tat das, was der Rat entschieden hatte. Die
Beschlüsse des Rates waren frei von Boshaftigkeit, entsprangen nicht
der Machtgier oder der Rache, sie dienten der Zukunft der Menschheit.
Sie
riss sich zusammen, ließ sich in eine innere Weite fallen, die alle
Schwere nahm, erhob ihr Haupt und trat in eine karge Unterkunft ein.
Am Tisch hockte ein Mann, faltig und zahnlos, er fixierte sie aus
seinen Augenschlitzen. Er dachte, was wagt sich diese Magd, so frech
hier einzudringen! Sie spürte seine Gedanken wie Nadeln. Mit einem
Griff warf sie die Kapuze zurück und öffnete ihr Herz; ihre Augen
glühten – heißes Metall im Schmiedefeuer. Alle Gedanken waren
fort, sie verschmolz mit einer namenlosen Weite. Zart berührte sie
die Seele des Alten. Sie heilte darin sämtliche Wunden. Das
Unendliche eint, was das Begrenzte entzweit. Der Mann zitterte. Sie
sprach: „Fürchte dich nicht, ich bin ein Engel ...“, beinahe
hätte sie – des Rates – gesagt, „des Herrn“, korrigierte sie
rechtzeitig. „Höre, was dir aufgetragen wird: Nimm die Deinen,
bündele deine Habe und ziehe fort, noch an diesem Tage. Der Herr
wird eine Flut schicken, womit die Welt reingewaschen wird. An dir
aber wurde kein Makel gefunden, darum sollst du errettet sein!“ Sie
drehte sich um und ging zur Tür hinaus, hinein in die Nacht.
„Ja,
so soll es sein“, sagte sie zu Philphil und Chrochro, „ich habe
es soeben in den Linien des Schicksals gesehen. Das gute Fleisch wird
gerettet, das verdorbene aber muss in den Fluten verrotten, damit
das, was rein ist, rein bleibt.“
„So
wird es sein“, bestätigte Chrochro. „Nun müssen wir das Volk
sich versammeln lassen und ihm und den Sklavenwächtern sagen, dass
man die Sklaven zusammentreiben und aus der Stadt bringen soll.“
„Wolltest
du nicht zuvor für ein paar Unruhen bei den Sklaven sorgen?“
„Inzwischen
kam mir ein besserer Plan in den Sinn. Es reicht, wenn behauptet
wird, es habe Unruhen gegeben.“
„Du
scheinst ja einiges bei den Menschen über Politik gelernt zu haben“,
bemerkte Philphil.
„Wir
passen uns an.“
Die
Alal von damals blickte nach innen und sah, wie die nahe Zukunft sich
abspielen sollte: Sie stand auf der Tribüne, neben ihr die Wache,
kräftige Kerle, bereit ihr Leben für sie zu opfern. Schweres
Geschmeide hatten ihr die Dienerinnen angelegt, Gold, Silber,
Edelsteine prangten üppig an ihrem Hals, umkränzen das Haar, das
ihr in dunklen Wellen über die Schultern strömte. Sie breitete die
Arme aus, das Volk jubelte seiner Gottkönigin zu. Schön war sie,
sagten sie sich, strahlend, geboren im Himmel, herabgestiegen zu den
Sterblichen, um sie mit Weisheit zu führen. Ihre gefärbten Lippen
würden sich tiefrot öffnen und an eine sterbende Abendsonne
erinnern. Sie hörte ihre eigene Stimme wie von Zauberkunst verstärkt
den ganzen Platz ausfüllen. „Geliebtes Volk, mein Alles, es wird
uns wehtun und unsere Herzen schwer machen. Ich stehe hier vor euch
und es fällt mir nicht leicht, aber wir müssen uns von den Sklaven
trennen ...“
„So
war das, Karen. Es wurde verkündet, die Sklaven müssten das Land
verlassen“, sagte Alice.
„Kam
dann das, was ich denke?“
Alice
nickte.
„Sozusagen
Massenmord!“
„So
traurig es klingen mag, es war der rettende chirurgische Schnitt. So
konnte die Menschheit überleben. Wir töteten die Sklaven. Nahe der
Stadt, in der sich die Ersten mit den Menschen vermischt hatten,
lösten wir ein Seebeben aus. Alle sind ertrunken. Wir haben unsere
Aufgabe erfüllt.“
„Die
Geschichte habe ich schon einmal gehört. Dort hat man es Sintflut
genannt.“
„Unsere
Handlungen auf der Erde haben Spuren hinterlassen, Sagen, Legenden.
Einige wurden von uns verbreitet, andere von den Menschen ins Leben
gerufen. Für Verzerrungen, die im Laufe der Zeit vieles verfälscht
haben, können wir nichts. Ich weiß, du sprichst von Noah, ein Mann,
den ich gewarnt hatte, bevor die Flut kam. Die Arche mit den Tieren
sollte lediglich bedeuten, dass alles Leben ab nun wieder eine Chance
hatte. Natürlich nur menschliches Leben.“
Karen
sprach: „Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der
Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie
wollten. So heißt es in der Bibel. Man sollte die Stelle
korrigieren:
Die
Geschöpfe der Europäer vermischten sich mit den Menschen. Wobei die
Menschen ja auch Europäer waren, nur degenerierte. Und die
gefallenen Engel, samt ihrer Mischlingsbrut, alle weg, ausgerottet!“
„Weg
– kann man nicht sagen. Ihre Seelen leben noch.“
„Und
sie kommen wieder auf die Erde.“
„Die
Sache war so“, erklärte Alice, „wir konnten die Seelen der
Ersten zu einem Planeten im energetischen Universum lenken. Ich rede
von dem Ort, den die meisten nach ihrem Ableben betreten. Dieser
Planet liegt im Gebiet der Enceladusaner. Sie halfen uns und haben
ihn mit einem Energiegürtel abgeriegelt. Somit waren die Ersten an
ein begrenztes Gebiet gefesselt. Bald darauf brachen die Beziehungen
zwischen uns und Enceladus ab. Offenbar hat sich Jahrtausende niemand
mehr für das Schicksal dieser Seelen interessiert. Und niemand weiß
so genau, wie sie es geschafft haben, in die Körper der Menschen
einzudringen. Trotz der energetischen Abriegelung ihres Planeten
haben sie einen Weg gefunden, mit dem Netz, das alles miteinander
verbindet, Kontakt aufzunehmen. Wir konnten nicht ahnen, dass sie
sich soweit entwickeln würden. Irgendetwas muss passiert sein, hat
sie stärker werden lassen.“
„Ich
verstehe“, sagte Karen, „ nicht das pure Chaos hat sich in der
Stadt und im Land breitgemacht, sondern es wird ein Plan ausgeführt.
Ein Racheplan. Weil sie als Sklaven dienen mussten, hassen die Ersten
die Menschen; mehr noch aber, verabscheuten sie die Bewohner Europas.
Der verspätete Aufstand der Unterdrückten bedroht nun die Erde. Die
Toten sind auferstanden, die Sklaven zerreißen ihre Ketten und
zahlen ihren Peinigern heim, was diese ihnen zugefügt haben. Ich
weiß nicht, wer die eigentlichen Bestien sind. Auf einmal fallen die
Götter von den Podesten.“
Blechdosen
rollten über die Straßen, zerknüllte Zeitungen flatterten wie
flügellahme Tauben über die Gehwege, dürre Birken am Straßenrand
zitterten mit den Ästen. Die mondlose Nacht hatte beinahe alles
Licht aufgefressen. Hie und da glimmte kraftlos eine Laterne, nicht
fähig, ein Ding in dieser erdrückenden Finsternis zu erhellen. Wer
aus dieser Gegend nicht geflüchtet war, verbarrikadierte sich in der
Wohnung und hoffte wider aller Vernunft auf eine bessere Welt.
Das
Licht der Scheinwerfer durchschnitt die Dunkelheit. Schatten huschten
als bizarre Scherenschnitte an den Häuserwänden entlang. Von
irgendwoher schrie jemand oder etwas, dann ertönte ein Heulen wie
von Wölfen, das bald in ein seltsames Jammern umschlug und als
Meckern endete. Min-Jee wusste: Sie waren hier, da draußen in
verlassenen Häusern, in den Garagen, jagten Katzen und brachen ihnen
die Knochen, bissen ihnen genussvoll ins Fleisch, tanzten wild,
rasend, immer im Kreise, verrenkten ihre Glieder, schnitten
Grimassen, wackelten mit den Hüften, verdrehten in düsterer Ekstase
die Augen. Dann wurden sie leiser, wurden zu Schatten, schwärzer als
die Nacht, wurden zum Rascheln der Blätter, jammerten wie der Wind.
Sie lauerten auf ein Opfer. Die Zähne wuchsen, die kräftigen Körper
beugten sich äffisch. Sie warfen die letzten Reste von Geist und
Zivilisation ab. Entsetzlich klang ihr Jaulen. Befreit von der Last
der Vernunft folgten sie ihren Instinkten.
Min-Jee
wollte sie sehen, ihnen ins Gesicht blicken. Wollte begreifen. Im
Wagen war sie sicher. Und sie war Min-Jee. Eine Min-Jee konnte auf
sich selbst aufpassen! Stille – nur der Elektromotor summte. Die
Ortschaft war leer gefegt, nirgendwo eine Menschenseele. Etwas
Seltsames lag in der Luft, ein Friede, der auf Anhieb als trügerisch
zu erkennen war, der nach Tod und Verderben roch. War dort etwas
gewesen? Sie hielt an. Da war doch was! Vorsichtig kurbelte sie die
Seitenscheibe herunter. Eine Stimme, eine menschliche Stimme. Sie sah
sich um. Da lag eine Gestalt auf dem Gehweg, zusammengekrümmt. Sie
wimmerte. Ein schwacher Ruf: Hilfe. Kaum hörbar. Dann ein Wort:
Überfall. Anschließend weiteres Gewimmer, Schluchzen. Es schien
eine Frau zu sein. Sie konnte ihre Gedanken nicht lesen, sie hatte
eventuell vor Schmerzen keine mehr. Min-Jee stieg aus, wollte nach
dem heulenden Bündel sehen. Blitzschnell sprang das vermeintliche
Opfer eines Überfalls auf und rannte los. Eine Falle! Es war fast zu
offensichtlich, aber das Mitgefühl mit der Frau hatte ihr
Urteilsvermögen getrübt.
Sie
kamen! Lösten sich von den Wänden, sprangen hinter Ecken hervor,
krochen aus finsteren Winkeln … Mit einem Male standen sie überall.
Die Gesichter vom Hass verzerrt, so hüpften sie hin und her. Sie
rannten auf sie zu, schon sah sie sich umzingelt. Die Kuckucke
schrien, sabberten und jaulten vor Mordlust. Ich bin Min-Jee, sagte
sie sich, erhob die Arme und tat das, was niemand so gut konnte wie
sie. Ihre Haare streckten sich aufwärts, Funken sprühten aus ihnen
heraus. Die Luft knisterte. Ihre Finger schossen Blitze ab. Es wurde
hell. Feuerschlangen ringelten sich um die Leiber der Kuckucke,
unzählige Volt ließen sie zappeln und zu Boden sinken, bis die
Schreie von Wut und Schmerzen verstummt waren. Brandgeruch, bitter
und süßlich, stieg von den toten Körpern auf. Ein Knacken. Min-Jee
drehte sich um. Sie bekam einen Kopf zu fassen. Eine Frau, ein
Kuckuck. Sie mäßigte sich, wollte den Kuckuck nicht töten. Hier
lagen schon genug Leichen herum. Sie versetzte der Frau einen
leichten, aber spürbaren Stromschlag. Dann geschah das
Unvorstellbare: Die tierischen Züge verschwanden vom Gesicht der
Fremden und wichen einem menschlichen Ausdruck. „Was ist los?“,
fragte sie überrascht und starrte dabei Min-Jee an. „Ich bin da,
oder? Es ist fort, einfach weg, es hat hier gelebt, in meinem Kopf.
Ich war tot, nein, schlimmer als das. Es lebte, hat mir alles
geraubt, dieses Ding in mir. Aber es ist vorbei, endlich!“
Min-Jee
begriff: Sie hatte die Lösung gefunden, rein zufällig. Strom direkt
durch den Kopf geschickt verursachte bei den Ersten etwas. Sie
verließen den menschlichen Körper. Man würde niemanden töten
müssen, alle Menschen konnten am Leben bleiben. Sie musste sofort
jemanden davon berichten. Eine Art von Elektroschocktherapie würde
alles ändern!
Eine
Eisenstange durchbohrte sie von hinten. Kuckucke waren flink. Der
hohe Energieverbrauch und die überraschende Entdeckung hatten sie
unachtsam werden lassen. Einen musste sie übersehen haben, einen
dieser schrecklichen Kuckucke! Min-Jee zuckte. Der Körper, die Welt,
alles entfernte sich, wurde blass. Sie fiel, fiel, fiel – den
Aufschlag spürte sie nicht mehr.
Andy
war überall durchgelaufen, etliche Male schon, hatte sämtliche
Ecken und Winkel aufgespürt. Er kannte alle Büros,
Umkleidebereiche, Duschen und Besenkammern bis in die letzten Ritzen
hinein. Ihm wurde klar, dass es vor allen Dingen die langen
verwinkelten Gänge waren, die dem Täter einen idealen Platz bieten
könnten, um unentdeckt sein schreckliches Handwerk auszuführen.
Viele Gemeinsamkeiten gab es zwischen den beiden Toten nicht, außer
dass sie zu Lebzeiten hier gearbeitet hatten. Sollte es die Absicht
der Ersten gewesen sein, Angst in die Truppe zu bringen, war es ihnen
gelungen. Die Frage lautete: Hatten sie selber die Mannschaft
unterwandert oder verfügten sie über menschliche Helfer? Es schien
kaum möglich, die Ersten aufzuspüren; sie konnten ihre Gedanken
abschirmen, indem sie die verbliebenen Persönlichkeitsanteilteile
ihrer Wirte als Tarnung benutzten. Man würde Kameras anbringen,
zuerst an den wichtigsten Stellen. Auch Wachposten sollten ab nun
durch das Gebäude patrouillieren. Das Risiko ermordet zu werden,
würde bleiben.
Es
klopfte an der Tür des mickrigen Büros, das man ihm zugewiesen
hatte. Ein bulliger Kerl mit leichtem Speckansatz, dessen kurz
geschorener Kopf halslos auf dem Körper saß, trat ein und grüßte
zackig.
„Setzen
Sie sich bitte Feldwebel Wasserkopp. Es hat sich ja mittlerweile
herumgesprochen, dass ich kein einfacher Soldat bin, sondern einen
speziellen Auftrag habe.“
„Ich
weiß Bescheid, ich weiß, worum es geht. Ich hoffe, Sie werden
Erfolg haben. Es ist eine fürchterliche Sache“, murmelte Feldwebel
Heinz Wasserkopp.
Andy
beugte sich vor. „Sie kennen Ihre Leute bestimmt recht gut, Sie
stellen Teams zusammen, Sie sind an vorderster Front mit dabei.
Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Ihnen etwas aufgefallen ist,
eventuell bei jemanden in Ihrer Truppe?“
Heinz
Wasserkopp besann sich kurz. „Nein, ich weiß, was Sie meinen, aber
ich habe da nichts zu berichten. Ich halte meine Augen immer offen.
Natürlich sind alle besorgt wegen der Vorkommnisse. Unser Job ist
schon hart genug. Und jetzt auch noch so was!“
„Und
es besteht der Verdacht, dass es sich nicht etwa um einen Irren
handelt, der hier sein krankes Unwesen treibt, sondern um einen oder
mehrere Kuckucke.“
Heinz
Wasserkopp wurde lebhaft. „Das habe ich vermutet, schon lange,
schon bevor diese Sache passiert ist, kam es mir vor, als hätten die
uns unterwandert.“
Andy
spitzte die Ohren. „Hatten Sie irgendwelche Hinweise dafür?“
„Gewiss“,
sagte der Feldwebel, „ich meine nicht wirklich, verstehn Sie? Aber
dennoch. Keine Hinweise logischer Natur, keine harten Fakten, aber
ich hatte so ein Gespür, einen Instinkt.“
„So,
Ihr Instinkt. Sie haben sich, soviel ich weiß, nicht infizieren
lassen.“
„Aber
das kann man mir nicht negativ anrechnen, auch einfache Menschen
haben ihre Ahnungen. Sie wissen ja, unser bewusster Verstand
übersieht so einiges. Ich habe ein Gespür, wenn etwas nicht stimmt.
Gut, es müssen nicht die Kuckucke sein, die sich eingeschleust
haben. Sympathisanten vielleicht, oder sie haben Menschen gekauft.
Manche machen ja für Geld alles. Kann auch sein, es wurden welche
erpresst. Man muss ja mit allem rechnen, nicht wahr?“
„Gut,
wenn Sie einen konkreten Hinweis haben sollten ...“
„Dann
melde ich mich, selbstverständlich.“
„Ich
bedanke mich für Ihre Mitarbeit. Halten Sie weiterhin die Augen
offen“, sagte Andy.
Feldwebel
Heinz Wasserkopp
verabschiedete sich. Irgendwie hatte Andy sich in Gegenwart des
Feldwebels unbehaglich gefühlt. Er mochte dieses übertrieben
Soldatische nicht. Aber offenbar waren solche Charaktere notwendig,
zumindest so lange, wie gekämpft wurde.
Andy
lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er wurde für diese
Aufgabe auch wegen seiner Talente und seiner Schulung bei Min-Jee
ausgesucht. Sein Körper sank in den Sessel ein. Seine Muskeln ließen
Spannung los, tief und ruhig atmete er. Fallen, tiefer und tiefer –
oder stieg er aufwärts? Er kam ihr nahe, der Wand, durch die er
hindurchmusste. Sie besaß keine Substanz, war vielmehr die
Abwesenheit von allem, ein Moment der Ohnmacht, der Finsternis.
Nichts. Und selbst dieses Nichts löste sich auf. Dahinter lag die
Welt der gedankenschnellen Reisen. Sein Astralkörper, erst nicht zu
unterscheiden vom Körper aus Knochen und Fleisch, schwebte der Decke
entgegen. Er war drüben, war in der Welt feinster Materie angelangt.
Auch vermochte er von der Welt des Feinen aus, bis in die Welt des
Groben hineinzublicken. Gab man dabei nicht acht, konnte es einen
fortreißen, tief in das Reich energetischer Strukturen schleudern,
in den sogenannten Astralraum. Der Kontakt mit der stofflichen Welt
musste zumindest über das Sehen aufrechterhalten werden, nur so
konnte er das Gebäude untersuchen. Leicht glitt er durch eine Wand
des Büros, schwebte unsichtbar den Flur entlang. Er hätte gut Lust
gehabt aufzusteigen, bis übers Dach hinaus, in den Himmel hinein, wo
er wie ein Vogel die Landschaft hätte unter sich erblicken können.
All die Felder, Seen, Menschen, Wiesen voller wogenden Sonnenblumen,
überall Farben, die ineinanderflossen wie bunte Nebel, getrieben vom
Atem des Windes. Er schob diesen Wunsch beiseite und richtete seinen
Geist auf das Notwendige, obwohl andere Welten stark an seinem Herzen
zogen. Beinah hätte dieses sich Sehnen nach der Weite ihn
fortgerissen. Aber mochten sich auch woanders wundersame Länder
auffächern, jetzt war nicht die Zeit dafür. Ich muss hierbleiben,
sagte er sich, meinen Job erledigen. Er lief schwerelos durch die
Büros und beobachtete die Leute bei der Arbeit. Er schnüffelte
herum; eine Indiskretion, die Leben retten könnte. Nichts
Verdächtiges! Die Aufenthaltsräume waren mäßig besetzt. Auch hier
fiel ihm nichts auf. Nun folge der Höhepunkt der Verletzung von
Persönlichkeitsrechten: die Inspektion der Duschräume und
Toiletten. Er stellte sich vor, er wäre kein Mensch, sondern eine
Kamera, eine Drohne, die emotionslos durch das Gebäude flog. Im
Duschraum regte sich nichts, alles leer. Er ging durch die Wand, zu
den Toiletten. Vor einem der Waschbecken sah er das Unheil. Das hatte
er nicht gesucht und auch nicht finden wollen. Ein junger Mann in
Uniform, alle viere von sich gestreckt, lag bewegungslos auf dem
Steinboden. Er spürte kein Leben in ihm.
Wieder
in seinem Körper griff Andy zum Smartphone. „Alice? Hier Andy. Ich
habe eine schlechte Nachricht.“
Laura
schaute zu ihrer Mutter hinüber, die den monotonen Sätzen des
Nachrichtensprechers lauschte: „Die UN ließen verlautbaren, man
sei auf der Erde dem Ziel des vollkommenen Friedens wieder ein Stück
näher gerückt. So gebe es momentan keine Kriege zwischen einzelnen
Staaten. Die bewaffneten Konflikte zwischen nicht staatlichen
Gruppierungen seien stark zurückgegangen. Eine Ausnahme bilde die
Republik Tansania, wo es zwischen den einzelnen Rebellengruppen immer
wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen komme.
Berlin:
Kanzler Alchinger kündigte staatliche Unterstützung für die
Roboterindustrie an und lobte die Zusammenarbeit mit den Experten vom
Mond Europa auf diesem Gebiet.
Laut
einer Mitteilung der Berliner Polizei, sei es wieder zu Übergriffen
der Bürgerwehr Freies Deutschland gekommen. Zwei junge Männer seien
ohne Vorwarnung von den Aggressoren angegriffen worden. Diese
rechtfertigten sich damit, man habe die beiden für sogenannte
Kuckucke gehalten. Nach eingehender Untersuchung wurde festgestellt,
dass es sich bei den Männern zweifelsfrei um Menschen handelte. Die
Opfer mussten sich in medizinische Behandlung begeben und befinden
sich zurzeit auf dem Weg der Besserung. Gegen die Mitglieder der
Bürgerwehr habe die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben.“
„Mama,
wo leben die Kuckucke eigentlich?“, wollte Laura wissen.
Ihre
Mutter blickte vom Bildschirm auf. „Das ist kompliziert. Wir reden
ein andermal drüber, ja?“
„Gut.
Ich möchte jetzt zu Lahama.“
„Lahama?“
„Ich
habe dir von ihr erzählt. Sie ist tagsüber immer allein. Sie wird
sich freuen. Es gibt da diesen kleinen Rummelplatz, da wollte ich mit
ihr hin.“
„Wie
alt ist sie denn?“
„Sie
ist sechs.“
„Weiß
ihre Mutter Bescheid?“
„Ich
habe mit ihr gesprochen. Sie hat es erlaubt, für drei Stunden.“
„Gut,
aber sei vorsichtig, du hast die Verantwortung für die Kleine. Und
viel Spaß.“
„Ja,
ich passe auf“, sagte Laura und wollte voller Freude aus dem Haus
rennen.
„Halt,
warte. Nimm dir die rosafarbene Kreditkarte aus meiner Tasche!“
„Danke,
du bist die Beste“, sagte Laura, küsste ihre Mutter auf die Wange,
nahm die Kreditkarte und hüpfte davon.
Musik
quäkte aus einem Leierkasten, Kinder knabberten an kandierten Äpfeln
und es roch überall nach gebrannten Mandeln. Eine Gruppe Männer
schimpfte und lachte abwechselnd; sie hingen am Schießstand herum,
in den Händen hielten sie Luftgewehre, allesamt so justiert, dass
sie mit größtmöglicher Präzision das ins Auge gefasste Ziel
verfehlen mussten. Wie verrückt schüttelte man an den Würfelbuden
die Becher und knallte sie kraftvoll auf die Tische. Kinder zogen
ihre Eltern mal dahin, mal dorthin. Sie entdecken immer neue
Verlockungen. Was für die Erwachsenen harmloser Spaß war, kam für
die Kinder einem Blick ins Paradies gleich, und eine gewonnene
Plastikfigur am Losstand, erschien ihnen als unermesslicher Reichtum.
Lahama
blieb vor dem Riesenrad stehen.
„Lieber
nicht“, sagte Laura, „ich habe kein gutes Gefühl. Seien wir
lieber vorsichtig. Ein Riesenrad ist ziemlich groß, du dagegen bist
noch recht klein. Du warst ja auch schon auf dem Kinderkarussell. Wie
wär's mit Zuckerwatte?“
„Ja,
ja bitte Zuckerwatte!“
„Welche
Farbe?“
„Blaue!“
Laura
bestellte zweimal Zuckerwatte.
„Danke,
du bist die beste große Freundin, die es gibt!“
Mit
der Zuckerwatte in der Hand ging es weiter zur Losbude. Nach den
ersten drei Nieten gewann Lahama eine Rolle Drops. Sorgfältig
verstaute sie die Bonbons in ihrer Jackentasche, als wäre die
Nascherei ein Goldschatz. Sie strahlte übers Gesicht.
Laura
freute sich, die Kleine war für diesen Augenblick glücklich.
Berauscht vom Jetzt konnte sie den Tod ihres Vaters vergessen.
Liebevoll tätschelte sie ihr den Kopf. „Ich passe auf dich auf“,
sagte Laura. Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte.
Lahama
blickte zu ihr auf. „Ja, du gibst auf mich acht.“.
Als
sie zur Bushaltestelle liefen, glänzte die Welt unter einem
wolkenfreien Himmel. Das heitere Treiben des Rummelplatzes wirkte in
Lahama fort. Sie lächelte und lutschte Drops. Unmittelbar neben
ihnen hielt ein Auto, Männer sprangen heraus, sie hielten Waffen in
den Händen. Laura registrierte, dass sie die bekannten Uniformen
trugen, die gleichen, wie sie ihre Mutter für die Arbeit anzog.
Deswegen nickte sie ihnen freundlich zu und nahm sie nicht als
Bedrohung wahr.
Einer
der Männer zeigte auf Lahama, er sagte ihr, sie solle zu ihm kommen.
Sie schrie markerschütternd und rannte davon, so schnell sie nur
konnte. Kurz darauf ging sie zu Boden. Laura sah einen Mann mit einem
Gewehr im Anschlag. Sein Gesicht war hart, den Augen schimmerte
abgrundtiefer Hass. Er hatte abgedrückt. Lahama wurde vom lautlosen
Strahl seiner Waffe niedergestreckt.
„Sie
war doch noch viel zu jung!“, rief ein anderer Uniformierter.
„Sie
wird's schon wegstecken. Gefährlich sind sie alle. Auch die Kleinen.
Die wär uns doch entkommen, so schnell, wie die losgewetzt ist!“
Laura
lief zu ihrer Freundin. Sie beugte sich über den reglosen Körper
und sah in ihn hinein. Das Herz stand still, Lahama atmete nicht
mehr. Die Hände – sagte sich Laura, ich muss meine Hände unter
Strom setzen. Sie berührte Lahamas Brustkorb und schoss Stromimpulse
in ihn hinein. Ein roher Kerl riss sie von der Kleinen fort. „Weg
hier Mädel, störe uns nicht bei der Arbeit!“, blökte er.
Trauer,
Wut und Verzweiflung stiegen in ihr auf, und noch etwas, etwas Neues,
was sie bis heute nie gespürt hatte. Es war der Hass! „Büßen
werdet ihr das, büßen!“, schrie sie, dann fügte sie hinzu:
„Meine Mutter ist Major!“
Man
ließ sie links liegen und schleppte Lahamas schlaffen Körper zum
Wagen. Laura schaute dem fortfahrenden Auto nach, fassungslos. Sie
weinte, sie ballte die Fäuste. Als der Bus kam, stieg sie ein.
Zitternd
schloss Laura die Tür auf und rannte in das Arbeitszimmer ihrer
Mutter. Sie saß am Schreibtisch, erledigte irgendwelche Post. Erst
sprudelte alles durcheinander aus Lauras Mund heraus. Bald begannen
die Worte, sich zu ordnen und Sinn zu ergeben. „Verdammt“, schrie
sie ihre Mutter an, „es war nicht irgendwer, sondern deine Leute,
bewaffnet, bösartig. Sie haben sie abgeknallt wie ein Tier!“ Und
Tränen liefen ihr aus den Augen, sie schluchzte.
„Es
ist eigentlich verboten, auf so kleine Kinder zu schießen. Sie
vertragen die Schockgewehre noch nicht. Erwachsene erholen sich davon
immer.“
„Höre
ich recht, weißt du, was du da sagst, Mutter? Das hört sich an wie
eine Rechtfertigung. Als wäre im Grunde genommen alles in Ordnung.
Es ist nur ein kleiner Fehler bei der Menschenhatz gemacht worden!“
„Entschuldige,
so habe ich das nicht gemeint. Es ist schrecklich, das hätte nicht
passieren dürfen.“
„Es
ist aber passiert. Ich hatte die Verantwortung. Ich habe es ihrer
Mutter versprochen. Und jetzt ist die Kleine vielleicht tot. Wie soll
ich damit leben, verdammt?“
„In
diesem Fall hattest du nicht die Verantwortung, was geschehen ist,
konntest du nicht ändern, es war stärker als du. Ich bin
verantwortlich dafür, ich.“
„War
sie wirklich eine von denen?“
„Von
den Ersten? Offenbar. Die Kinder von ihnen haben nicht den Körper
eines Menschen geraubt, sie kamen hier normal zur Welt. Sie sind
unschuldig. Man ist aber vorsichtig, darum fängt man auch Kinder
ein. Ich werde herausfinden, wo sie ist, falls sie … Du hattest
eine Beziehung zu ihr. Spürst du etwas, wenn du in dein Herz schaust
und an sie denkst?“
Laura
schloss die Augen, ließ innerlich das Bild Lahamas lebendig werden.
Es rauschte und es war ihr so, als presste man sie durch einen
Schlauch. Nun fühlte sie die Kleine, war in ihr, verschmolz mit ihr.
Der Körper schmerzte. Sie lag irgendwo. Ein Zimmer, die Wände
trostlos weiß. Der Geruch von Alkohol und Chlor. Eine Nadel im Arm.
Leinene Bettwäsche. Angst. Laura öffnete die Augen. „Es geht ihr
gut. Ich meine, sie lebt. Offenbar liegt sie in einem Krankenhaus.
Nach dem Schuss, der Storm aus meinen Händen, er hat sie
wiederbelebt.“
„Dann
hast du richtig gehandelt und dich um sie so gut gekümmert, wie du
konntest. Ich weiß, wo sie liegt. Dort bringt man die Kinder hin.“
„Wie
soll ich es ihrer Mutter sagen, zumal sie eine Erste ist?“
„Besser
ich sage es ihr.“
„Deine
Leute nehmen sie nicht gefangen?“
Ihre
Mutter schüttelte den Kopf.
Alice
lief ein Stück die Straße entlang. Sie blieb vor dem Haus stehen,
an das sie etliche Male vorbeigekommen war, ohne zu ahnen, dass eine
der Ersten mit ihrer Tochter darin wohnte. Sie läutete. Nichts. Die
Frau spürte gewiss, eine wie sie, eine vom Mond Europa stand vor der
Tür – der Feind! „Bitte machen sie auf, ich bin alleine, Sie
haben nichts zu befürchten. Es ist wichtig. Es geht um Ihre Tochter.
Ich bin Lauras Mutter!“
Schritte.
Ein Schlüssel wurde umgedreht. Die Tür ging auf, langsam, erst
einen Spalt, dann weiter, bis sie offen stand.
„Was
gibt es?“, fragte die Frau knapp mit gespielter Interesselosigkeit.
Alice
atmete tief durch, dann nochmals. Das erste Wort wollte nicht recht
kommen, es blieb im Hals stecken. Nach langen Sekunden begann sie
flüsternd zu reden. „Es ist etwas passiert. Ihre Tochter, sie
haben sie. Eine Routinekontrolle auf der Straße.“
„Wie
bitte? Bitte sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist.“
„Ich
würde das nur zu gerne tun, wenn ich könnte. Ich kann es leider
nicht.“
„Meine
Güte, meine Lahama ist mein Ein und Alles. Warum habe ich sie nur
Ihrer Tochter anvertraut?“
„Sie
konnte nichts dafür. Wie hätte sie die Kontrolleure der
Spezialeinheit aufhalten können? Mehrere bewaffnete Männer? Niemand
kann etwas dafür. Sie nicht und meine Tochter nicht. Der Kleinen
geht es soweit gut. Soviel wie ich weiß, liegt sie in einem
Krankenhaus. Nichts Ernstes, ein kleiner Schock.“
Die
Frau weinte drauflos, atmete heftig und gepresst, als würde ihr
jemand den Hals zudrücken.
„Hören
Sie, ich kann Ihnen helfen“, versprach Alice.
„Diese
verdammten Menschen und diese verdammten Europamonster, sie haben mir
alles genommen. Es waren Leute wie Sie, die sie geholt haben. Warum
sollten Sie mir helfen wollen?“
„Ich
helfe Ihnen, weil ich verantwortlich bin.“
„Ach,
lassen Sie das. Sie haben selber gesagt, dass niemand was dafürkann.“
„Fast
niemand, ich bin die Ausnahme. Ich komme mir nicht besonders prima
vor, wenn ich Ihnen hier in die Augen sehen muss. Ich fühle mich
beschissen. Ich bin die Vorgesetzte der Leute, die auf ihre Tochter …
ich meine, die ihre Tochter eingefangen haben. Ja, ich muss es Ihnen
wohl sagen, sie haben geschossen, mit einer Schockwaffe. Das ist
verboten, keine Frage, bei Kindern verboten. Aber ich kann nicht
alles kontrollieren. Solche Dinge dürften nicht vorkommen, sie
kommen aber vor. Es gibt da eine Hierarchie, ich stehe ziemlich weit
oben. Wir kämpfen gegen die Ersten. Hauptsächlich gegen solche, die
gefährlich sind, die töten. Wir greifen uns auch die Unschuldigen,
ebenso die Kinder, weil sie irgendwann gefährlich werden könnten.
Wir wollen sie loswerden. Reden wir Klartext. Alle Ersten müssen
irgendwie weg. Sie haben unseren Plan kaputtgemacht, den schönen
Plan von einer friedlichen Erde. Wir wissen nicht recht, was die
Ersten gegen uns haben, wir sind ihre Eltern, wir haben sie
erschaffen. Gewiss, als wir merkten, dass sie überflüssig wurden,
haben wir sie versklavt, aber das wissen Sie wahrscheinlich. Das ist
lange her, sehr lange. Es ist vorbei, Vergangenheit. Wir waren
Götter, Ihre Leute waren unsere Kreaturen. Aber nun können wir neu
anfangen. Bitte vertrauen Sie mir. Ich kann Ihrer Tochter helfen!“
„Habe
ich eine andere Wahl?“
„Hören
Sie, man hat Ihre Tochter, man wird sie befragen, man wird
hierherkommen. Können Sie irgendwo untertauchen?“
„Eventuell
bei den wilden Gruppen. Sie wissen schon, die in der Dunkelheit
zuschlagen. Obwohl, das ist nicht so ganz meine Art. Im Moment
allerdings …“
„Ich
werde mich um alles kümmern. Sie müssen hier weg, so rasch wie
möglich.“
Karen
fragte sich, wer um diese Stunde noch klingeln würde. An der Tür
standen zwei Frauen: Alice und eine Fremde. Sie trugen Tüten und
Taschen bei sich.
„Das
ist ja eine Überraschung“, sagte Karen.
„Die
Überraschung kommt erst noch.“ Alice zeigte auf ihre Begleiterin.
„Das ist Isabell, deine neue Untermieterin.“
„Oh,
ich sehe schon, sie will gleich einziehen. Schön, dass ich darüber
informiert werde.“
„Ein
Notfall, sie muss kurz untertauchen. Sie sind ihr auf den Fersen.“
„Kommt
erst mal rein. Wer verfolgt hier also wen?“
„Meine
Leute verfolgen sie. Ja sie ist eine von den Ersten. Keine Bange, sie
gehört nicht zu den Schlimmen, die in der Dunkelheit ihr Unwesen
treiben. Sie haben ihre Tochter, ihre kleine Tochter. Ich versuche,
zu helfen.“
„Okay
verstehe, du versuchst zu helfen. Gut soll sie einziehen. Ein Zimmer
ist wieso frei, seit …“
„Vielen
Dank“, sagte Isabell, „um ehrlich zu sein, habe ich nicht so viel
Hilfsbereitschaft erwartet, nicht von Leuten wie …“
„Wie
wir?“, unterbrach Karen.
„Nun,
ich bin das, was man einen Kuckuck nennt. Für mich und meine Leute
ist es in der Regel klar, wer der Feind ist. Wir wurden lange genug
unterdrückt, ausgebeutet und getötet.“
„Geschichte
wiederholt sich oft, aber nicht zwangsläufig“, meinte Karen.
„Gut“,
sagte Alice, „wie ich sehe, versteht ihr euch. Ich geh dann mal.
Ich ruf morgen an. Und sei nett zu Isabell Karen, friss sie nicht
auf!“
„Keine
Sorge, ich werde mich unter Kontrolle halten.“
„Na
bitte, das ist doch ein Anfang. Dann lasse ich euch mal alleine.
Macht's gut!“, sagte Alice und verschwand.
„So,
nun wären wir unter uns. Wie wär's mit einem Tee?“
Die
Erste nickte. „Tee ist gut.“
Karen
ging in die Küche, setzte Wasser auf, stellte das Teegeschirr
zurecht, maß den Tee ab und bereitete das aromatische Getränk zu.
Wieder im Wohnzimmer stellte sie Kanne und Tassen auf den Tisch. Sie
fragte ihren Gast, ob sie sie Isabell nennen dürfe. Dabei überlegte
sie sich, ob diese Isabell den Namen von ihrem Opfer, dessen Körper
sie geraubt, einfach übernommen hatte.
„Klar,
sage Isabell zu mir“, meinte die Erste und setzte die Teetasse an
ihre Lippen. „Schmeckt gut, sehr gut.“
Karen
fühlte sich unbehaglich. Sie saß hier mit einem Kuckuck zusammen
und trank mit ihm Tee. Ein Kuckuck war letztlich eine Art von
Ungeheuer. In der Ektase des Blutrausches zerfleischten sie Menschen.
Es sollte ja auch Angepasste unter ihnen geben, auserkoren, die
menschliche Gesellschaft zu unterwandern. Sie alle aber waren Mörder,
wenn auch zuweilen die Körper ihrer Opfer noch lebten, weil sie in
ihnen wohnten. Offenbar vertraute Alice dieser Isabell. Letztendlich
aber war es doch so, als hätte man einen Tiger im Haus, einen
womöglich gezähmten, aber Raubtier blieb Raubtier. „Tja Isabell“,
begann Karen, „ich kenne dich ja kaum, eigentlich überhaupt nicht.
Deine Gedanken kann ich auch nicht lesen. Eure Art ist schwer zu
lesen für uns, uns Infizierte. Ich will nur sagen, ich fühle mich
unbehaglich neben dir. Du bist eine von den Ersten. Der Feind
sozusagen. Täglich kommt es in den Nachrichten, dass Menschen
getötet werden von wilden Horden, die sich bei Sonnenuntergang
treffen.“
„Ich
gehöre nicht zu diesen Radikalen. Die Nachrichten haben ihre
Schwerpunkte. Sie zeigen nicht, wie sie uns jagen, deportieren oder
auf unsere Kinder mit Schockwaffen schießen, wie sie es mit meiner
Tochter getan haben. Sterben hätte sie dabei können. Jetzt liegt
sie verletzt, irgendwo wo sie die Kinder hinbringen. Was eigentlich
passieren soll mit denen, die sie einfangen und mit den Kindern, das
weiß man nicht. Sie selbst wissen es wohl noch nicht.“
„Andererseits
muss man das verstehen, ich meine nicht das mit den Kindern, aber die
verrückten Horden sind eine Bedrohung. Mithilfe der Europabewohner
und der Enceladusaner haben wir es geschafft, dass es kaum noch
Kriege gibt. Und jetzt das. Die Ersten, sie schlachten uns regelrecht
ab, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Gewiss, ich weiß schon,
es hat die Sklaverei gegeben und die Sintflut.“
„Die
Sintflut. Eine schöne Umschreibung für Völkermord. Oder sollte man
bei uns lieber von Artenausrottung reden?“
„Man
musste das Opfer einiger in Kauf nehmen, um viele andere zu retten.“
„Das
Opfer einiger? Die Flut kam und tötete unzählige der Ersten, der
Mischlinge und ich vermute auch der Menschen, die man nicht mehr
rechtzeitig warnen konnte. An anderen Orten hat man die Sklaven
getötet, alles Erste. Von da an mussten sich die Menschen
gegenseitig versklaven. Wir blieben verschwunden, ermordet von den
Göttern, den Engeln, den Gottkönigen von Europa. Unsere Seelen
wurden von den Enceladusanern zu einem der energetischen Planeten
gelenkt. Ein Schutzwall wurde gezogen, damit wir nicht entkommen
konnten. So lebten wir als Gefangene auf diesem verdammten Planeten.
Irgendwann haben wir es ja doch noch geschafft und entdeckten einen
Weg zurück zur Erde. Zuerst war es ein indirekter Weg, wir konnten
von unserem Gefängnis aus in Kontakt mit Menschen treten. Wenn wir
uns auf ihre Seelen einstimmten, erschienen wir ihnen als innere
Stimme. Während der Gefangenschaft sind unsere telepathischen
Fähigkeiten gewachsen.“
Die
Stimmen der Dämonen dachte Karen, welche die Menschen in Versuchung
führen, damit sie vom wahren Glauben abweichen. „Und was habt ihr
ihnen gesagt?“
Isabell
nahm einen Schluck Tee. „Wir erinnerten sie daran, dass ihre Götter
nicht so fehlerfrei Und die Stimme des einen Gottes, die so manche
Propheten glühend verkündet hatten, war ja nichts weiter als die
Stimme der Monster von Europa. Gewiss wollten sich die Menschen frei
entwickeln, aber immer wieder wurden sie Opfer der Propaganda ihrer
Geschwister vom Eismond.“
„Vielleicht
hätten wir uns ohne sie längst gegenseitig ausgerottet. Sie haben
uns geführt. Wir waren wie Kinder“, warf Karen ein.
„Mit
jedem Feuer, das sie löschten, entzündeten sie zwei neue. Auf
Enceladus hat man das erkannt. Deswegen ist es ja auch zu Spannungen
zwischen den Eismonden gekommen. Man wollte euch eine Harmonie
aufzwingen, die nicht mehr zu euch passte, nachdem ihr in den
Entwicklungsstrom der Erde eingetaucht ward. Die Engel von Europa
hielten euch nicht mehr für rein genug. Ihr habt nach Sünde
gestunken. Ihr wolltet euch vor ihnen mit Buße und Kasteiung
säubern, aber je mehr ihr eure Seelen poliert habt, umso verrückter
wurden eure Gedanken. Die Waffen erhoben, habt ihr euch in Heilige
Kriege gestürzt. Auf Europa dagegen herrschte Friede. Ihr wart und
seid keine Engel. Irgendwann ist es euch gelungen, Verstand und
Gefühl in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. Damit wurde euer
Geist für das Infizieren aufnahmefähig. Ihr solltet werden wir sie,
aber ihr seid nicht sie. Wir dagegen wollten euch aufrütteln, die
Freiheit einflüstern, damit ihr euch erhebt und den Himmel
verflucht. Euer Himmel war nichts weiter als ein kalter Mond bewohnt
von überheblichen Egomanen, die ihre Absichten mit einer
spirituellen Ideologie verkleistern. Zwar wurden wir als Sklaven
missbraucht, aber wir haben euch das verziehen, also fast zumindest.
Na ja, vielleicht nicht wirklich. Aber euch trifft nur die halbe
Schuld. Immerhin haben die Fischgesichter von Europa euch das Böse
eingetrichtert. Und nun? Nun unterscheidet ihr euch kaum noch von
ihnen.“
„Vermutlich
werdet ihr immer besser, was die Telepathie betrifft“, meinte
Karen. Kein Wunder also – sagte sie sich –, dass die Geschichte
der Menschheit so wirr verlaufen ist. Neben der Fürsorge der
Europäer hatte es auch die Einflüsterungen der Ersten gegeben. Da
musste die Menschheit ja irre werden!
Isabell
sagte: „Gewiss, wir machten Fortschritte und konnten bei euch etwas
auslösen, was die Menschen Besessenheit nennen. Götter, Dämonen,
Geister, Teufel oder ein diffuses Gefühl, du weißt, was ich meine.
Natürlich muss die Bereitschaft eines Menschen dafür vorhanden
sein. Manche kamen uns willig entgegen, sie übten sich in Ritualen,
um uns zu begrüßen. Hexen und Magier nannten die sich. Dann war es
soweit, sie kam: die erste der Ersten.“
„Die
erste der Ersten?“
„Die
Erste, die einen menschlichen Körper plus Erinnerungen übernehmen
konnte. Sie hat den Durchbruch geschafft, scharrte Schüler um sich,
menschliche Schüler, zuerst in magischen Zirkeln, dann kamen weitere
hinzu, nachdem sie esoterische Bücher veröffentlicht hatte. In
ihren Schriften ging es um den Kontakt mit höheren Wesen. Gemeint
war der Kontakt zu uns. Es hat funktioniert, die Menschen haben sich
geöffnet, wir konnten mit vielen von ihnen sprechen. Wenn ihr Geist
offen war, kam es zur Übernahme. Wir drangen in sie ein. So war es
uns möglich, zurückzukehren.“
„Das
nenne ich eine tolle Belohnung für eure Anhänger, dass ihr ihnen
ihr Leben geraubt habt!“
„Man
muss die Sache so sehen“, erklärte Isabell, „ursprünglich waren
unsere Körper für die Menschen gedacht, als sie noch gar keine
Menschen waren, sondern Fremde, die in diesem Sonnensystem gestrandet
sind. Wir waren Testläufe für ihre künftigen Mutationen, damit sie
sich den Bedingungen des Planeten reibungslos anpassen konnten. Dann
ist alles anders gekommen und, wie ich hörte, wurde infolge
bevorzugt an Affen geforscht. Damit waren wir nutzlos. Als Sklaven
haben wir auch nicht viel getaugt. Man hat uns getötet, alle. Wir
haben uns das Recht genommen, wieder körperlich zu leben, hier auf
der Erde.“
„Das
Recht der einen setzt zuweilen das Recht der anderen außer Kraft.“
„Allerdings,
leider“, gab Isabell zu, „der Trieb der Seele sich in die Materie
zu stürzen, und sich zu verkörpern ist stark. Wenn Seelen nicht im
Körper sind, müssen sie reisen, die astralen Welten erkunden. Uns
aber hat man gefangen gehalten. Beide Welten wurden uns verwehrt, die
geistige und die stoffliche. Gefangene Seelen können nicht hell
strahlen, nicht weise werden. Sie kreisen ohnmächtig um sich selbst.
Weder spüren sie die Weite der einen Welt noch die starren Grenzen
der anderen. So wurde unser Dasein zu einem Dahinsiechen, eine
endlose Aneinanderreihung von Bedeutungslosigkeiten. Der einzige
Fluchtweg war, in den Geist der Menschen einzudringen. Den haben wir
genutzt. Manchen von uns reichte es nicht aus, wieder zu leben, in
ihnen kroch alte Wut hoch, sie dachten an die Schmach, an die
Jahrtausende des Elends. Sie schrien nach Rache. Zuerst an den
Europabewohnern, dann an den Infizierten, schließlich auch an den
einfachen Menschen, die zwar ahnungslos waren, aber sich an unsere
Versklavung beeidigt hatten.“
Genau
das ist der Grund, deswegen hat man euch entkörpert und isoliert
gehalten, sagte sich Karen. Ihr seid gefährlich. Ein außer
Kontrolle geratenes Experiment, Körper, in denen sich versehentlich
ein Geist entwickelt hat, ein Bündel von Fleisch und Reflexen, in
dem ein eigenständiger Wille zu wuchern begann, ein
unkontrollierbares Geschwür, das man entfernen musste. Ihr konntet
euch eure Existenz nicht aussuchen, wir schon. Wir haben die
Affenerbanlagen gewählt, Primatenkörper, Primateninstinkte. Nicht
perfekt, nicht annähernd, aber wir sind besser als ihr. Am Grunde
unserer Grausamkeit glimmt ein Rest von Mitgefühl. Das hat uns bis
jetzt davor bewahrt, uns selbst auszurotten. Ihr aber seid kalt,
biologische Maschinen. Eure einzige Leidenschaft ist es, zu hassen.
Vielleicht sind wir nicht sehr viel besser als ihr, aber wir sind um
ein Prozent besser. Auf dieses eine Prozent kommt es an. Du sitzt
jetzt hier mir gegenüber und trinkst Tee, während andere deiner Art
meine Mitmenschen zerfetzen, ihnen die Kinder rauben oder sich
menschliche Körper suchen, um sie zu übernehmen. Ich sitze hier und
sehe dich an. Was glaubst du, was ich sehe? Ein Monster? Ein Ding?
Natürlich nicht. Ich besitze eine Seele, die alt ist, die die Zeiten
durchwandert hat. Alles, was ich vor mir erblicke, ist eine armselige
Kreatur. Ich erkenne Leiden und ich fühle mit dir. Wir helfen dir
jetzt. Das ist genauso richtig, wie das Gefühl, dass wir euch früher
oder später loswerden müssen. Es ist schon unheimlich: Wie du mich
hinterrücks anspringen könntest, um mich zu ermorden; ebenso würde
es mir vielleicht gelingen, dich in die berüchtigte Klammer zu
nehmen, dich zum Fenster zu lenken und springen zu lassen. Ich würde
weinen um dich, wenn du da unten liegst, reglos in einer Blutpfütze.
Würde ich dich in den Tod schicken, so wäre mein Herz mit dir. Das
ist der Unterschied zwischen unseren Arten, ihr könnt uns töten und
euer Herz bliebt dabei kalt. „Und was soll nun werden?“, fragte
Karen, die nicht durch zu langes Schweigen unhöflich wirken wollte.
„Wie stellt ihr euch das vor? Soll das so weitergehen, dass ihr
gejagt werdet, Menschenkörper besetzt, dass ihr mordet?“
Isabell
hob die Schultern. „Keine Ahnung. Du bi eine von diesen Infizierten
und kannst in die Zukunft schauen.“
„Ich
bin nicht sehr so gut darin. Die auf Europa Geborenen sind mir in
dieser Hinsicht weit voraus. Wenn ich mich konzentriere, weiß ich,
ob in zwei Minuten eine Fliege in meinem Tee landet oder nicht. Oder
ob …“ Sie hätte beinahe gesagt: ob mir ein Kuckuck morgen das
Bein ausreißt. Sie konnte ihren Satz noch rechtzeitig abändern. „…
ich mir morgen einen Arm breche. Das Schicksal von Völkern
vorauszusagen, ist ein zu fetter Brocken für mich. Selbst wer vom
Mond Europa kommt, hat da seine Grenzen. Dort meint man in einem
solchen Fall: Alles wird gut. Nicht weil sie es wüssten, sondern
weil sie dem Schicksal bedingungslos vertrauen. Am Ende muss für sie
alles gut sein, ansonsten würde es nicht existieren. Eine
Geisteshaltung, mit der ich zuweilen liebäugele.“
„Weißt
du, was ich sehe, wenn ich in mich hineinschaue?“
„Vermutlich
erinnerst du dich an den Planeten, auf dem eure Seelen gefangen
waren, oder an die Sklaverei. Vielleicht auch an die schönen Tage,
als ihr wie Tiere gelebt habt, geistlos und glücklich in den
Urwäldern der Erde.“
„Gewiss,
solche Erinnerungen gibt es. Ab und zu scheint es allerdings so, als
existiere noch mehr in meiner Seele: etwas viel Älteres, aus der
Zeit, bevor die Erde besiedelt wurde.“
Karen
goss Tee nach. „Es gibt nichts in dir, was älter sein kann als die
Erinnerung an die Wildnis, in der ihr als Testobjekte für genetische
Anpassung gedient habt. Ihr wurdet erst nach der Besiedlung der Erde
erschaffen. Alles andere ist ein Traum, der Wunsch nach einem Mythos,
der eure Herkunft erklärt, die Sehnsucht nach einer heroischen Zeit.
Aber es ist ganz einfach: Ihr seid von Anfang an ein Experiment
gewesen, Laborgeschöpfe.“
„Du
hast wahrscheinlich recht“, stimmte Isabell zu, „obwohl da so
eine Ahnung in mir haust, die sich sehr echt anfühlt.“
„Das
liegt daran, dass du viel durchgemacht hast in letzter Zeit. Deine
Ahnung ist bestimmt nur das Symptom eines Traumas.“
„Mag
sein. Ich bin jetzt auch wirklich müde.“
„O
ja, ich zeige dir das Gästezimmer.“