Sonntag, 21. November 2021

                            5. TEIL

Philip betrat sein Hotelzimmer und ließ sich in den schäbigen Sessel fallen. Eines der wenigen Möbelstücke im Raum. Er griff mechanisch nach dem Smartphone. Dieser verdammte Reflex! Anrufen wäre zu gefährlich. Jeder konnte abgehört werden, so war das heutzutage. Das hoteleigene Telefon wäre bestimmt sicherer. Falls überhaupt noch etwas sicher war in dieser durchgeknallten Welt. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Seine Augen tasteten wie automatische Kameras die Straße ab. Das Gehirn untersuchte die eingehenden Daten auf Gefahrenquellen. Nichts Verdächtiges, obwohl alles verdächtig sein konnte. Da draußen, nicht nur auf dieser Straße, da draußen in der Welt, dort lauerte eine Gefahr, eine unsichtbare, eine Falle, und man würde sie erst bemerken, wenn sie zuschnappte. Er griff entschlossen nach dem Festnetztelefon und wählte Elmars Nummer.

„Denk' dir bloß Elmar, da war diese Frau, mit der ich zusammengestoßen bin. Ich weiß nicht mehr, ob ich dir das erzählt habe. Jedenfalls – ich habe sie wiedergetroffen, zufällig. Vielleicht aber doch nicht so ganz zufällig. Sie schwatzte irgendetwas vom Schicksal. Und jetzt kommt der Hammer: Wir wurden verfolgt, ganz plötzlich, verfolgt von zwei unheimlichen Typen. Und wir sind dann schnell in ein Haus rein. In irgendein Haus. Und die Kerle uns hinterher wie wild. Die Frau aber schien sich dort auszukennen. Sie war ihnen immer eine Nasenlänge voraus, als hätte sie geahnt, was die Typen als Nächstes im Schilde führen. Wir haben es – dem Himmel sei Dank – wieder bis auf die Straße geschafft. Dort hat sie auch noch einen Autounfall verursacht. Du glaubst es nicht. Ein paar Wagen sind zusammengestoßen. Angeblich hat in einem davon jemand gesessen, der auf uns angesetzt war. Mann, das war total wild, das kann ich dir sagen! Und sie weiß gewiss einiges über Alice, sie wusste auch, dass ich sie suche. Karen heißt die Frau.“

„Das ist ja eine seltsame Geschichte Philip. Wer weiß, wer sie ist, diese Karen – vielleicht gehört sie zu einer dieser Gruppen, vor denen jetzt überall gewarnt wird. Womöglich ist sie eine Agentin der Außerirdischen, falls es die wirklich gibt. Kann aber auch sein, sie arbeitet für den Geheimdienst. Ich meine, irgendwer will ja augenscheinlich etwas vertuschen, was deine Schwester betrifft. Diese Karen ließ sich eventuell von ihren eigenen Kollegen verfolgen, zum Schein. So konnte sie dich beeindrucken, dein Vertrauen gewinnen. Für einen Rückzieher allerdings ist es zu spät, du solltest jetzt so viel wie möglich über sie herausfinden. Zumal wenn sie etwas über deine Schwester weiß. Aber sei bloß vorsichtig!“

„Ich werde mich bemühen. Wann können wir uns sehen?“

„Ich melde mich Philip. Ist sicherer.“

„Okay, bis dann Elmar!“

„Bis dann!“

Jetzt fühlte Philip sich etwas besser, da er eine vertraute Stimme gehört hatte. Draußen allerdings lauerte noch immer diese schreckliche Welt, die ihn mit tausend Augen beobachten konnte. Aber was hieß das eigentlich – draußen? Das Hotelzimmer gehörte ja auch zur Welt. Es wäre möglich, dass winzige Kameras auf ihn gerichtet waren. Und das Telefon! Wie naiv wäre es, anzunehmen, dass ein Zimmertelefon sicher sei? Auch das Telefon gehörte zu – da draußen! Wo endete die Welt da draußen eigentlich? An seiner Haut? Nein, es ging tiefer, es ging bis unter die Haut! Vielleicht war es schon in seinem Kopf, waren SIE schon in seinen Gedanken, wer auch immer sie waren, woher sie auch immer gekommen sein mochten. War er wirklich noch der Denker seiner Gedanken? Er würde es herausfinden. Jetzt aber musste er weg, schnell weg. Hier würde er nicht sicher sein. Hektisch stopfte er paar Sachen in den Rucksack und flüchtete aus dem Hotelzimmer. Mit schnellen Schritten lief er zur nächsten Stadtbibliothek, ohne zu wissen, warum. In seinem Kopf schwirrten unzählige Gedanken, die vielleicht ein anderer dachte, oder niemand, oder es waren Gedanken, die einst seinen Eltern gehört hatten, die sie unbedacht angefangen hatten zu denken. Nun schwirrten sie in seinem Kopf, ob er wollte oder nicht.

Als er die Bibliothek betrat, fühlte er sich sicher. Es duftete nach alten Büchern. Man hatte sie zwar digital gezählt, aber immer noch gehörten sie der guten alten Zeit an, einer Zeit ohne Facebook und Smartphones und dem ganzen Schrott. Im Inneren der Bücher lagen viele Welten verborgen, Welten, die friedlicher, ruhiger waren, als die virtuellen Realitäten, in denen man allzu gern herumlungerte. Die Welt, so beschloss er, war wahnsinnig geworden. Sie drehte sich schneller, immer schneller, während die Zeit, über die man verfügte, dahinschmolz wie eine Schneeflocke in der Sahara. Hier aber, an diesem Ort der Besinnung, konnte er die Zeit anhalten. Am Ende des Lesesaales befand sich eine Lounge mit breiten Sesseln, auch ein Getränkeautomat stand dort. Er schlenderte an den Regalen vorbei, die es bald nicht mehr geben würde, wenn das E-Book-Format sämtliche Bücher aus Papier verdrängt hätte. Mit zittrigen Händen zog er sich einen Kakao aus dem Automaten und nahm eine der Zeitungen aus dem Leseregal. Er setzte sich und hielt die Zeitung derart, dass man nicht sehen konnte, was dahinter vor sich ging. Zuerst trank er einige Schlucke vom Kakao ab, dann schüttete er Kratom in den Becher hinein, eine Dosis, die eine ziemlich betäubende Wirkung versprach. Irgendwie musste er zur Ruhe kommen, trotz der Angst, die von überall her nach ihm griff, trotz der unzähligen Gedanken, die ihm wie fremde Besucher im eigenen Kopf vorkamen. Eine Insel aus Kratompulver, Sorte Borneo Red Veine, schwamm auf dem Kakao. Wie sollte er das Ganze nur umrühren? Endlich benutzte er mutig den Zeigefinger dazu. Es war heiß, aber noch erträglich. Nun starrte er in eine Masse von Braun und Dunkelgrün hinein. Er führte den Becher zu den Lippen und trank. Das Süße und das Bittere ergaben zusammen einen seltsamen Geschmack. In seinem Hals setzte sich das Kratompulver. Es begann zu kratzen. Erst ein weiter Becher mit Kakao rettete ihn vor einem Erstickungsanfall. Zufrieden versank er in den Sessel. Hier gab er alles, was er brauchte, sogar einen WLAN-Anschluss.

Nach wenigen Minuten zeigte die Droge ihre Wirkung. Etwas geschah mit dem Körper. Wärme durchströmte ihn, sein Kiefer fühlte sich taub an. Er saß da und hatte vergessen, was er wollte. Dass einfaches Herumlungern derart zufrieden machen konnte! Irgendwann, Minuten oder Ewigkeiten später musste er auf die Toilette gehen. Mit eisernem Willen kämpfte er sich aus dem Sessel. Langsam kam er voran, Schritt für Schritt. Ein Knall unterbrach den Frieden, der alles eingehüllt hatte. Er fragte sich, woher dieses Geräusch gekommen sein mochte; dann fiel sein Blick auf ein Buch. Es lag auf dem Boden und musste wie von Zauberhand aus dem Regal gefallen sein. Eine Seite war aufgeblättert. Er hob das Buch auf und las den Satz: WOHER KOMMEN DIE GEDANKEN? Er klappte es zu und stellte es ins Regal zurück. Das war ja meine Frage, die da im Buch stand, sagte er sich. Wie kam nur meine Frage dahin?

Ihm fiel sein Smartphone ein. Er musste unbedingt die Karte herausnehmen, oder besser, den Akku. Vielleicht konnten sie ihn sonst orten, wer immer sie sein mochten. In diesem Moment klingelte es. Zögernd bewegte er das Gerät zum Ohr. „Hier ist Karen.“

„Wie? Woher hast du denn überhaupt meine Nummer??“

„Wahrscheinlich von dir.“

„Daran kann ich mich aber nicht erinnern“, sagte Philip ungehalten.

„Egal. Ist das Buch schon aus dem Regal gefallen? Ich meine gewiss ist es das. War nur eine rhetorische Frage.“

Philips Mund öffnete sich wortlos.

„Bist du noch da, Philip? Hast du den Satz gelesen, der für dich bestimmt war?“

„Ich muss den Akku aus dem Smartphone nehmen“, sagte er mit emotionsloser Stimme.

Die Welt rückte in die Ferne. Das also war es. Offenbar hatte sich der Wahnsinn seiner bemächtigt. Er müsste ab nun sein Leben in einer Nervenklinik verbringen, ohne Kratom, dafür aber mit viel Psychopharmaka und einigen Therapieversuchen, die allesamt nichts bringen würden. Tagein, tagaus arrogante Psychiater und bösartige Pfleger, dazwischen läufige Schwestern, die es mit den arroganten Psychiatern trieben und für ihre Patienten nur tiefe Verachtung übrig hatten. Ein psychologischer Trick von ihnen, um die eigene Selbstachtung nicht zu verlieren. Ihm schwindelte, er drehte langsam durch! Oder es war noch schlimmer: Nicht er wurde verrückt, sondern mit der Welt stimmte etwas nicht mehr! Übelkeit kauerte in seinen Eingeweiden wie ein bösartiger Gnom. Er rannte zur Toilette, beugte sich über die Kloschüssel und übergab sich. Der Ekel, der ihn gepackt hatte, kam nicht aus dem Magen, er stammte nicht vom Kraton, sondern kam aus seiner Seele. Sie erbrach alles, was in ihr war, Jahre der Dummheit, verlorenes Leben, Nichtwissen und Ahnungslosigkeit darüber, woher die Gedanken kamen. Die Seele spie sich selbst aus. Sie war genauso ein Betrug wie alles andere.

Eine Stimme weckte ihn. „Wir schließen jetzt“, mahnte eine Bibliotheksangestellte.

Seine schweren Augenlider klappten auf. Er war im Sessel eingeschlafen. Schlafwandlerisch lief er nach draußen. Der Abend war schön wie eine Prinzessin, die sich in dunkle Seidentücher schmiegt. Die Grenzen seines Körpers verschmolzen mit der fleischigen Dämmerung. Sein Smartphone klingelte. Er erkannte Elmars Stimme.

„Ach, jetzt habe ich doch vergessen, den Akku aus dem Smartphone zu nehmen“, klagte Philip.

„Warum willst du das tun?“

„Na ich kann sonst geortet werden, oder?“

„Keine schlechte Idee Philip, nur ich erreiche dich dann auch nicht mehr. Hast du sie übrigens wiedergetroffen, diese Frau?“

„Sie hat mich angerufen. Vorhin.“

„Wie? Sie hat deine Nummer?“

„Nein, natürlich nicht. Das heißt – doch. Aber sie hat sie nicht von mir.“

„Das hört sich nicht gut an. Ja, du solltest den Akku rausnehmen. Ruf mich von einem anderen Gerät an, oder sende mir eine SMS aus einem Internetcafé. Melde dich, wenn es was Neues gibt. Besonders mit dieser Frau. Du weißt ja, wenn es um Frauen geht, verlieren Männer oft den Blick für die Tatsachen. Du bist doch nicht etwa verliebt in sie?“

„Nein, eigentlich nicht. Irgendwie hat sie etwas, ich weiß nicht, was es ist, aber verliebt? Also zumindest noch nicht. Nee – ich glaube nicht!“

„Nun, dann bleibe mal standhaft Philip. Und melde dich wieder, wenn es Neuigkeiten gibt, ja?“

„Okay mach dir mal keine Sorgen, wird schon alles schiefgehen, tschüss!“

Während des Telefonats war ein weiterer Anruf eingetroffen. Die Nummer war ihm nicht bekannt. Aber vielleicht ... Er klappte seine Brieftasche auf und entnahm ihr eine Visitenkarte. Sie stammte vom Kommissar, der so getan hatte, als wäre er auf seiner Seite. Die Nummern waren identisch. Er entfernte die Rückseite des Smartphones und riss den Akku heraus.

Von ferne her hörte er das Quietschen eines bremsenden Zuges. Es kam ihm so vor, als sei er selbst dieses Geräusch gewesen. Er musste lachen. Wie konnte ein Mensch nur ein Geräusch sein? Aber wo verlief die Grenze zwischen ihm und der Welt? Wo befand er sich? Was war er? Und wie zum Teufel kamen all die Gedanken in seinen Kopf hinein?

„Schau doch nach“, sagte eine Stimme hinter ihm. Er zuckte zusammen und drehte sich um. „Habe ich dich erschreckt, “fragte Karen und lächelte.

„Ich weiß, wie du mich reingelegt hast“, behauptete er. „Du hast mich verfolgt und beobachtet, deswegen wusstest du von der Sache mit dem Buch. Nur das mit der aufgeschlagenen Seite kann ich nicht erklären.“

Karen lachte ihm ins Gesicht. „Na das nenne ich aber Kleingläubigkeit! Der Verstand sucht immer Erklärungen, die ihm genehm sind. Wenn wir darauf hören, versäumen wir viel. Aber wir haben ja Angst, unser gewohntes Weltbild könnte – ach wie furchtbar – ins Schwanken geraten!“

„Du lenkst ab. Die Frage ist: Wer bist du?“

„Ach Philip, ich lenke nicht ab. Ich bin ein offeneres Buch, als du denkst. Die Frage ist tatsächlich: Wer bist du? Du hast sogar vergessen, dass du einer der begehrtesten Spezialisten der ESA warst, die mit am Projekt EUROPA gearbeitet haben. Aber dann ist etwas schiefgegangen.“

Einerseits schien es ihm, als sei es die Wahrheit, die Karen da aussprach, andererseits hörte es sich an, als plapperte sie reinen Unsinn. Eigentlich war es ihm unmöglich, Vorstellungen und Erinnerungen auseinanderhalten. Die letzte Woche war kein Problem. Er wusste genau, was da passiert war. Ältere Erinnerungen allerdings verschwammen in seinem Geist und konnten nicht von Tagträumereien unterschieden werden. Er war krank. Jeder, der das wusste, konnte es ausnutzen. „Es mag sogar stimmen, was du da sagst. Ich entsinne mich an die letzten Tage, auch kommen mir Bilder aus der Kindheit, obwohl sie wie künstlich wirken, irgendwie als wären sie aus einem Bilderbuch, aber ich weiß nicht sicher, was dazwischen passiert ist. Ich muss mich darauf konzentrieren, einen Faden finden und mich daran entlanghangeln. Momentan aber ist mein Kopf wie Matsch. Ich meine, man könnte mir alles Mögliche erzählen und ich würde es glauben. Die Welt ist so flüchtig, dass ich nicht mehr weiß, was real ist. Ich bin ein kranker Mann. Ich suche meinen Frieden. Lass mich bitte in Ruhe! Es ist schändlich, kranke Menschen zu quälen.“

Karen sah ihn streng an und sagte ernst zu ihm: „Du solltest deinen Kratomkonsum einschränken!“

„Ja, im Prinzip keine schlechte Idee, aber das Kratom macht mich wieder normal.“

„Na ja“, sprach sie bedächtig, „deine Aufgabe ist es vielleicht nicht, normal zu sein, sondern wieder du selbst zu sein. Oftmals ist das, was wie Verrücktheit aussieht, das Ende der Verrücktheit. Finde es heraus. Wir brauchen dich.“

„Wir?“, sprach er, „wer ist das – wir?“

„Wir sind ich, wir sind das Zentrum, das Kontinuum. Du weißt es, in Wahrheit weißt du es. Du spielst dieses Spiel mit dir selbst, du spielst, es nicht zu wissen. Und mich hast du natürlich auch nie gesehen, oder? Ich meine, bevor wir zusammengestoßen sind auf der Straße. Und mein Gesicht – Du hast es vergessen?“

„Wieso? Haben wir uns mal gekannt?“, fragte er erstaunt.

„Wie konntest du mich nur vergessen?“, sie sah ihn flehend an.

Er lächelte unsicher. Offenbar wollte sie ihn manipulieren. Seine Erinnerung mochte Lücken aufweisen, er entsann sich dennoch an Elmar, zwar unklar, aber immerhin, er wusste, dass Alice seine Schwester war, auch wusste er, dass er einen Exschwager hatte und eine Nichte, wenn ihm auch momentan ihr Name nicht mehr einfiel; aber die Frau vor ihm war eine Fremde. Er müsste noch einmal mit Elmar sprechen, vielleicht hatte der ihm nicht alles erzählt.

„Wenn ich nur ein Handy hätte“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Karen.

Sie holte ein Smartphone aus ihrer Jackentasche und fuhr mit dem Zeigefinger über den Touchscreen. „Ich stelle es nur auf die Fabrikeinstellungen zurück. Es war wieso mal deins. Was meins ist, ist auch deins. Eigentlich gibt man Geschenke ja nicht zurück, aber da du es dringend brauchst, bitte!“ Sie hielt ihm das Gerät hin.

„Das ist wirklich nett, ich werde es wiedergutmachen. Das mit den Geschenken habe ich zwar nicht verstanden. Muss ich wohl auch nicht. Lebe wohl.“

„Auf Wiedererinnern“, sprach sie und senkte traurig den Kopf.

Er drehte sich um und ging.

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