Montag, 27. Dezember 2021

 

                                   TEIL 10

 

 

Glaube dem Verstand nicht“, beschwor ich ihn, „der Verstand will, dass alles so bleibt, wie es war. Das, worauf es ankommt, ist tiefer als der Verstand.“

Im Regal neben mir stand ein dickes Buch. Ich nahm es heraus und zeigte es ihm, legte es theatralisch auf meine Hände und rippte drauflos. Das Buch schrumpfte auf die Dimensionen eines Zweieurostückes. Schließlich ließ ich es wieder zu seiner ursprünglichen Größe anwachsen. Wahrscheinlich hätte eine Lektion in Gedankenlesen ausgereicht, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen, so produzierte ich kurzerhand dieses kleine Wunder, um Eindruck zu schinden.

 Ungläubig riss er die Augen auf. „Mach das noch mal“, sagte er verdattert.

Es geht nicht um Zaubertricks, oder darum, dass ich etwas beweisen müsste“, erklärte ich, „es geht um etwas Wesentliches. Das wirkliche Wunder besteht nicht darin, dass ein Buch seine Größe ändert.“

Ich setzte ihm die Wichtigkeit unserer Mission auseinander. Es ging ja um nichts weniger, als darum, das Bewusstsein der Menschheit anzuheben und den Weg für eine neue Epoche der Evolution zu ebenen. Ich muss sagen, Martin erwies sich als guter Fang. Er lernte schnell und hatte bald viele Menschen infiziert.

Aber nun will ich weiter von Philip erzählen. Er zog sich einige Tage zurück, konzentrierte sich aufs Rippen. Als er wieder auftauchte, sagte er mir, dass er wisse, welcher der nächste Schritt sein müsste. Das geschah zur gleichen Zeit als Professor Pull sein geheimes Labor räumte und das Institut verließ. Philip übernahm das Labor, da er einen Ort für ein – wie er sagte – wichtiges Unternehmen brauchte. Er hockte ständig am Computer und behauptete, er mache Pläne für etwas, das er im Ganzen noch nicht überblicken könne. Er wolle dennoch anfangen, ein Teil davon zu verwirklichen. So gingen wir an die Arbeit, heimlich. Wir besorgten Werkzeuge und technische Teile. Die Zeit, die wir benötigten, meldeten wir dem Institut als Überstunden für eines der offiziellen Projekte. So erregten wir kein Aufsehen. Wir arbeiteten an einer metallenen Spinne. Es handelte sich um ein Gerät, für die Erforschung der Oberfläche eines Himmelskörpers.

Was wird damit, wenn es fertiggestellt ist?“, wollte ich wissen.

Ich vermute, das wird uns rechtzeitig einfallen. Ich habe es tief in mir gesehen, also wird es Sinn machen. Es gibt da so Fäden in der Struktur des Zeit-Raum-Gefüges. An denen kann man vieles ablesen.“

Wir haben schon einen Rover für das Europaprojekt entwickelt, und er funktioniert. Die ESA hat ihn getestet. Man war zufrieden damit. Oder gibt es eine neue Mission? Unsere Mission? Wir besitzen aber keine Rakete. Wir wissen ja nicht einmal, was unsere Spinne eigentlich untersuchen soll“, sagte ich.

Philip fasste sich ans Kinn und kniff die Lippen zusammen. „Mhh, vor allem habe ich Probleme mit dem Akku. Wenn ich hier einfach einen Spezialakku beantrage, der extreme Temperaturen verträgt, so könnte das auffallen. Und auffallen sollten wir nicht.“ (Das nennt man eine ausweichende Antwort!)

Würden wir ein wenig geübter im Rippen sein, so wäre es möglich, einen Spezialakku aus der Luft entstehen lassen“, überlegte ich laut.

Dazu sind unsere Fähigkeiten zu neu“, warf Philip ein. „Aber wir bekommen Hilfe. Es ist hier. Es ist nicht humanoid und es befindet sich auf der Erde. Wir waren nicht die Ersten, die vom Zentrum der Welt infiziert wurden. Sie können rippen, ich spüre es. Sie werden helfen.“

Nun wurde ich aber wirklich skeptisch. Vielleicht waren unsere Fähigkeiten zu unausgereift und Philip irrte sich einfach. Am nächsten Tag änderte ich meine kritische Einstellung. Etwas lag auf dem Tisch in unserem geheimen Labor, eine zitternde seltsame Masse unbekannter Herkunft. Wir untersuchten das Objekt. Es war eine Batterie.

Eine biologische Substanz, die Energie erzeugt“, stellte Friedrich fest.

Wir hatten tatsächlich Hilfe erhalten, von wem auch immer. Wir arbeiteten weiter an dem Gerät mit den acht Beinen. Alice holten wir auch noch hinzu. Sie wurde gleich infiziert. Klar, diese Gnade durften wir ihr nicht vorenthalten. Sie machte nur langsam Fortschritte. – Nochmals zur Erinnerung: Fünfzig Prozent dieser Aufzeichnungen sind frei erfunden, was bedeutet, dass fünfzig Prozent Wahrheit in ihnen steckt –. Man weiß nie, wie lange es dauert, bis jemand das Rippen beherrscht. Bei uns, also bei Philip und mir, ging es ruckzuck, wir hatten ja direkten Kontakt mit dem Zentrum gehabt. Dennoch, etwas würde ab nun in Alice arbeiten und ihren Geist freimachen, das war uns klar.

Als die Spinne vollendet vor uns stand, meinte Philip: „Sie werden das Ding hochschicken, nach Europa.“

Dann werden sie um Wochen schneller sein als die ESA“, sagte Alice nachdenklich.

Warum haben sie es denn nicht selbst gebaut, warum wir? Warum diese Arbeitsteilung?“, fragte ich, ohne auf eine Antwort zu hoffen.

Philip starrte ausdruckslos vor sich hin. „Wir sollten aufhören, von ihnen und von uns zu reden. Wir sind ein Teil des Einen. Dieses Eine ist das Schicksal. Es macht die Dinge so, wie sie zu geschehen haben, selbst, wenn es für uns sinnlos erscheinen mag. Wir müssen tun, was uns vorherbestimmt ist. Eines Tages werden wir das ganze Schicksal überblicken, jetzt erkennen wir allein winzige Teile davon.“

Ich verstand nicht, was vor sich ging. Haben sie uns geholfen, oder wir ihnen? Und wer waren sie, diese Wesen, die mit Philip Kontakt aufgenommen hatten?

Und dann ist es geschehen. Unsere Spinne war eines Tages verschwunden. Sie mussten sehr gut rippen können. Wir waren uns sicher: Die Spinne würde bald auf Europa landen.

In der Folge infizierten wir weitere Menschen, bei denen wir eine Resonanz spürten. Sobald es gelang, uns auf ihre jeweiligen Energien einzuschwingen, war es ein Leichtes, ihre Wahrnehmung derart zu verschieben, dass sie ihren eigenen Ursprung erkennen konnten. Meine Worte mögen für manche keinen Sinn ergeben. Dennoch gehe ich davon aus, dass sie für gewisse Ebenen von Verständnis sinnvoll sein können. Wie gesagt, es ist alles eine Frage der Resonanz. Viele Menschen konnten das Leben aus einer neuen Perspektive sehen, nachdem sie uns begegnet waren. Auch folgte der neuen Sichtweise die Fähigkeit des Rippens. Wir alle waren durch eine spezielle Form des Kontaktes miteinander verbunden. Mir fehlen für dieses Phänomen die Worte und es kommt mir vor, als würde ich, mit den wenigen Worten, die mir bleiben, als Sehende zu Blinden von der Welt der Farben sprechen. Sie können nicht begreifen, was Sehen bedeutet. Ich kann sagen, dass wir innerhalb des großen Bewusstseinsfeldes, das alle Welten umspannt, ein Teilfeld bildeten, eine Art kollektives Bewusstsein der Infizierten. Und es wurde uns klar: Wir waren Verschwörer. All die anderen, dessen geistige Pforten noch nicht geöffnet waren, nahmen ebenfalls an einer Verschwörung teil. Nur eben unbewusst. Sie schienen uns miteinander verbunden durch die Ideologie der Illusion, sie teilten sich die Welt der Schatten.

Wir konnten weit mehr tun, als zu infizieren. Wir stellten fest, dass, wenn die Realität erst einmal infrage gestellt wurde, es einfacher für uns war, Zugang zu denen zu finden, die es sich zu infizieren lohnte. Wer nicht mehr starr an seinen Vorstellungen festhielt, ging rascher in Resonanz mit uns. Also destabilisierten wir das Konzept von Realität, indem wir beispielsweise Geheimnisse stahlen und sie veröffentlichten. Die Regierungen und ihre Nachrichtendienste standen dabei weit oben auf unserer Liste. Viele Leute waren mehr als schockiert darüber, was sich alles hinter den Kulissen abspielte.


Philip unterdessen, zog sich immer mehr zurück, um zu meditieren. „Ich muss weiter schauen, immer weiter, bis hin zum Ende“, sagte er zu mir. Nachdem er tagelang nicht ansprechbar gewesen war, äußerte er sich folgendermaßen: „Noch einmal muss ich tief hineinblicken ins Zentrum des Universums, damit sich mir der Anfang und das Ende offenbaren. Tauche ich wieder auf, werde ich kaum noch wissen, wer ich bin und was ich tun soll.“

Ich fragte ihn, was für einen Sinn das haben solle.

Ich weiß es nicht“, sprach er, „ich werde es wissen, sobald ich getan habe, was ich tun muss.“

Die Geschehnisse nahmen ihren Lauf. Es kam, wie er es angekündigt hatte. Er lebte versunken in einem Traum, in dem das, was passiert war, immer mehr verblasste. Es wollte tief in sich etwas finden, etwas Gewaltiges, und er hatte seinen Preis dafür gezahlt.

Das Shuttle der ESA erreichte endlich den Mond Europa. Man entdeckte die Spinne. Unsere Spinne. Damit begann ein weiteres Kapitel der Geschichte. Die Idee von intelligenten Außerirdischen eignete sich für die Regierungen vorzüglich dazu, sie ideologisch auszuschlachten, um die Menschen stärker zu kontrollieren. Angst wurde geschürt. Immer penetranter rechtfertigte man die ständige Überwachung. Es könnten ja jederzeit die Außerirdischen zuschlagen. Auch redete man von menschlichen Agenten, die für diese Aliens arbeiten würden. Und uns gab es ebenfalls, uns Infizierte, unerklärliche Phänomene, die dem Staat seine Geheimnisse entrissen, um den Menschen den letzten Zipfel von Vertrauen ins System zu nehmen. Seit man die spinnenbeinige Maschine in den Händen hielt, an der ich mitgebaut hatte, war Bewegung in die Welt gekommen. Es wurde immer mehr kontrolliert, Freiheiten wurden abgeschafft, Rechte pervertierten zur Willkür. Der Staat wuchs zum mächtigen Instrument der Unterdrückung heran. Der der Kalte Krieg gegen die eigene Bevölkerung wurde langsam heiß.

Druck erzeugt Gegendruck. Immer mehr Unzufriedene schlossen sich zusammen, taten ihren Unmut kund. Unser Gerät, von dem wir nicht einmal wussten, wozu wir es gebaut haben, hatte es geschafft, das System erst zu stabilisieren, dann zu destabilisieren. Die Vertreter der alten Macht wollten das Feld nicht freiwillig räumen, sie kämpften verbissen. Als entdeckt wurde, dass dieses Objekt vom fernen Eismond, hauptsächlich aus irdischen Komponenten bestand, war Vertuschung angesagt. Die Existenz der Außerirdischen durfte nicht infrage gestellt werden, war sie doch die ideale Rechtfertigung für die immer härteren Vorgehensweisen der Regierung. Die Mächtigen wurden von der Angst ergriffen, die Kontrolle zu verlieren. Also hatte man alle, die das Gerät untersuchten, verschwinden lassen, einschließlich Alice. Ich vertraue darauf, dass sie rechtzeitig ihre Fähigkeiten stärken konnte, um sich selbst zu helfen. Aber ich habe keine inneren Bilder von ihr, keine Witterung, kann sie nicht sehen. Es ist mir unklar, warum das so ist. Ich sehe sonst vieles, wenn ich die Augen schließe und in das große Loch hineinblicke, das in mir ruht, und das den Weltraum umschließt. Es gibt Dinge, die ich erkennen kann, andere bleiben im Schatten. Es ist das Schicksal, das es so will. Alice fort, Philip weiß nicht, wer er ist. Das ist die Situation, wie sie sich im Moment zeigt.


Philip klappte den Ordner zu, in diesem Augenblick kam Durga, oder Karen, oder wer sie auch immer war, wieder ins Café spaziert und setzte sich neben ihn.

Wie nennt man das? Ich glaube, es heißt Science-Fiction. Ganz nett, nur der Schluss fehlt.“

Der komm noch. Ich denke, der kommt bald.“

Philip lächelte distanziert. „Eine Reise ins Zentrum des Universums mit einem Raumschiff aus Feinstoff! Das ist starker Tobak. Es scheint mir ein wenig zu fantastisch, dass auch nur ein Deut daran wahr sein könnte. Selbst wenn es subjektiv wahr wäre, was du hier geschrieben hast, so könnte es eine ganz private Illusion sein. Ich glaube nicht an diese Aliens, oder daran. dass man das Zentrum des Universums jr erreichen kann. Ich glaube, du willst mich verwirren, oder ihr – wer immer ihr sein mögt. Das Einzige, was mir wirklich zu denken gibt, ist die Sache mit dem Institut. Man hat mich dort Doktor genannt und mich freundlich begrüßt. Ich aber kann mich nicht entsinnen, dort jemals gearbeitet zu haben. Und selbst wenn das so gewesen sein sollte, und ich war dort beschäftigt, wer sagt mir, ob du wirklich meine Assistentin gewesen bist? Ich bin dir im Institut begegnet, gewiss, aber was besagt das schon? Du kannst dich ja ins Gebäude geschlichen haben.“

Mein Gott, du wirst immer paranoider! Ist da wirklich alles weg? Ist jede Erinnerung verschwunden, auch die an uns?“, fragte Karen flehend.

Tut mir leid, ich entsinne mich an meine Ex-Frau, aber nicht an dich. Vielleicht weil es nichts zu erinnern gibt“, sprach er hart.

Ihr standen die Tränen in den Augen. Sie wollte nach seiner Hand greifen. Er zog sie rasch zurück, wie um den giftigen Tentakeln einer Qualle zu entkommen.


Regen prasselte in Fäden zur Erde. „Wer bin ich nur, wer bin ich nur“, flüsterte er vor sich hin. Er blieb auf der Straße stehen, blickte zum Himmel. Der aber wusste auch keine Antwort. Das konnte alles nicht wahr sein. Karens Geschichte war verdreht. Er vermochte nicht zu sagen, was daran nicht stimmte. Ihm blieb nur sein Instinkt. In ihm lagen die Erinnerungen in Bruchstücken übereinandergelagert. Sie waren transparent und andere Erinnerungen schimmerten durch sie hindurch, falsche Vergangenheiten, flüchtig herbeifantasiert. Auch sickerten fremde Bilder in sein Inneres, sie waren finster, böse. Hie und da taten sich Türen auf. Dahinter verbargen sich karge Gänge, die sich zu Irrgärten auswuchsen. Er konzentrierte sich. Karen, Karens Geschichte. Kannte er sie wirklich von der ESA her? War sie nicht nur einfach eine Verrückte? Ebenso krank wie er selbst? Hatten sie sich nicht in einer Nervenheilanstalt getroffen? Wieder kamen ihm Bilder. War das jetzt real oder ersponnen? Ein Haus voller Irrer. Sie waren genauso Irre wie der Rest auf diesem Planeten. Ihr Wahnsinn passte nur nicht zu dem der anderen, zu den Robotern, die lebenstüchtig waren und sinnlos ihrer Gier folgten, eine Meinung hatten, die in Wahrheit nicht ihre eigene war. Sie wurden bereitwillig zu Mördern, wenn man sie in Uniformen steckte und ihnen Befehle in die Ohren brüllte. Beschäftigungstherapie, Beschäftigungstherapie. Lieber etwas Sinnloses tun, als nichts. Das Nichts ist das Gefährliche. Es könnte wer weiß was aus dem Nichts kommen. Für einen Roboter gibt es nur einen Sinn: etwas tun, etwas tun, etwas tun, einen mechanischen Takt anstimmen, der sich in einer endlosen Melodie erschöpfte. Er gewinnt daraus Kraft, die Sklaverei ist ihm eine Freude. Konsumiere und lache. Kauf dir einen Scheiß und du bist glücklich. Willst du wissen, was Realität ist, dann frag nach bei Google.

Karen und er kleben eine hölzerne Spinne zusammen. Karen lacht irre, meint, das Ding würde in den Weltenraum fliegen.

Professor Pull schlendert vorbei. Er ist der Chefarzt. „Schön gebastelt, sehr nett“. Mit geheucheltem Interesse betrachtet er die Spinne. Seine Stimme klingt ruhig und tief. Er bevorzugt Hypnosetherapie.

Später im Behandlungszimmer. „Stellen Sie sich vor, sie sitzen in einem Raumschiff!“

Eine Fantasiereise. Und Karen, psychotisch wie sie ist, hält diese Suggestion bis heute für Realität. Ihr krankes Gehirn reimt sich noch etliche Dummheiten dazu. Die Therapie hat sie total irre werden lassen. So, wenn das die Wahrheit war, okay, damit konnte er leben! Wenn da aber eine Lücke klaffe in ihm, die er soeben mit Fantasie ausgefüllt hatte, dann wäre nicht Karen vollkommen verrückt, sondern er. Wo war der Maßstab, womit könnte er die Wahrheit messen? Erinnerung, Fantasie, alles nur Daten auf der empfindlichen Festplatte in seinem Kopf.

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