Sonntag, 2. Januar 2022

 TEIL 11

Hans Lehmann, Polizeikommissar in privater und geheimer Mission, dachte nach. Sein Ziel hieß Alice. Wäre es möglich, fragte er sich, jemanden aufzuspüren, indem man einfach seinen eigenen Instinkten folgte? Eigentlich nicht! Aber hatte er nicht schon Erstaunliches gesehen? Diese seltsame Frau – sie hatte ihm gezeigt, wie ein älterer Herr seine jungen und kräftigen Verfolger abschütteln konnte, indem er scheinbar Unmögliches vollbrachte. Entweder war da etwas Wunderbares geschehen, oder ein Wunder wurde um seinetwillen inszeniert. Dann allerdings war die Frage: wozu dieser Aufwand?

„Ich muss fort“, sagte er zu seiner Frau, „dienstlich.“ Und bald, so dachte er, würde er für immer gehen, in das Reich ewiger Abwesenheit, ins Land des Todes. Langsam wurde sein Leben zu einem einzigen Abschied. Alles floss dahin, verlor seine Form, zerbrach. Nichts hatte Bestand. Das Dasein war ein immerwährendes Sterben; war es schon immer gewesen, nur jetzt wurde ihm das erst bewusst, wo er seinem Ende gegenüberstand. Er schaute seine Frau an. Sie erschien ihm als Kind, als junges Weib, als Mutter, als alle Frauen der Welt, er sah innerlich ihre Geburt und ihr Sterben. Und er erkannte ein um ihren Mund tanzendes Lächeln, das wie Sternenfeuer glühte und nie vergehen würde. Es war dieses ewige Lächeln, das Lächeln der Engel. Man musste richtig hinschauen, musste die Augen dazu bringen, ihre Blicke tiefer ins Fleisch der Welt zu bohren, dann konnte man sehen, wahrlich sehen. Mit diesem Lächeln des Wissens und der Leichtigkeit kamen alle Menschen zur Welt, dann aber zog es sich nach und nach zurück, verkroch sich nach innen, lag begraben unter einem Berg von Meinungen, Ängsten und zerbrochener Hoffnung, bis es nur noch selten aufleuchtete. Jedoch es war nicht fort, schwelte beständig unter der Oberfläche. Er wollte seiner Frau etwas sagen, ihm fehlten aber die Worte. Er zog sich eine dünne Jacke über und verließ Haus.


Er stieg in sein Auto, fuhr los, obwohl er nicht das Recht besaß, zu ermitteln. Es kam ihm vor, als steuere nicht er den Wagen, sondern als lenke eine seltsame Kraft alles – den Wagen, ihn, die ganze Welt. Er fuhr so entschlossen, als hätte er ein Ziel vor Augen. In der Nähe des Strandes hinter der Stadt hielt er an, stieg aus und sah sich um. Sein Blick fiel auf ein Haus. Ein quadratisches Betonungeheuer, das wie ein riesiger Bauklotz in der Landschaft stand. Hier war es! Er wusste nicht, warum dieser Gedanke so klar in ihm auftauchte, aber er vertraute ihm. Vor dem Haus machte Hans Lehmann halt. Die Tür sah stabil aus, sie war mit Metall verstärkt. Eine Klingel existierte, aber kein Namensschild. Sein Blick wanderte nach oben: Dort hing eine Kamera. Bald, nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, sprang die Tür auf. Unvermittelt sah er sich drei Männern gegenüber. Sie zielten mit Pistolen auf ihn.

Er sagte gefasst: „Es würde auffallen, wenn Sie einen Polizisten erschießen, der seinen Ermittlungen nachgeht. Meine Kollegen wissen, wo ich bin.“

„Schön die Hände über den Kopf und nicht bewegen!“, befahl einer der Männer. Ein anderer tastete ihn ab. Er fand einen Dienstausweis, aber keine Waffe. Die Männer steckten ihre Pistolen weg. Sie führten sie ihn in einen Raum, in dem er kurz warten sollte. Es war ein karg eingerichtetes Büro. Er ließ sich in einen der billigen Sessel fallen, die dort herumstanden. Keine Spur von Angst war ihn ihm, er wusste, dass er das Richtige tat.

Nach einigen Minuten stampfte ein riesiger Kerl ins Zimmer. An seinem Handgelenk trug er eine wahrscheinlich teure Uhr, die derart protzig wirkte, dass sie billig erschien. „Wir gingen davon aus, dass es in diesem Fall keine Ermittlungen mehr gibt. Sie wissen ja, von welchem Fall ich rede. Hätten Sie sich angemeldet, so wäre die Begrüßung gewiss weniger dramatisch ausgefallen. Wir sind keine Gauner, wir sind eine staatliche Behörde.“

Lehmann nickte. „Natürlich, es geht ja auch nur darum, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

„Nach meinen Informationen bekam die Polizei von der Staatsanwaltschaft die Anweisung, den Fall nicht weiter zu verfolgen. Es waren uns einige Fehler unterlaufen, als wir diese Wissenschaftlerin zu ihrem eigenem Schutz ...“

„Und die anderen auch?“

„Sehen Sie“, führ der große Mann fort und sah ihn dabei bedeutungsvoll an, „Sie wissen auch schon davon. Das alles sollte vermieden werden. Aber wir sind daran nicht unschuldig. Wir hätten uns etwas anderes überlegen sollen. Nun aber müssen wir den Weg, den wir eingeschlagen haben, mit aller Konsequenz weitergehen. “

Es klopfte an der Tür. Ein unscheinbarer Mann betrat den Raum und übergab stumm einen Zettel. Der Große bedankte sich förmlich. Der Bote machte sich rasch wieder davon. Mit zusammengekniffenen Lippen besah sich der arrogante Riese den Zettel. „Grade habe ich eine Nachricht bekommen. Sie besagt, dass erstens der Fall definitiv nicht mehr im Aufgabenbereich der Polizei liegt, zweitens, dass Ihre Kollegen nicht wissen, wo Sie sich momentan aufhalten. Wenn Sie nicht dienstlich hier sind, stellt sich die Frage: Was wollen Sie wirklich?“

Lehmann lächelte, als hätte er einen raffinierten Witz verstanden. „Sehen Sie, es war mein Fall. Ich erfuhr kürzlich, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Ich nahm mir daraufhin vor, meinen letzten Fall abzuschließen. Ohne offiziellen Auftrag. Eine dumme Idee, werden Sie sagen. Aber so nahe am Ende betrachtet man alles von einem anderen Standpunkt. Nun, ich bekam heraus, dass nicht nur die eine Wissenschaftlerin verschwunden war, sondern auch weitere Leute, die an diesem Projekt gearbeitet haben. Sie wissen, es ging um dieses Ding vom Jupitermond Europa. Dann traf ich auch noch den Bruder der Vermissten. Ich weiß, er wird beobachtet und verfolgt.“

„Natürlich“, sagte der große Mann, dessen eingeübtes Lächeln sich verflüchtigt hatte, „er musste ja herumschnüffeln, genau wie Sie. Außerdem steht er in Beziehung zu einer verdächtigen Person.“

Kommissar Lehmann nickte. „Ich weiß, so eine Frau.“

„Sie scheinen ja recht viel zu wissen. Und das ist mehr, als Sie wissen sollten. Es geht hier um die Sicherheit der Zivilisation. Es geht hier um all das, was Menschen je geschaffen haben. Es geht um uns. Außerirdische bedrohen die Erde. Wir stehen der größten Gefahr gegenüber, die uns als Menschheit bedroht hat!“

„Es gibt Stimmen, die meinen, den Regierungen Europas ginge es darum, mit einem solchen Feindbild die Bürger besser unter Kontrolle zu halten.“

„Sie glauben wohl, sie sind besonders schlau, Herr Kommissar, aber von welchen Bürgern reden Sie überhaupt? Sie reden von Bürgern, die schon unter dem Einfluss der Aliens stehen. Sie reden von verwirrten, fanatischen Kreaturen, bereit, sich und ihre eigene Art ans Messer zu liefern. Die Außerirdischen sind nicht blöde, sie greifen uns nicht mit Waffen an, sie zerstören uns von innen her. Sie verändern die Menschen, mit denen sie in Kontakt treten, machen sie zu Monstern. Sie schüren Unzufriedenheit. Es kommt zu Aufständen. Überall lauern ihre Agenten, ihre menschlichen Lakaien. Sie statten sie mit Macht aus, sie überfluten ihre Gehirne mit Ideologie, bis sie innerlich selbst zu so etwas wie Aliens werden, denen menschliche Werte nichts mehr bedeuten. Wenn wir sie nicht stoppen – dann Welt ade! Ich will mit keiner Alien-Gehirnwäsche leben. Lieber wäre ich tot! Ich will nicht auf das verzichten, was mich als Mensch ausmacht, auf all das, was ich mir mühevoll erarbeitet habe, auf meinen Erfolg, meinen Status und auf den Wunsch, meinem Land zu dienen, Europa zu dienen. Ich kämpfe für meine Ideale, – wenn es sein muss mit allen Mitteln!“

„Und was, wenn diese Aliens uns gar nicht unterdrücken wollen, sondern befreien?“

Der große Mann lachte bitter. „Befreien? Wovon denn? Von uns selbst?“

„Warum nicht? Schauen Sie sich unsere Geschichte an: Eine blutige Spur zieht sich durch die Jahrtausende. Übrigens: Ich habe einen Ihrer Agenten erschossen – Notwehr! Das mit dem anderen Agenten war ein Unfall.“

Der große Mann drückte den Alarmknopf. In diesem Moment öffnete sich ein Tunnel, er verschluckte die ganze Welt und spie sie wieder aus. Danach war nichts mehr wie zuvor. Hans Lehmann hatte seinen Standpunkt verloren. Es gab keine Ursachen mehr und keine Reaktionen. Alles geschah einfach nur. Die Zeit war aus den Dingen herausgeflossen und vor ihm bildeten sich wechselnde Muster, die sich in vier Dimensionen ausbreiteten. Diese Muster hingen wie ein Spinnennetz im Raum, und wenn ein Teil dieses Netzes sich regte, erzitterte das ganze Gebilde. Lehmann sah das, was noch geschehen würde, bereits jetzt. Die Zeit war für ihn zu einem Zimmer geworden, in dem alle Uhren stillstanden, das er betreten konnte, um sich darin umzusehen. Die Gedanken und Handlungen von jemand anderen erschienen in seiner Wahrnehmung so, als wären es seine eigenen. Er wusste: Das nannte man SEHEN. Bewaffnete Männer stürmten durch die Tür. Er sprang automatisch zum für ihn günstigsten Punkt des Raumes.

„Ergeben Sie sich!“, brüllte jemand.

„Sie sollten sich ergeben!“, rief Lehmann den Männern zu; aber er wusste, das würden sie nicht tun. Sie funktionierten wie Maschinen. Das Schicksal lief wie ein Uhrwerk ab. Jeder befand sich in einem Film, den man Realität nannte. Er sah durch diesen Film hindurch, der wie eine transparente Schicht über ein pulsierendes Meer von Energie lag. Dieses Meer war ein geheimnisvoller Ort: Es brodelte, es zischte, Wellen aus Feuer loderten aufwärts und ein Sturm fegte über alles hinweg, ein Sturm wie ein Schrei, herausgedonnert aus Milliarden Kehlen. Das war der Platzt, erkannte er, wo das seinen Ursprung hatte, was sie – wer immer sie sein mochten – das Rippen nannten. Betrachtete man die kochende Energie dieses Meeres genau, so war zu erkennen, dass sie aus lauter schmalen Linien bestand. Es waren die Linien der Welt. Alle Dinge kamen daraus hervor. Mit dieser gestaltenden Kraft fühlte er sich innig verbunden. Er sah, wie die Männer, die vor ihm standen, auf ihn zielten, gleichsam spürte er eine unbekannte Gewalt in sich. Eine Hand wuchs aus ihm heraus und griff tief ins Gewebe der Welt hinein. Die Männer im Raum blickten sich verwirrt. Sie versuchten vergeblich, mit ihren Pistolen ein Ziel zu fixieren. Hans Lehmann lief unbehelligt zwischen ihnen hindurch, bis hin zum Flur..

Er rannte geradeaus. Vor seinem inneren Auge erschienen sämtliche Räume des Gebäudes. Er wusste sofort, wo er finden würde, was er suchte. In einem der Zimmer erkannten seine neuen Sinne mehrere Lichter, diese Lichter waren die Energien Menschen. Eines von ihnen strahlte heller als die anderen. Das war Alice. Sie würde in wenigen Minuten wieder richtig SEHEN können und rippen, so wie er. Rasch rippte er eine verschlossene Tür auf, durchquerte einen dahinterliegenden Raum, dann noch einen weiteren. Hier bemerkte ihn ein Wächter. Lehmann wusste, der Mann könnte ihn nicht mit seiner Waffe treffen, wenn er jetzt kurz nach links ausweichen würde. Er sprang. Es knallte eine, Patrone schlug neben ihm ins Gemäuer ein. Staub flog aus der Wand. Wütend rannte der Wächter ihm hinterher, stolperte und fiel der Länge nach hin. Jetzt musste nur noch eine Tür geöffnet werden. Kommissar Lehmann lächelte, während er den kalten Lauf einer Pistole an der Schläfe spürte. Einer der Wächter hatte ihn erwischt. „Jetzt hier rein, Bursche!“, triumphierte dieser und schloss eine Tür auf, um Hans Lehmann einzusperren. Da waren sie alle: die vermissten Wissenschaftler und mitten unter ihnen sie, Alice. Er erkannte, dass sie noch einen kleinen, einen letzten Impuls benötigte, und sie wäre wieder das, was sie immer gewesen war. Etwas öffnete sich in seinem Herzen, ein Punkt aus Licht flog – unsichtbar für die anderen – in Alice hinein. Einen Augenblick erstarrte sie, dann sah sie die Welt wieder mit erwachten Sinnen. Sie rippte und der Wächter fiel um.

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte Alice zu Hans Lehmann.


Eine Irre, dachte Philip, eine Irre also. Diese verrückte schien über telepathische Fähigkeiten oder Ähnliches, zu verfügen. Diese Durga, Karen – wie auch immer – hatte wahrlich ein übles Spiel mit ihm getrieben! Alles war aus einer psychotischen Phase entstanden. Ein Aufenthalt in der Nervenklinik, das war seine Vergangenheit gewesen, nicht die Tätigkeit in einem Institut der ESA. Nur ein Teil in diesem Puzzle, das er zusammenlegen wollte, stimmte nicht: die Spinne! Die Holzspinne, die sie gebastelt hatten, sah dem Ding aus den TV-Berichten verdammt ähnlich. Diese Berichte wurden aber allesamt später veröffentlicht. Gewiss konnte es sein, dass sie beide, er und die Irre, im Labor verrückt geworden waren. Vielleicht wegen eines Experimentes mit feinstofflichen Raumschiffen. Und was, wenn die Regierung die Wahrheit über diese gefährlichen Außerirdischen sagte? Hatten diese Europabewohner so sehr mit der Realität herumgespielt, dass sie beschädigt wurde. Eventuell würde er nie wissen, was die Wirklichkeit war, weil es keine mehr gab, weil nichts existierte, an das er sich festhalten konnte. Was, wenn die Welt allein aus verdichteter Information bestand, aus die der jeweilige Beobachter seine Realität herauslas? Die meisten Menschen mochten über eine gewisse Bandbreite der Wahrnehmung verfügen, würde sich diese erweitern, sagte er sich, könnte man eine gänzlich andere Wirklichkeit wahrnehmen. Die Folge davon wäre unter Umständen, dass der Wahnsinn einen packte. Ihm schauderte. Etwas Fremdes schien in ihm aufzutauchen, bereit, ihn zu verschlingen. Ein Abgrund in dem seine Persönlichkeit stückchenweise hineinpurzelte. Im selben Augenblick bemerkte er eine Gestalt, zehn Meter von ihm entfernt, sie stand auf der Straße und beobachtete ihn. Sie trug einen schwarzen Anzug, ihr Gesicht wirkte maskenhaft, die Augen wirkten wie Glasperlen.

Philip wurde von der Seite angerempelt und fand sich unversehens an der nächsten Straßenecke wieder. „Was war das?“, fragte er überrascht.

Durga, Karen, wer immer sie war oder was immer sie sein mochte, sie lief an seiner Seite und erklärte: „Die Welt hat viele Löcher und Tunnel. Normalerweise übersieht man sie, aber wenn man sie bemerkt, kann man durch sie hindurchgehen. Der Mann, den du gesehen hast, ist ein gefährliches Wesen. So lange, wie du dich nicht erinnern kannst, hast du keine Chance, dich zu wehren. Selbst deine künstlichen Erinnerungen wurden manipuliert.“

„Meine künstlichen Erinnerungen?“, fragte Philip verzweifelt. Unter normalen Umständen hätte er die Bemerkung einer Verrückten kaum beachtet. Der Mann aber, der so seltsam geschaut hatte, war real. Wie aus dem Nichts stand der Fremde neben ihnen. Philip verspürte einen kraftvollen Stoß. Um ihn herum lag ein menschenleerer Strand. Einige Möwen glitten auf dem Wind. Die Wellen des Meeres rollten vor und zurück. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Eine Gestalt materialisierte sich vor seinen Augen: Es war der Mann im schwarzen Anzug.

„Wo ist sie?“, wollte Philip wissen.

„Ich habe sie durch einen anderen Tunnel geschubst. Als sie drin war, habe ich ihn geschlossen“, sprach der Fremde betonungslos.

„Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass sie zwischen zwei Augenblicken festsitzt“, erklärte der unheimliche Kerl. „Sie wird uns nicht stören“, fügte er kalt lächelnd hinzu.

„Sie sind wohl nicht vom IES oder dem BND oder einer anderen Spionageorganisation?“

Der Fremde schüttelte den Kopf. „Und ich bin auch keiner von den Terroristen mit den seltsamen Fähigkeiten, einer von diesen Infizierten. Ich bin hier, weil du dich – Sie sich zu erinnern beginnen. Das darf nicht geschehen. Sie müssen aufgehalten werden. Sie sind eine Gefahr. Sie sollten sich von mir behandeln lassen. Ich beende Ihr Leid, Ihre Zweifel. Ich implantiere Ihnen neue Erinnerungen. Ich habe das erste Implantat überschrieben, somit waren Sie keine Gefahr mehr. Aber dann tauchte sie auf. Sie hat alles verdorben. Ich behandele Sie nun und Ihr Leben wird wieder gut. Sie nehmen regelmäßig Ihr Kratom, schauen sich Videos an, essen Ihre Kekse und werden alles vergessen haben, was Sie aufregen könnte.“

Philip riss fassungslos die Augen auf und schrie: „Was haben Sie mit mir gemacht?“

„Ich habe nichts verändert. Das Implantat haben Sie selbst mitentworfen. Es sollte nie die alten Erinnerungen vollständig verdrängen, sondern eine Erleichterung sein, um besser mit Ihrer falschen Identität leben zu können. Ich habe die implantierten Erinnerungen nur verstärkt, sodass sie alles andere überdecken konnten. Leider ist dabei etwas schief gegangen. Sie wurden labil. Bei Alice hat es besser geklappt. Bis jetzt zumindest.“

„Stimmt das mit dem Infizieren? Ich habe Alice infiziert und ihr diese Kräfte gegeben.“

Der blasse Mann winkte ab. „Sie haben Sie nicht infiziert. Aber egal vergessen Sie alles, es spielt keine Rolle mehr. Sie werden in ein tiefes Loch fallen, herauskriechen und ein anderes Leben beginnen, eines mit frischen Erinnerungen. Keine Angst, es tut nicht weh. Sie werden einen Moment der Verwirrung erleben, danach sind Sie ein neuer Mensch.“

„Und Karen? Was soll aus ihr werden?“

„Nun ja, eigentlich wäre sie ja recht gut aufgehoben, so eingekeilt zwischen zwei Augenblicken; aber angesichts dessen, dass wir einmal Freunde waren, bevor sich unsere Ansichten auseinanderentwickelten, könnte ich die gleiche Prozedur bei ihr anwenden. Eine neue Erinnerung, eine neue Identität. Es ist mir möglich, die Dinge so zu arrangieren, dass Sie sich beide wieder begegnen, falls Ihnen daran etwas liegen sollte“, sagte der Fremde.

Philip nickte kraftlos. „Wenn Sie meine Erinnerungen manipulieren können, sagen Sie mir, welche Erinnerungen sind echt?“

„Immer diese Fragen! Es spielt keine Rolle, alles wird gut“, sprach es aus dem Mann, der jetzt seine Hände ausstreckte und sie Philip auf den Kopf legte.

„Sie sind nicht von der Erde, nicht wahr?“


Philip lief am Strand entlang, die Möwen sahen aus wie bewegliche Zeichen einer fremden Schrift auf blauem Pergament. Das Meer rauschte. Er liebte es, Spuren in den Sand zu setzen. Er ging zum Wagen, wollte zurück in die Stadt, zu seiner kleinen Detektei.

Um die Mittagszeit erreichte er sein Büro. Eine Kundin hatte sich angemeldet. Er räumte flüchtig den Schreibtisch auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Es läutete. Die Klientin betrat das Büro. Sie beide hatten schon miteinander telefoniert. Ihr Mann war verschwunden oder so. Er bat ihr einen Platz an, dann musterte er sie sorgfältig, wobei er ihr ein wenig zu lange ins Gesicht schaute.

„Stimmt etwas nicht, oder warum gucken sie so?“, fragte die Klientin.

„Nein, nein, ist alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich wäre Ihnen schon mal begegnet.“

Sie lachte auf. „Hätten sie mir das auf der Straße gesagt, würde ich es für eine ziemlich fantasielose Art ansehen, mit mir ins Gespräch zu kommen. Aber Sie sind mit mir ja schon im Gespräch. Sie wissen ja, wie das ist mit den Gesichtern. Man sieht zu viele davon. Etliche ähneln sich. Ich glaube kaum, dass wir uns je begegnet sind.“

„Gewiss, Sie haben recht. Frau Karen Durga, nicht wahr? Ich habe mir Ihren Namen notiert. Seltsamer Nachname: Durga. Ist das der Name ihres Mannes?“

„Ich mag den Namen auch nicht, es ist mein Mädchenname. Wir lebten getrennt. Er hat sich eine mickrige Wohnung genommen. Schriftsteller ist er. Zumindest hat er das von sich geglaubt. Ich habe ihn nie etwas schreiben sehen. Vielleicht war er auch ein Maler, der nie ein Bild zustande bekommt. Wissen Sie, er gehört zu den Künstlern, die kein Werk hervorbringen. Wer weiß, ob das nicht die Besten sind? Geld springt dabei allerdings nicht raus. Erst gab es da noch seine Erbschaft. Irgendwann wurde die natürlich weniger. Ich habe allerdings einen Job. Wenigstens einer, der was verdient in der Familie. Ich arbeite als Krankenschwester. Bin in der Psychiatrie tätig. Ich kann Sie bezahlen, kann mir aber nicht leisten, dass Sie monatelang herumsuchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir redeten immer vorbei aneinander, er und ich. Wir liebten uns, gewiss, ja – wir liebten uns. Aber das bedeutet ja nicht, dass man miteinander leben kann. Deswegen unsere kleine Trennung, auch um unsere Liebe nicht zu töten. Sie mögen das seltsam finden. Wir fanden das nicht seltsam. Er heißt Philip, genau wie Sie. Ist das Leben nicht voller Zufälle? Er hauste in dieser mickrigen Wohnung. Er nahm so ein Zeug ein, so was wie Opium, Kratom oder so. Wahrscheinlich hat er nicht mehr getan als das. Eben ein Künstler, einer, der sein Werk nicht beginnen kann, weil sein Werk einfach nichts ist. Verstehen Sie? Ich habe das auch lange nicht begriffen. Als ich ihn nach einiger Zeit wiedergesehen habe, hat er mich nicht mehr erkannt. Er hatte Probleme mit dem Gedächtnis. Mag sein, dass es an den Drogen lag. Aber das wollen Sie bestimmt nicht wissen.“

„Doch reden sie nur. Jede Nebensächlichkeit kann bedeutsam sein“, ermunterte Philip.

„Er lebte so vor sich hin und wurde seltsam. Er musste zur Therapie. Oft erkannte er nicht einmal mehr mich. Irgendwie erkannte er mich, wusste aber nicht recht, wer ich bin. Er hatte unsere Vergangenheit vergessen, erinnerte sich aber an die letzten Wochen. Ich drängte ihn, mit Professor Pull zu sprechen. Der war mein Chef in der Klinik, damals. Er sagte, er sei verrückt. Nicht der Professor sagte das über Philip, sondern Philip über Professor Pull. Ich glaube, mein Mann hat Dinge gesehen, die es nicht gab. Er hat sich verfolgt gefühlt, verfolgt von Agenten des Staates. Jedenfalls ist er jetzt fort, hat seine Wohnung verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt.“

Philip machte Notizen und blickte auf. „Irgendwelche Verwandten?“

„Er hat von seiner Schwester erzählt, Alice. Ich habe sie aber niemals kennengelernt. Es könnte sein, dass es sie nicht gibt. Er hatte viel Fantasie. In der Raumfahrttechnik arbeitet sie wohl. Er sagte, sie hat eine Tochter. Geschieden soll sie auch sein. Mehr weiß ich darüber nicht.“

„Gut, die Adresse Ihres Mannes brauche ich auch noch.“

Sie überreichte ihm einen Zettel. „Alles schon vorbereitet, bitte sehr!“

„Dann werde ich sehen, wie weit ich komme. Ich melde mich dann bei Ihnen“, sagte Philip und verabschiedete Karen Durga.

Sicherlich hatte sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben, sagte er sich, aber das würde zu nichts führen. Die Polizei hatte genug mit den vielen Unruhen zu tun und den Protesten gegen die Regierung. Also blieben Fälle wie dieser für kleine Schnüffler übrig, wie er einer war. Somit konnte er wenigstens seine Miete bezahlen.

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