Teil 12
Das Haus machte einen schäbigen Eindruck. Hier hatte dieser andere Philip gewohnt. Matte Farbschichten blätterten im Treppenhaus ab, als wollten sich die Wände häuten. Er blieb vor einer verstaubten Tür stehen. Er klingelte. Wie erwartet öffnete niemand. Das Schloss schien nicht sehr stabil und er überlegte, ob er es knacken könnte. Jemand kam die Treppe heruntergehumpelt. Es war ein älterer Herr, dessen fleckiges T-Shirt sich über den Bauch spannte. Der Geruch von Bier strömte ihm aus den Poren. „Ich habe Ihren Bruder eine Weile nicht mehr gesehen“, krächzte er.
Philip nutzte den Irrtum des Mannes aus und tat so, als sei er wirklich der Bruder des Vermissten. „Ich habe ihn, auch eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Leider scheint er ja nicht da zu sein. Er hat sich ewig nicht mehr gemeldet. Die ganze Familie macht sich Sorgen.“
„Sie sehen ihm schon recht ähnlich. Ich habe Sie ja gleich erkannt, ohne Sie zu kennen. Er ist natürlich ein wenig älter und auch nicht so in Form wie Sie“, bemerkte der Nachbar und ging weiter treppab.
Als alles ruhig im Treppenhaus war, zog Philip ein Bündel Dietriche hervor. Nachdem er einige Minuten am Schloss herumgefummelt hatte, sprang die Tür auf und er konnte die Wohnung betreten. Viel fand er nicht vor, es war, als hätte jemand gründlich aufgeräumt, vielleicht sogar, um Spuren zu vernichten. Er untersuchte den verstaubten Schrank. In den Schubfächern befand sich wenig Brauchbares, kein Zettel mit Notizen, keine Papiere, nichts. Nirgends war ein Computer zu sehen, auf dem interessante Daten hätten gefunden werden können. Nichts Persönliches lag herum, kein Foto, kein Brief. Enttäuscht verließ er die Wohnung. Vor dem Haus kam ein Mann auf ihn zu und sprach ihn an. „Ich habe gehört, dass Sie der Bruder sind, von dem im zweiten Stock.“
„Hier sprechen sich die Dinge ja schnell rum“, meinte Philip.
Der Mann kräuselte seine Oberlippe. „Tja, ist hier so üblich. Ich möchte Sie ja nicht beunruhigen, aber ich habe so einen Verdacht, was Ihren Bruder betrifft. Ich denke, er kommt nicht wieder. Ich habe ihn gekannt, nicht sehr gut, aber ich habe ihn gekannt. Er war depressiv, wie Sie ja bestimmt wissen. Er hat mir gesagt, dass er geht und dass er nicht mehr wiederkommt. Was immer das auch bedeuten mag. Am besten wir nehmen an, dass er in ein anderes Land gegangen ist. Asien vielleicht. So manch einer hat dort sein Glück gefunden!“
„Mag wohl das Beste sein“, stimmte Philip zu.
Der Fremde wischte sich einen Fussel vom Ärmel seines schwarzen Anzuges ab und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, drehte er sich um und verschwand hinter der nächsten Ecke.
Philip überlegte: Die Wohnung war leer geräumt. Vielleicht wollte der Gesuchte einfach nur vergessen werden. Die dramatischste Version wäre, wenn jemand diesen Philip beseitigt hätte. Im Moment gab´s keine Spuren, nichts Sinnvolles. Seine Klientin musste sich mit der Tatsache abfinden, dass ihr Mann auf und davon war, oder sich sogar von einer Brücke gestürzt hatte. Aber nein, er würde ihr sagen, ihr Mann sei möglicherweise in Asien. Das klang besser. Oder war er sogar einer dieser Staatsfeinde? Der Staat hatte keine andere Wahl in solchen Fällen und musste hart durchgreifen, wenn er die Bürger vor den Aliens schützen wollte. Diese außerirdischen Aggressoren, so hieß es, bekämen immer mehr Sympathisanten. Wenn die Sache einen politischen Hintergrund haben sollte, wäre es gut, sich da herauszuhalten. Er würde bestimmt nicht seine Lizenz aufs Spiel setzen.
Als seine Klientin wieder bei ihm auftauchte, riet er ihr, die Sache auf sich beruhen zu lassen; denn es weise alles darauf hin, dass der Gesuchte untergetaucht sei. Spuren, die verraten könnten, wo er sich befände, habe ihr Bruder scheinbar verwischt. Er wolle offenbar nicht gefunden werden. Philip verschwieg ihr seine Theorien, die mit Selbsttötung und Staatsfeindlichkeit zu tun hatten.
Sie war verzweifelt, sie weinte. „Er braucht mich, hören Sie? Er weiß gar nicht, wie sehr er mich braucht! Er ist zuweilen ein wenig verwirrt, aber hinter seiner Verwirrung steckt etwas Geniales. Außerdem fehlt er mir.“
Philip nickte professionell. „Er hatte kaum Kontakt. Einige Mieter im Haus haben ihn ab und zu mal kurz gesehen. Das ist alles. Immerhin weiß ich in etwa, wie er aussieht: so ähnlich wie ich. Zumindest hat man mir das gesagt. Ich habe dummerweise vergessen, Sie nach einem Foto von ihm zu fragen. Tragen Sie eines bei sich?“
„Also ich sehe da nicht viel Ähnlichkeit zwischen Ihnen und ihm. Die Augenpartie vielleicht. Jetzt, wo Sie es sagen. Aber der Mund … nein, doch nicht, der ist schon ziemlich anders“, sagte sie und zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche hervor. Sie tippte auf den Touchscreen. Ein Ausdruck des Entsetzens husche über ihr Gesicht. „Die Fotos, sie sind weg!“
„Gewiss haben Sie noch welche auf ihrem PC oder im Internet“, merkte Philip an, um sie zu beruhigen.
„Den PC hat er ja mitgenommen, als er ausgezogen ist. Ich mag keine Computer. Ich hasse auch die sozialen Medien. Alle Fotos, die ich von ihm hatte, waren hier gespeichert. Nun ist alles fort. Die ganze Vergangenheit wurde gelöscht!“
„Ich habe keinen PC in seiner Wohnung gesehen“, stellte Philip sachlich fest. „Vielleicht ist das ein Zeichen, das mit den Bildern. Sie sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Machen Sie besser einen Schnitt, fangen Sie ein neues Leben an.“
Tränen liefen ihr über die Wangen. „Helfen Sie mir; Sie dürfen nicht aufgeben!“, beschwor sie ihn.
Philip blickte sie nachdenklich an. „Es gibt da eine Möglichkeit, eine Quelle, die ich anzapfen könnte. Es ist ein korrupter Polizist – verkauft Informationen aus dem Polizeicomputer.“
„Ich zahle alles“, sagte sie erleichtert und wischte sich die Tränen ab.
Am Nachmittag nahm Philip Kontakt zu seiner Quelle auf. Der Informant meldete sich eine Stunde später. Er hatte etwas gefunden. Die offiziellen Akten seien geschlossen worden und man habe sie gelöscht. Eine Anweisung von höherer Stelle. Wohl etwas Politisches. Auch Drogen spielten eine Rolle, plauderte der Informant aus. So stehe es zumindest in einer Notiz, die sich ein Beamter zu dem Fall gemacht habe. Solche inoffiziellen Gedächtnisstützen seien zumeist aufschlussreich. Auch habe er einen Eintrag über eine Wissenschaftlerin gesehen – wohl die Schwester von diesem Philip. Ihr Name laute Alice, sie gelte als vermisst. Am Rand habe jemand notiert: Fall geschlossen? Dickes Fragezeichen.
Philip wollte wissen, wer das notiert hatte.
„Hören sie“, sagte der Informant, „meine Dienste sind begrenzt. Der Name würde Ihnen auch nichts nutzen.“
„Meine Klientin wäre bereit, eine entsprechende Summe aufzutreiben“, versprach Philip.
„Na gut. Löschen sie meine Telefonnummer. Was auch geschieht: Sie haben nie mit mir gesprochen! Es war Kommissar Hans Lehmann, der diese Notizen gemacht hat!“
„Danke, Sie werden Ihr Geld bekommen, wie immer in Bitcoins eingezahlt“, versprach Philip und beendete das Gespräch. Er rief daraufhin seine Klientin an. „Er hat wohl doch eine Schwester, es gibt sie wirklich. Es scheint, sie ist verschwunden. Zumindest hat sie jemand als vermisst gemeldet. Sie soll eine Wissenschaftlerin sein.“
„Er hat nur ihren Namen erwähnt, sonst nichts. Er hat wenig über seine Familie geredet. Ich habe nie weiter nachgebohrt.“
„Meine Quelle ist nicht billig.“
„Schon in Ordnung. Ich werde das Geld zusammenkratzen. Tun Sie, was getan werden muss!“
Philip schwieg einen Moment, kratzte sich am Kopf und fuhr fort: „Wenn wir jetzt weiter forschen, könnte der Fall für uns gefährlich werden. Ich halte es immer noch für das Beste, alles auf sich beruhen zu lassen. Mache ich jetzt weiter, werde ich eventuell in ein Wespennest herumstochern. Der Fall seiner Schwester wurde zu den Akten gelegt. Die Akten hat man gelöscht. Das geschah auf Befehl einer Stelle, die über der Polizei steht. Kann sein, der Geheimdienst steckt mit drin. Eventuell waren Ihr Mann und seine Schwester Terroristen!“
„Machen sie weiter“, flehte Karen, „jetzt, wo Sie eine neue Spur haben. Sie sind meine letzte Hoffnung. Sie sind der Beste, ich habe es gleich gewusst!“
„Gut, ich werde weitermachen“, versprach Philip, legte das Telefon aus der Hand und flüsterte: „Das Schicksal sei uns gnädig.“
Kommissar Lehmanns Frau öffnete die Tür. „Hier ist Besuch für dich!“
Hans Lehmann kam aus dem Wohnzimmer. „Gottverdammt!“, rief er erschrocken aus. „Schatz, lass uns doch bitte kurz allein. Ist dienstlich.“
Seine Frau nickte und zog sich zurück. "Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sie gefährden meine Familie. Ich sagte Ihnen doch: Tauchen Sie unter", zische Lehmann.
„Tut mir leid, aber ich habe Sie noch nie zuvor gesehen“, beteuerte Philip.
"Wie immer Sie meinen. Wenn Sie aus der Haustür herauskommen, gehen Sie rechts die Straße entlang. Hinter der nächsten Ecke finden Sie ein Café – Café Maximus heißt es. Warten Sie dort auf mich. Und geben Sie nur acht, dass Sie niemand hier im Haus sieht. Ist Ihre Freundin auch hier?"
„Äh, welche Freundin?“
„Na die Sie immer verfolgt. Ich habe mich geirrt: Sie können ihr vertrauen.“
„Mich verfolgt niemand. Aber vielleicht reden Sie von meiner Klientin, Frau Karen Durga.“
Hans Lehmann nickte. „Das hört sich nach ihr an. Telefonieren Sie mit ihr. Sie soll auch in das Café kommen. Sagen Sie ihr, es sei wichtig!“
Philip nickte. „In Ordnung! Ich bin gekommen, weil ihr Mann verschwunden ist. Hoffentlich können Sie mir weiterhelfen.“
Nachdem Philip gegangen war, atmete Hans Lehmann tief durch, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und ging zum Telefon. „Hallo!“, rief er aufgeregt in den Apparat, „hallo Alice, er war gerade hier, ja, bei mir. Etwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Er tat so, als hätte er mich noch nie gesehen. Er wartet in Café Maximus in der Hauptstraße. Ja, es ist gut, wenn du kommst.“
Er rief seiner Frau zu: „Ich muss dringend weg Schatz. Kann länger dauern!“
Das Café Maximus war fast leer. In der der hinteren Ecken hatte Philip an einen Tisch Platz genommen. Hans Lehmann lief auf ihn zu und setzte sich zu ihm.
„Hören Sie“, sagte Philip, „ich kenne Sie persönlich gar nicht. Ich denke, Sie verwechseln mich mit dem Mann meiner Klientin. Er soll mir ähnlich sehen.“
„Unsinn, Sie sind es!“
„Was, ich soll ihr Mann sein?“
„Nicht, dass ich wüsste. Sie sind aber der Mann, den ich kenne.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden, ich bin zu Ihnen gekommen, da Sie eventuell etwas über eine gewisse Alice wissen. Sie ist die Schwester des Mannes meiner Klientin.“
„Da ist sie!“, rief Lehmann.
Alice kam auf den Tisch zugestürmt, an dem sie saßen. Sie umarmte Philip so fest, dass ihm die Luft wegblieb.
„Es tut mir leid, aber Sie verwechseln mich offenbar. Ich bin nicht der, den Sie glauben, vor sich zu haben!“
„Ich bin Alice, glaube mir, ich würde dich immer erkennen“, sagte sie.
In diesem Moment sprang die Tür zum Café auf und Karen kam herein. Sie entdeckte sogleich Philip und lief außer Puste zu seinem Tisch.
„Was ist so wichtig? Warum haben Sie mich angerufen? Können diese Leute uns weiterhelfen, wissen sie, wo mein Mann abgeblieben ist?“
„Setz dich, Karen“, bat Alice, dann wandte sie sich an Kommissar Lehmann. „Es ist etwas passiert, was gar nicht gut ist: Man hat das Gedächtnis der beiden manipuliert. Ebenso, wie man meines manipuliert hatte. Ich rede von der zweiten, der ungewollten Manipulation. Der erste Eingriff war geplant. Wir nennen es das Pseudogedächtnis. Es besteht aus künstlichen Erinnerungen, sollen helfen, sich in eine fremde Umgebung einzuleben. Man weiß aber gleichzeitig immer, dass diese Erinnerungen nicht die eigenen sind. Es hilft uns, die Rolle zu spielen, die wir benötigen, um unter Menschen zu leben. Wir haben somit einen menschlichen Charakter, eine Vorgeschichte und hilfreiche Erfahrungen, kurz: Eine Art von innerem Drehbuch, das uns aber auch genügend Raum zum Improvisieren lässt. Ein relativ harmloser Eingriff in den Geist. Es ist so, als käme man aus dem Kino und stünde noch unter dem Eindruck eines Films.“
„Was soll das?“, fragte Karen und schaute Philip entgeistert an. „Ist diese Frau verrückt?“
„Bei dir Karen“, fuhr Alice fort, „war es anders. Du bist ein Mensch, eine Infizierte. Du hast das Geschenk, die Fähigkeit erhalten. Die Infektion hat die Einheit offenbart. Mit Philip und mir verhält es sich aber anders. Was für dich wie eine Offenbarung schien, ist für uns unsere Natur.“
Philip schüttelte verständnislos den Kopf. „Soll das jetzt heißen, ich bin kein Mensch oder was?“
Alice erläuterte weiter: „Eigentlich sollte man langsam vorgehen in einem solchen Fall. Ich muss aber schnell zur Sache kommen, um eure Erinnerungen zu aktivieren. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir sind im Krieg, wir haben einen Feind. Wir brauchen dich jetzt Philip!“
„Moment, also der Reihe nach. Ihr seid angeblich außerirdisch. Ist das so?“
„Nein Philip, der Herr Kommissar hier ist menschlich, ebenso wie Karen. Sie wurden infiziert. Das Alien bist du! Wir beide sind Außerirdische.“
Philip schüttelte ungläubig den Kopf und fragte höhnisch: „Und der Feind sind wohl die Menschen, die noch nicht infiziert wurden, nehme ich an!“
Alice verneinte. Die Menschen seien keine Bedrohung, die Gefahr komme vom Mond Europa.
„Moment, es wird immer wirrer. Laut dieser Story, die wir hier aufgetischt bekommen, sind wir die Aliens. Wir müssten also vom Eismond Europa stammen. Unsere Feinde kommen auch von Europa. Habe ich das jetzt richtig verstanden?“
„Du reagierst momentan wie ein Mensch, deshalb ist die Kommunikation mit dir nicht einfach. Du willst alle Ereignisse wie Perlen auf eine Kette ziehen. Das Universum aber ist keine Perlenschnur, sondern es gleicht mehr einem Netz, das sich ständig verzweigt. Wir kommen von Europa, lebten aber kurzfristig noch in der Erdkolonie. Sie befindet sich in der Tiefsee. Aber zurück zum Gedächtnis“, sagte Alice und zeigte dann auf Karen. „Ihr Gedächtnis ist leicht zu reparieren und es werden keine Schäden zurückbleiben. Sie hatte zuvor auch kein Pseudogedächtnis erhalten.“
„Wenn das alles stimmen sollte, dann könnte man es ja bei ihr gleich reparieren“, sagte Philip und sah Alice herausfordernd an.
„Wir werden jetzt woanders hingehen. Es wird eine Stunde dauern, bis ihr Geist das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Die Infizierung wird dann wieder wirken und dabei helfen, alles zu integrieren.“ Alice wandte sich an Karen. „Du musst verstehen, dass es ein kleiner Schock sein wird. Ein wenig wie Sterben. Du wirst verteidigen wollen, was du jetzt glaubst zu sein. Aber es ist nicht wahr, das bist nicht du. Kommt mit, wir sollten aufbrechen!“
„Ja wohin denn nur?“
„Bis zum nächsten Treppenhaus Karen. Du kannst wieder nach Hause“, sagte Alice zu Kommissar Lehmann gewandt, „aber warte, ich habe noch etwas für dich. Ich sehe, du leidest an Krebs, Streukrebs. Wir können die Schicksalslinien nicht beliebig ändern. Manches Mal aber sind wir, die es scheinbar können, Teil des Schicksals, das einen unvorhersehbaren Haken schlägt. Eines Tages wirst du sterben, aber der Tag wird nicht so bald sein. Deine eigene Kraft ist noch nicht so stark, um das zu tun, was ich tun kann. Heute werde ich dein Engel sein, morgen wirst du der Engel von jemand anderen sein; dann wirst du sehen, dass das Universum nichts anderes als Liebe ist.“ Alice öffnete die Hände und pustete, als wolle sie etwas wegblasen, was darinnen lag. Ein kleiner Lichtstern flog zu Hans Lehmann und Zerplatzte über seinem Kopf. Tausend Funken prasselten auf ihn herab. „Deine Aufgabe ist noch nicht zu Ende, wir brauchen dich, die Menschen brauchen dich. Ich weiß, du wirst deine Fähigkeiten zum Besten nutzen, zur Befreiung der Erde.“ Alice erhob sich. „Es ist Zeit zu gehen.“
Philip schaute sie an, neugierig und zweifelnd. Sie folgten ihr, als sie das Café verließ. Hans Lehmann blieb schweigend zurück.
Gleich neben dem Café Maximus hielten sie vor einem Wohnhaus. Alice klingelte irgendwo und die Haustür öffnete sich. Sie traten ein. Verwirrt blickte Philip sich um. Eine Berglandschaft lag vor ihnen. Sie standen auf einer Almwiese.
„Hier sind wir ungestört. Da hinten ist eine Hütte. Kommt mit“, sagte Alice. „Ach so, was da soeben passiert ist, das nennen wir Rippen. Ich habe einen Tunnel gebaut.“
„Das ist Zauberei, oder ich träume jetzt nur. Sie ist wohl tatsächlich eine Außerirdische“, meinte Karen.
„Sie ist gefährlich“, warnte Philip.
Alice griff sich ans Herz und atmete tief ein und aus. Frieden lag über allem. Ein Strom von Vertrauen durchdrang ihn. So gingen sie zu der kleinen Almhütte und traten ein. An der Wand hing ein Hirschgeweih. Der Boden knarrte unter den Schritten. Es roch nach Fichtenholz und Bergwiese.
„Liebe Karen, liebe Freundin“, sagte Alice, wobei ein Licht aus ihrer Brust strahlte. Karens Atemzüge beschleunigten sich, bald weinte sie und bald lachte sie, bis abermals Tränen aus ihren Augen flossen. „Im Nebenzimmer steht ein Bett, dort kannst du dich hinlegen“, bot Alice an und begleitete Karen dorthin.
Philip sah, wie Karen die Augen schloss und sich hin und her wälzte, bis sie in einen scheinbar tiefen Schlaf fiel.
„Was ist mit ihr passiert?“, fragte er.
Alice sagte: „Sie ist den Prozess des doppelten Erinnerns durchgegangen. Sie erlangte ihr Gedächtnis zurück und spürte erneut die Macht der Infektion, der Urerinnerung, die ihr offenbart wurde. Nach einem kurzen Todeskampf fiel die falsche Persönlichkeit ab. Sie hat sie als das erkannt, was sie war: ein Traum. Ihre Ehe, ihre Kindheit, ihr ganzes Leben, das weiß sie nun, war nicht mehr gewesen als Einbildung. Unter der Schlacke der Illusion hat sie eine andere Erinnerung gefunden, eine andere Kindheit, das Leben, das wirklich ihres war. Und wieder fühlte es für sie an wie Sterben, schmerzhaft und süß. Nach einer Stunde wusste sie alles: Woher sie gekommen war, wohin sie gehen würde. Sie konnte wieder SEHEN! Sie lebt nicht mehr in der Illusion, getrennt zu sein vom großen Fluss, vom Wasser des Lebens, vom Zentrum der Welt, diesem Herzen aus Licht.“
Als Karen sich erhob, sagte sie: „Die Irrtümer sind verschwunden, ich weiß, was wahr ist!“
Alice lächelte. „Schön, dass deine Augen offen sind.“
„Die Regierung hatte recht: Es gibt Aliens auf der Erde“, sagte Karen zu Philip, der immer noch grübelte, was hier vor sich gehen mochte.
Alice erklärte: „Ja, es gibt nicht nur Aliens, es existiert auch ein böses Wesen, dieses ist körperlos. Es hat sich im Geist der Menschen festgefressen. Es zeigt sich als menschliche Ignoranz. Es hat allen die Unschuld geraubt, hat die Gedanken der Menschen verdreht. Je höher die Menschheit glaubte zu steigen, umso tiefer ist sie gefallen. Man hat begonnen, sich gegenseitig abzuschlachten, und die größten Schlächter als Helden zu feiern. Man gründete Religionen und glaubte an Ideologien. So baute man eine Mauer zwischen sich und der Wahrheit. Die Menschen verteidigten ihren Glauben mit dem Schwert, kämpften für ihre Freiheit, die nichts anderes als Gefangenschaft ist. Sie klammern sich leidend an ein Leben, das sich nicht vom Tod unterscheidet. Sie haben sich vom Herzen des Universums abgewendet. Aber es hilft ja nicht, man kann es nicht übersehen, das Feuer der Wahrheit brennt in ihnen. Ja, die Wahrheit macht Angst, sie zerstört jede Illusion. Als das Leiden groß genug war, haben wir eingegriffen.“
Philip sah Alice eine Weile schweigend an, dann sagte er: „Und nun kommt der Satz: Irgendetwas ist schiefgelaufen?“
„Sagen wir mal: Etwas ist quer gelaufen. Manches Mal kreuzen sich zwei Schicksalslinien. Unser Gegner bewegt sich auf einer anderen Linie.“
„Du musst dich erinnern!“, beschwor Karen Philip.
Alice sprach: „Einer kann das Unheil abwenden. Das bist du Philip. Dazu müsstest du dich allerdings erinnern. Es ist gefährlich, denn deine Erinnerungen wurden zu oft verändert. Wir müssten viel Zeit haben. Aber die Zeit ist knapp. Die ersten eingepflanzten Erinnerungen sind harmlos, sie sollten nur die Anpassung an die Erdengesellschaft begünstigen. Sie wurden als künstliche Erinnerungen durchschaut. Als ein Angriff auf deinen Geist stattfand, ist dein Bewusstsein vollkommen mit diesen Pseudoerinnerungen verschmolzen, sodass sie für dich zur Wirklichkeit geworden sind. Sie überlagerten deine wahre Identität. Später erfolgte ein weiterer Angriff auf dein Gedächtnis. Als du dich zu verändern begannst, hat Karen dich infiziert, in der Hoffnung, sie könne dich damit heilen. Und ja, das kann durchaus funktionieren, um die Selbstheilung in Gang zu setzen. Eine Infektion ist nichts anderes als eine Erinnerung daran, was das eigene Wesen im Grunde genommen ist. Sie konnte dir nie die ganze Wahrheit erzählen, das hätte zu einem Schock geführt. Deshalb hat sie nur vorsichtige Andeutungen machen können, um deinem Gedächtnis auf die Spur zu helfen. Na ja, dann wurde auch sie ausgeschaltet. Zweimal warst du bis jetzt in der Enge gefangen, jeweils in einem eingebildeten Ich. In Wahrheit war da nichts, nur eine Vorstellung, ein Glaube. Dein ursprüngliches Sein und deine echten Erinnerungen wieder freizulegen, ist ein riskanter Eingriff. Man hat dir die schlimmste Verletzung zugefügt, die man sich denken kann: Du lebst subjektiv gesehen in einer Isolationshaft innerhalb einer falschen Persönlichkeit. Du gaukelst dir ein Universum ohne Türen vor, in dem es vor Wänden nur so wimmelt. Wir haben keine Wahl, du musst dich erinnern. Das ist deine Schicksalslinie.“ Sie berührte seine Stirn mit ihren Lippen und sagte dann: „So mag geschehen, was zu geschehen hat.“
Auf Philips Stirn flimmerte ein winziges Licht. Es drang in seinen Kopf ein und lockte ein anderes Licht an, das in der Tiefe ruhte. Das eine Licht glühte warm und angenehm; das andere aber war grausam. Das eine Licht hieß Leben; das andere nannte man den Tod. Bald erloschen die zwei Lichter und es blieb nichts als Finsternis. Und doch war darin ein Tunnel zu erkennen, wie ein Loch in der Erde, das in einen Abgrund von Schwärze hinabführte. Ich bin Philip, dachte es in ihm, und ich muss jetzt sterben. Er fiel tief, sehr tief. Von unten flammte ihm Licht entgegen, und er wusste nicht, ob es das kalte Flimmern des Todes, oder die warme Flamme des Lebens war. Als er mit dem Licht zusammenstieß, wurde es dunkel und still, wie noch nie eine Stille still war. Eine sternlose Nacht lag wie ein flaumiges Tuch über allem. Funken flogen auf, sie malten Bilder auf eine unendliche Leinwand. Zuerst erschienen einfache abstrakte Formen, Kreise, Rechtecke, Linien, dann wurde alles komplexer, füllte sich mit Leben, bewegte sich. Es hüpfte, sprang, schwamm, pulsierte, bis sich eine Welt voller Eindrücke offenbarte. Anfangs wirkten die Bilder und Empfindungen schemenhaft; bald aber wurde alles deutlicher, bis er klar erkannte, was vor ihm lag: Seine eigene Kindheit, er sah das Leben auf Europa, auf der fernen Heimat unterhalb der Eisschicht. Er entdeckte seine Eltern und andere leuchtende Wesen, schwerelos glitten sie durch das Wasser. Er nahm sich selbst wahr inmitten einer Schar von Kindern. Sie berührten sich an den Flossen und spielten damit, immer neue Gefühle und Gedanken im Kreis herumwandern zu lassen. Er erinnerte sich daran, wie er staunte, als er zum ersten Mal eine Gruppe Arbeitsroboter auf dem Meeresboden entlangmarschieren sah. Jeder von ihnen lief auf acht Beinen und verfügte über zwei beeindruckende Greifarme. Eines Tages, das versprach er sich, würde er auch so ein Ding bauen.
„Vielleicht wirst du ja Ingenieur, oder du verfügst über eine andere Begabung. Unsere Herzen sind groß, wir nehmen immer das mit Begeisterung auf, was die Linie des Schicksals bringt“, sagte sein Vater.
In diesem Augenblick hatte Philip begriffen, wie das Leben funktionierte. Die Eltern lehrten ihm, die Welt mit dem Herzen zu sehen und wie man kraftvoll rippt. Das waren wesentliche Fertigkeiten, besonders wenn man einem Blug begegnete. Der erste Blug, der ihm über den Weg schwamm, sah scheußlich aus. Es war ein fettes Tier, das gierig sein Maul aufriss und seine acht Zahnreihen zeigte. Seinerzeit war ein Gedicht sehr beliebt:
Der Blug hat scharfe
Zähne,
Die bringen viel an Leid.
Mehr noch an Schmerzen fasst
die Schale,
Die Schale, die ich bin;
Während ich trage
Mein
zerrissenes Kind
Auf der Leichenbahre
Meiner Erinnerung!
Er füllte keine Schale mit Schmerzen; denn er konnte gut genug rippen, um den Blug umzulenken. Das Tier spreizte seine fünf Flossen und zog ab, ohne zurückzuschauen. Auch erinnerte er sich an die großen Städte, hell flimmernd trieben sie durch das Wasser. Er sah seine Schwester Alal vor sich, dieses kleine leuchtende Wesen. Sie tanzte verspielt, schaute bewundernd zu ihm auf und sagte ihm, dass er immer bei ihr bleiben müsse und sie nie verlassen dürfe. Er versprach es und wechselte dabei zur Unterstreichung seiner Absicht die Hautfarbe. Auch legte er ihr liebevoll einen seiner Handarme und einen Flossenarm auf den Kopf, wobei sie zufrieden Wasser aus dem Mund blies.
Er dachte an die Schule, an all die klugen Lehrer, daran, wie sie kleine Lichtschimmer aus ihren Herzen aussandten, die sanft in die Kinder hineinstrahlten. So wurde Wissen vermittelt. Die neue Information breitete sich langsam in einem aus und verknüpfte sich als kunstvolles Geflecht mit dem Wissen, über das man schon verfügte.
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