Montag, 24. Januar 2022

                                     TEIL 14



Die Pläne für den Rover lagen fertig in der Schublade. Dieses kältefeste Fahrzeug bedeutete viel für die Mission der ESA, mit ihm könnte man den Mond Europa genauer untersuchen, als es bisher möglich gewesen war. Philip bekam eine Assistentin zur Seite gestellt. Sie hieß Karen. Obwohl sie ein Mensch war und wie alle ihrer Art einen gewissen Wahnsinn in sich trug, erschien sie ihm sehr umgänglich. Als er sie eines Tages ansah, empfand er eine tiefe Zuneigung zu ihr. Er wusste nicht, inwieweit seine implantierten Erinnerungen daran beteiligt waren; jedenfalls kam er ihr einmal sehr nahe, und er hätte sie beinahe geküsst. Er stoppte aber seine Bewegung, da ein Impuls in ihm sagte, dass der Ort an dem sie sich befanden, nicht der geeignetste dafür sei, denn sie waren im Labor bei der Arbeit. Bald holte er den aufgeschobenen Kuss nach. Sie schmeckte nach Weibchen, obwohl sie ein Mensch war. Die in der Tiefseekolonie eingepflanzten Erinnerungen und sein humanoider Körper hatten ihn menschlicher werden lassen als geplant. Sie sollte die Erste sein! Er wusste dank seiner angeborenen Fähigkeiten, dass Professor Pull im Kellergeschoss einen Raum für sich reserviert hielt, in dem er private Bastelarbeiten durchführte. Ein Umstand, den Philip nutzen wollte, um eine besonders schöne Form der Infektion für Karen zu kreieren. Gewiss, er hätte einfach ein Leuchten aus seinem Herzen aussenden können. Es wäre sanft in ihren Geist eingesickert, hätte dort alle Irrtümer hinweggeschwemmt, bis genug Raum entstanden wäre, damit das Licht der Erkenntnis sich in ihrer Seele hätte ausbreiten können. Aber sie war die Erste auf dieser Welt, die er infizieren würde, die dem Irrsinn entkäme, unter dem hier alle litten. So führte Philip Karen in den Kellerraum, in dem Professor Pull für gewöhnlich mit leidenschaftlich Holzspielzeug für seine Enkel zusammenschraubte. Philip musste sich konzentrieren. Es funktionierte alles recht gut. So baute er im geheimen Raum des Professors für Karen ein Szenario auf, das ihr suggerierte, es würde sich dort ein feinstoffliches Raumschiff befinden, mit dem man quer durch den Weltenraum reisen könnte. Natürlich wäre keine Kreatur fähig gewesen, dergleichen zu erschaffen, wenn sie nicht rippen konnte. Aber das wusste Karen nicht. Er wollte, dass sie sich ein wenig so fühlen würde, wie bei den großen Festen auf dem Mond Europa, bei denen man ins Herz des Universums reiste. Bald saßen sie in einem Raumschiff. Und damit sausten sie bis zum Zentrum des Universums. So erlebte es Karen zumindest. Philip hatte einfach ihren Geist mit sich gezogen, als er immer tiefer in das Zentrum hineinschaute, das in ihm leuchtete und den süßen Duft von Zeit- und Raumlosigkeit verströmte. Als die Reise, die in Wahrheit nicht durch das Universum, sondern nach innen geführt hatte, zu Ende war, verankerte sich die Infektion tief in Karens Geist. Von diesem Augenblick an nannte sich jeder ihrer Atemzüge Freiheit.

Sie lächelte. Er wollte von ihr wissen, warum sie so fröhlich aussah. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie, „aber es ist mir so, als würde Großartiges geschehen.“

„Das mag sein“, stimmte er ihr zu, „es ist möglich, dass etwas Wunderbares passieren wird. Nein, es ist nicht nur möglich, es ist sehr wahrscheinlich!“

Und so kam es auch, Schritt für Schritt durchbrach Karens Geist seine Begrenzungen. Sie löste sich immer mehr von Meinungen und Vorurteilen; sie verzichtete auf Rechthaberei; sie hörte damit auf, in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu leben. Sie lebte einfach. Alles begann zu fließen, durfte kommen und gehen, ohne dass sie etwas festhalten oder wegdrücken musste. Ihr Körper bewegte sich geschmeidiger als zuvor und ihr Lächeln wandelte sich von einer Höflichkeitsform zum Lächeln derer, die das Meer der Seligkeit kennen.

„Du wirkst in letzter Zeit recht zufrieden“, bemerkte er wie nebenbei, als sie an der Kamera des Europarover arbeiteten.

„Es ist seltsam“, sagte sie, „etwas hat sich verändert: Es ist so, als sei ich geboren worden, und wäre zuvor tot gewesen. Ich meine: Als hätte ich nur geglaubt zu leben. Erst habe ich kein Ich mehr in mir gefunden, dann kam es mir vor, als hätte ich keinen Körper, sondern als befände sich alles, auch der Körper, in mir. Die Grenzen, sie sind geschmolzen. Aber das ist nicht mehr wichtig. Das ist tot, weil ich darüber reden kann. Alles, was man benennen kann, ist Staub im Wind.“

Sie stand vor ihm und füllte den Augenblick mit Schönheit aus. Die Welt waberte wie eine zarte Energiewelle. Er liebte diese Erdbewohnerin. Sie war kein gewöhnlicher Mensch mehr, keine von den bedauernswerten Kreaturen, die sich in ewigen Fragen und Kämpfen wanden, angetrieben von Gier, von Angst. „Karen“, sprach er und umfasste mit seinen Händen ihre Schultern, „du hast einige Irrtümer losgelassen, dennoch warten noch viele Wunder auf dich. Nach und nach wirst du verstehen – nach und nach.“

Einmal ließ er absichtlich einen Teller fallen. Sie sah erschrocken, wie der Teller mitten in der Luft stehen blieb. Einige Sekunden später fiel er, der Schwerkraft nachgebend, zu Boden und zerbrach.

„Du hast grade das erste Mal gerippt“, sagte Philip, „instinktiv gerippt. Bald wirst du lernen, es bewusst zu tun.“

Mit Philips Hilfe hatte sie bald raus, wie man wirklich gut rippt. Auch konnte sie andere infizieren. Das größte Wunder aber war und blieb ihre Liebe. Es kam Philip vor, als wäre sein ganzes Leben auf dem Mond Europa ein Traum gewesen, und die Gegenwart, Karen, er und die Erde, würden die einzige Realität sein. Aber er wusste auch, dass dieses Gefühl daher rührte, weil seine Pseudoerinnerungen sich mit den echten Erfahrungen vermengten.

Die Monate vergingen, seine Schwester Alice gebar eine Tochter. Ein Menschenkind. Zuvor hatte man ihren Körper noch einmal auf der Zellebene nachbessern müssen, damit auch alles klappte. Sie hatte sogar geheiratet, einen von der Erde. Inzwischen wurden immer mehr Menschen infiziert und eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Niemand vermochte aufzuhalten, was geschah. So konnten immer mehr Erdenbewohner ihre Verblendung abschütteln und als freie Wesen ihrer Bestimmung folgen.

Philip schaute tief in den Raum hinein, in dem die Fäden des Schicksals sich verflochten, und er erkannte, wie der Widerstand auf der Erde wuchs. Viele sträubten sich gegen ein Leben in Wahrheit und im Glück. Dieser Widerstand bezog seine Kraft aus den Ideologien, welche die Regierungen und die Konzerne den Völkern verordnet hatten, per Gesetz oder indem man sie manipulativ einlullte. Man könnte, sagte sich Philip, den Fortschritt beschleunigen und die Machtstrukturen verändern. Selbstverständlich wollten die Mächtigen an ihrer Kontrollgewalt festhalten, wobei so getan wurde, als wäre es das Beste für alle. Es stand Angst dahinter, die entsetzliche Angst, die hehren Werte der Gesellschaft, zum Beispiel die Gier und der Egoismus, könnten bald nicht mehr bestehen. Mit dem Druck, der auf die Menschen ausgeübt wurde, könnte man arbeiten. Druck erzeugt Gegendruck. Der Widerstand würde wachsen. Das fehlende Vertrauen in die bestehende Ordnung würde den Geist der Menschen in einen labilen Zustand versetzen. Damit wären viele offen für die Infektion. Es galt das Misstrauen zu schüren, zugunsten einer besseren Zukunft.

Hinter verschlossenen Augenlidern sah er, worauf er gehofft hatte: die Lösung – ein achtbeiniges Ding – einen modifizierten Arbeitsroboter, wie man ihn auf dem Meeresgrund von Europa einsetzte. Er würde ihn bauen und dann … Als Philip darüber nachsann, drang ein gelblicher Nebel in seinen Geist ein. Alles verwischte, Gedankenketten zerrissen und die einzelnen Gedanken zerstreuten sich wie Perlen, die auf einem Parkettboden fielen.

„Chrochro, bist du das?“, rief Philip.

„Alter Freund. Wir haben uns verändert. Sieh nur, wie wir aussehen: Wir sind Landtiere geworden und bewegen uns träge ohne Flossen fort. Ich habe diese Form kurzfristig angenommen. Es musste sein, zum Wohle Europas und seiner Kolonien. Dir schwirren mittlerweile viele Menschengedanken im Kopf herum, dazu gesellen sich die Erinnerungen, die man dir zur besseren Anpassung eingepflanzt hat. Du scheinst zu wenig auf die Fäden des Schicksals zu achten; du hättest ansonsten gesehen, dass sich unsere Wege hier kreuzen. Du bist unachtsam geworden. Bald wirst du diese Begegnung vergessen haben. Ich manipuliere grade deine Erinnerungen. Du wirst das, was ich dir in deinen Kopf einsetze, für real halten und demnächst meinen, du wärst immer ein Mensch gewesen, wirst deine Ziele aus den Augen verlieren. Selbst die Erkenntnis der Wahrheit ist bald nicht mehr für dich als ein ferner Traum. Auch das Rippen wirst du vergessen. Deine richtige Erinnerung schmilzt dahin.“

„Seit wann manipulieren wir die Erinnerungen anderer gegen ihren Willen?“, fragte Philip.

Auf Chrochros Gesicht, blass und hager, zeigten sich keine Emotionen. „Manches Mal steht das Wohl vieler über den Rechten einzelner. Gewisse Kreise der Regierung Europas betrachten die Entwicklung auf der Erde kritisch. Die Kolonie in der Tiefsee beansprucht immer mehr Unabhängigkeit. Sie verbitte sich sogar die Einmischung von oben, also von den Mitgliedern des obersten Rates auf Europa, heißt es. Natürlich bekennt sich die Kolonie weiterhin zur Kooperation bereit und sieht sich als Teil unseres Volkes. Der Rat der Kolonie deutet allerdings die Schicksalsfäden der Erde anders als die Regierung Europas. So weit, so gut. Wir sind bekannt für Toleranz und diplomatisches Feingefühl. Dein Vorhaben aber erscheint nicht unbedenklich. Anders gesagt, ich erkenne darin eine gewisse Gefahr. Würde es allein der Erforschung der Menschheit dienen, fände niemand ein Problem darin. Allerdings bist du dafür eingetreten, aktiv Veränderungen herbeizuführen. Das bedeutet nichts anderes, als diesen Wesen eine Macht zu geben, die sienur schwer kontrollieren können. Mit anderen Worten: Auf Europa sehen gewisse Kreise in der Erde eine künftige Bedrohung. Ich habe die nicht einfache Aufgabe übernommen, diese Bedrohung abzuwenden, bevor sie ihre volle Kraft entfalten kann.“

Philip blickte Chrochro fest in die Augen. „Wir geben ihnen keine Macht, sie ist bereits in ihnen, wie sie in allem ist. Ich habe nur geholfen, den Schleier zu lüften, der ihnen den Blick auf ihr Erbe verhüllt. Irgendwann würden sie es auch aus eigener Kraft schaffen. Es ist der Faden ihres Schicksals, dass es gerade jetzt geschieht.“

„Ach, komm mir doch nicht mit philosophischen Allgemeinplätzen. Gewiss, alles folgt seiner Schicksalslinie, aber verschiedene Linien befinden sich nicht immer in einer harmonischen Beziehung; sie überkreuzen und verheddern sich, bis daraus eine weitere Linie entsteht, die der großen Harmonie des Universums folgt.“

„Du glaubst, du hast eine Mission“, stellte Philip verständnisvoll fest.

„Vielleicht, eine Mission, die Europa schützt und einiges an Unglück verhindern kann.“

Philip meinte, er könne keinen gefährlichen Faden erkennen.

„Es ist einer dieser spontanen Fäden. Ohne Vorwarnung kriechen sie aus dem Zentrum wie Würmer heraus“, entgegnete Chrochro.

„Spontane Linien – eine Theorie längst überholter quantenmechanischer Modelle!“

„Wie dem auch sein mag“, fuhr Chrochro fort, „alles wird gut mein Freund. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen. Wir alle spielen unsere Rollen im kosmischen Drama.“

„Ich weiß, was du sagen willst: Wir haben Krieg. Europa befindet sich im Kampf mit seiner Kolonie auf der Erde. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen. Es wird gewiss keine Toten geben. Nur die Erinnerungen sterben, das innere Auge wird sich trüben, man lebt als Blinder unter Blinden.“

Chrochro versuchte, seine Stimme sanft klingen zu lassen: „So ist es üblich auf diesem Planeten: Man lebt vor sich hin und er kennt das Licht nicht. Alles wird gut. Es kommt kein wirklicher Krieg. Ich beende die Anfänge der Zwietracht. Du schläfst gleich ein und erinnerst dich nicht mehr an dieses Gespräch. Dein Leben sinkt Stück für Stück auf den Grund des Vergessens. Es wird nicht wehtun. Lebe wohl mein Freund!“

„Lebe auch du wohl“, sprach Philip, schloss die Lider und fiel in einen tiefen Schlaf.


Als Philip erwachte, wusste er noch, dass es wichtig war, andere zu infizieren; er wusste noch, woran er arbeitete und dass sein Name Philip lautete; auch spürte er das Zentrum des Universums in seinem Herzen; er spürte die Schicksalslinie weiterhin, nur sein Leben auf Europa verblasste immer mehr.

Bald hielt er sich für einen Menschen, für einen, der zwar klar sehen und rippen konnte, aber ansonsten ganz normal war. Als Karen eine Anspielung darauf machte, dass er ein Außerirdischer sei, hielt er das für einen Witz. Ob es Außerirdische überhaupt gab, sollte ja erst untersucht werden. Dazu diente das Europaprojekt der ESA.

Einige Tage später meldeten sie sich dann – die Außerirdischen. Diese Wesen waren von weit hergekommen. Er konnte sie innerlich sehen, spürte, dass sie ihn unterstützen würden. Sie stammten vom Jupitermond Europa. Er blickte tief in den Raum hinein, in dem diese komischen Linien zitterten, und dort erkannte er, was zu tun war. Eine der Linien gehörte zur Erde. Es war die Lebenslinie des Planeten. Und zwischen all dem zitterte ein unscheinbarer Faden. Das war sein Schicksal, sein kleines zerbrechliches Leben. So nichtig es schien, so ahnte er doch: Es würde eine wesentliche Rolle im Geschick der Welt spielen. Er konstruierte in einem geheimen Raum des Institutes eine achtbeinige Erkundungssonde. Karen und Alice halfen dabei. Dieses Gerät, das wusste er, würde ein wichtiges Teil in einem kosmischen Puzzle sein. Nachdem sie die Spinne gebaut hatten, schwand sein Gedächtnis weiter, bis er nichts mehr vom Zentrum des Universums ahnte, auch nichts vom Rippen. Immer größere Erinnerungslücken klafften in ihm. Verwirrung fraß sich durch seinen Geist. Bald war er nicht mehr fähig, am Institut zu arbeiten. In der Folge zeigten sich bei ihm psychische Auffälligkeiten, Panikattacken und Unfähigkeit, sich an die wesentlichsten Dinge zu erinnern.

Jetzt sah er auch noch den Rest vor seinem inneren Auge: Sich selbst als Kratomabhängigen, der nicht mehr wusste, wer er war; er sah, wie er seine verschollene Schwester suchte, wie er Karen begegnete, aber sie nicht erkannte. Dann kam der böse Schluss mit Chrochro, der, bevor die Erinnerung wiederkommen konnte, löschte, was zu löschen noch übrig geblieben war.


Während Philip dalag und sich all dessen besann, sagte Karen zu Alice: „Er hätte es gewiss geschafft. Ich habe versucht, ihn vorsichtig an seine Erinnerungen heranzuführen. Sogar einen kleinen Bericht habe ich für ihn geschrieben, über seine Arbeit am Institut. Natürlich ohne zu erwähnen, dass er kein Mensch ist. Andeutungen habe ich gemacht, feine Andeutungen, damit Erinnerungen aufsteigen können, ohne dass er davon einen Schock bekommt. Aber dann wurde alles zunichtegemacht.“

Alice nickte. „Ja, alles wurde von Chrochro boykottiert, angeblich im Dienste der Regierung von Europa. Damals, als du mich angerufen hast, mir gesagt hast, wie es Philip geht, war ich schon gewarnt. Wenn jemand, der von Europa kommt, sich für einen Menschen hält, ist das wirklich alarmierend! Ich habe in den Raum mit den Schicksalsfäden hineingeschaut, da wurde mir die Gefahr bewusst. Als Chrochro mich angriff, war ich vorbereitet. Ich hatte mir einen Schutz gerippt, eine geistige Mauer, die sich um meine Erinnerungen zog. Aber Chrochro ist stark. Auch ich wurde geschwächt, konnte nicht mehr rippen. Ab und an hielt ich mich für einen Menschen. Philip hat im Gegensatz zu mir die volle Dosis abgekriegt. Ich weiß nicht, wie gut er das überstehen kann.“

„Wir können nur hoffen, obwohl die Hoffnung die Schicksalsfäden nicht neu ordnen wird. Ich war voller Zuversicht, als ich Philip die Adresse von einem deiner Kollegen per Mail habe zukommen lassen, damit er eine Spur finden konnte, einen Weg zu dir. Ich habe geglaubt, ihr hättet noch eine innere Verbindung. Du warst verschwunden, Philip wusste nicht mehr, wer er ist. Ich hatte Angst. Dich konnte ich nicht orten in meinem Geist. Chrochro hat das wohl abgeblockt.“

„Gewiss“, sagte Alice, „gewiss hat er das. Nach seinem Angriff auf mich war ich wehrlos, als sie unser Team entsorgten. War nur noch ein schwacher Mensch. Chrochro hatte vorübergehend Teile meiner Pseudoerinnerung derart verstärkt, dass ich sie für meine wirkliche Vergangenheit hielt. Meine Rolle als Wissenschaftlerin funktionierte somit weiterhin reibungslos.“

„Ja, deine Rolle funktionierte noch Alice. Bei Philip ist alles zusammengebrochen, selbst seine Erdenidentität zerbröckelte nach und nach. Als ich merkte, dass es dich erwischt hatte, mit was auch immer, denn ich wusste ja nichts von diesen Chrochro, habe ich dich sogleich infiziert. Ihr hattet gesagt, auf Europa benutzt man das Infizieren als Medizin. Aber du wurdest nicht wieder gesund. Bei Philip hat es auch nicht gewirkt. Das heißt, es hat nicht wirklich versagt, zumindest nicht bei dir, es brauchte allerdings einiges an Zeit, um zu wirken. Dann wurdest du auch noch zu allem Überfluss entführt.“

„So war es“, bestätigte Alice. „Wir hatten im Auftrag der ESA die Spinne untersucht, die Batterie isoliert und sie als außerirdisches Objekt erkannt. Das hätte die Propaganda gut benutzen können. Endlich ein Beweis für exoteristisches Leben, für eine Gefahr, gegen die man sich mit allen Mitteln rüsten muss. Das aber wurde von unserer zweiten Entdeckung zunichtegemacht. Die Kamera des außerirdischen Fundes besaß optische Linsen aus irdischer Produktion. Somit würde immer der Verdacht bestehen bleiben, dass es sich bei der Spinne um kein außerirdisches Objekt handelte. Offenbar waren die verantwortlichen Regierungsstellen nicht kreativ genug, um unser Werk als gemeinsame Produktion von irdischen Terroristen und außerirdischen Aggressoren zu verkaufen. Jedenfalls passte ihnen unsere Entdeckung nicht in den Kram. Wissenschaftler gelten als unzuverlässig, was ihre Eigenschaft als Geheimnisträger betrifft. Nicht immer gelingt es, aus ihnen gehorsame Roboter zu machen. Man wollte die Spinne als zweifelsfrei außerirdisches Produkt darstellen und als Beweis für eine fremde Intelligenz nutzen, der freilich nicht zu trauen ist. Darauf gründeten sie ihre Propaganda. Sie mussten nur noch die Aliens als gefährlich darstellen, schon konnten sie den Überwachungsstaat guten Gewissens weiter ausbauen. Man sehnte sich nach den Aliens, nach der ultimativen Rechtfertigung, die Bevölkerung mit allen Mitteln unter Kontrolle zu halten, damit diese sich nicht irgendwann dreist gegen ihre Führer erhebt. Jede Kritik an den Verhältnissen ließe sich als von Aliens inszeniert darstellen. Um das nicht zu gefährden, hat man das Forschungsteam, also uns, entsorgt. Wir, die wir an dem Projekt gearbeitet haben, verschwanden einfach. Man hat uns an einen ablegenden Ort gebracht und eingesperrt. Gefangen von Menschen, die nicht ahnten, wer ich wirklich bin, erinnerte ich mich schemenhaft an ein anderes Leben, eines, das ich auf Europa geführt hatte. Es war wie ein Traum, was mir da in den Kopf kam, nichts Reales. Dann tauchte ein Polizeikommissar auf, Hans Lehmann – ein Infizierter, der gerade zu seiner Kraft gefunden hatte. Seine Gegenwart vollendete meine Genesung. Ich konnte mich wieder erinnern, wer ich war: ein Kind Europas. So bin ich ausgebrochen. Keine Mauern und keine Gitter können einen freien Geist aufhalten.“

„Dieser Chrochro hat also nachlässig gearbeitet?“

„Was dich betrifft Karen, so hat er dich nicht als große Gefahr gesehen. Du bist nur ein Mensch für ihn gewesen, wenn auch ein infizierter. In meinem Fall hatte er mit dem Faktor Hans Lehmann nicht gerechnet. Manches Mal entgehen einem Schicksalsfäden. Das wahre Sehen ist nicht so einfach. Je tiefer man blickt, umso unschärfer werden die Konturen. Letztlich müssen wir so oder so dem großen Schicksalsfaden folgen, der aus unzähligen winzigen Fäden geflochten ist.“

„Das müssen wir wohl“, stimmte Karen zu. Sie sah Alice nachdenklich an.


Philip, der eigentlich Philphil war, ein Sohn Europas, schwebte in einem uferlosen Raum. Unter sich erblickte er seine Vergangenheit. Würfel sah er aufgetürmt, sie bestanden aus einzelnen Erinnerungen. Es waren Datenblöcke, leblose Informationen. Er blickte auf und erkannte über sich die tausend Fäden des Schicksals, rasend verflochten sie sich miteinander und trennten sich wieder. Weiter und weiter schaute er in die kommende Zeit hinein.

„Die Zeit ist eine Illusion, eine trügerische Tänzerin. Sie bewegt mit ihrer Hand unzählige Schleier, ihre Flossenarme verrenkt sie derart, dass niemand wissen kann, wohin sie genau schwimmt“, hörte er es telepathisch sprechen.

Er schaute sich um: Neben ihn schwebte Chrochro. „Da magst du recht haben“, sagte Philphil. „Weißt du noch, als wir jung waren und uns die Zukunft wie ein endloses Wunder erschien?“

„Ja, ich weiß mein Freund, aber nun ist uns beiden klar, dass die Zukunft nichts weiter als ein Traum ist, ein Spiel für Toren“, sprach Chrochro.

„Der Traum gehört zum Ganzen dazu, sonst wäre es nicht das Ganze. Wir können keinen Flossenschlag auslassen, doch gleichzeitig rühren wir uns nie von der Stelle. Das ist paradox. Du weißt, was wahr ist: Wir sind unendlicher Raum, strahlendes Licht und eine Freude, die immerfort in ihr eigenes Herz hineinfließt.“

„Das ist wohl wahr Philphil. Wenn der Geist nicht dumme Spiele spielt, ist er frei und in sich selbst daheim. Immer wieder aber drängt es ihn, zu spielen, so entzweit er sich und erschafft die Zeit und mit ihr die Gegensätze. Es entstehen daraus Ideen und Meinungen. Beispielsweise darüber, ob man der Menschheit Wissen zukommen lässt und sie mit jener Macht beschenkt, über die wir verfügen. Manche mögen darin eine Gefahr erkennen. Wie einer der Dichter der Menschheit sagte:
Weh denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt' und Länder ein.“

„Und nun sind wir in diesem Raum, schauen auf das Schicksal, während es sich erfüllt.“

Sie flogen dem Zentrum des Universums entgegen. Ihre Schicksalsfäden verflochten sich und es schien, als würden sie miteinander kämpfen. Das Zentrum wartete geduldig, dann verschluckte es die beiden. Stille.

Eine Kugel formte sich und zerfiel in zwei Hälften: Quellen, aus denen Licht strömte. Das eine Licht aber war das Gegenteil des anderen. Wie das eine heiß war, war das andere kalt; das eine leuchtete hell, das andere glimmte dunkel und voller Geheimnis. Als die Quellen der Lichter zerbrachen, zersplitterten sie zu unzähligen Teilen, sodass sie den ganzen Raum ausfüllten. Diese Teile waren gleich Spiegeln, sie warfen das Licht, das sie ausgesandt hatten, als sie eines gewesen waren – und das immer noch im Raum funkelte – hin und her, das helle ebenso wie das geheimnisvolle. Diese Spiegelungen erschufen die Dinge. Die Dinge bildeten die Welt.

Als einst aus den Dingen Wesen hervorkamen, wussten diese alles über das Zentrum, über die Kugel, die zerbrochen war, über die Quellen und die Lichter. Als die Wesen sich aber zu viel mit den Dingen beschäftigten, vergaßen sie, was sie gewusst hatten. Erst als einige von ihnen unbequeme Fragen stellten und ihren Blick ins Innere der Welt versenkten, erwachte die alte Erinnerung aufs Neue.

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