Freitag, 11. März 2022


                                          20



Andy schlief kaum noch. Seine Nervosität nahm zu. Der Tag des Schicksals dreier Welten kam unaufhaltsam näher, drohend wie ein Ungeheuer. Er hatte Angst, Angst vor seinem Versagen, das gleichbedeutend mit dem Ende der Welt sein würde.

„Du bist in letzter Zeit recht abwesend“, sagte Beate. Er sah sie an, sie schien ihm fremd. Ihre Züge vereisten, ihre Bewegungen erstarrten. Der Mund allein lebte träge und brachte Worte hervor, die er nicht fassen konnte. „Irgendwann musst du es erfahren Andy. Jetzt musst du es erfahren. Es fällt mir schwer, aber es muss heraus. Also die Sache ist die: Ich bin schwanger.“

Es durchfuhr ihn ein Schock. Nicht das, was sie ihm mitgeteilt hatte, verstörte ihn, sondern, dass sie es ihm mitgeteilt hatte. Das war in der anderen Zeitlinie nicht vorgekommen. Auch dort musste sie schwanger gewesen sein. Er konnte ja erst alles verändern, seitdem er zum zweiten Male aus dem Gefängnis gekommen war. Er musste das Kind vor seiner Haft gezeugt haben. Sie hatte es ihm, das war die einzige Erklärung, in der anderen Zeitlinie verschwiegen. Aber warum? Es kam vor, dass Leute Eltern wurden. Er musste sich der Situation fügen. Er hoffte, dass nicht irgendetwas wegen seiner Zeitreise durcheinandergekommen war. „Ein Kind. Gut, warum sagst du es erst jetzt? Du hättest es früher sagen müssen. Du bist doch schon länger schwanger, oder nicht? Ich dachte erst, du hast vom Essen zugenommen. Ja, gut, es ist, wenn ich es recht überlege, toll. Ich muss mich nur noch einen Augenblick daran gewöhnen, dass ich Vater werde.“

„Du wirst nicht Vater. Ich werde Mutter!“

„Ich verstehe nicht, ich meine, wenn du Mutter wirst, dann müsste ich doch Vater ...“

„Das wirst du nicht“, sagte sie und senkte ihren Blick.

„Soll das heißen …“

Beate nickte wie in Zeitlupe. „Ja, das Kind, mein Kind, es ist nicht von dir. Es hat sich vieles geändert, während der Zeit, als du im Gefängnis warst.“

Andy fühlte einen imaginären Schlag in der Magengrube. War das alles noch real? „Moment mal, ich war keine Jahre fort, wenige Monate nur. Wer ist der Vater? Mit wem … Ich meine, du hast, du hast einfach ...“

„Ja, ich habe. Es ist unwesentlich, wer es ist. Ein Name für dich, ohne Bedeutung. Es war nicht das Ergebnis eines Ausrutschers. Ich liebe dich nicht mehr. Vielleicht habe ich das nie getan. Du weißt, wie das ist: Erst ist man einsam, dann trifft man jemanden, man ist froh, bald wird es zur Gewohnheit, dann kommt die Gleichgültigkeit. Ich hatte Mitleid mit dir. Du hast immerhin im Knast gesessen. So konnte ich es dir nicht gleich sagen. Du warst in einer Scheißsituation. Nun ists raus.“

Er schwieg. Es war nicht allein das Kind. Auch liebte sie ihn nicht mehr. Er fühlte sich winzig, ein Wurm, gerade noch etwas mehr als ein Nichts, ein sinnlos zappelndes Etwas. Diese Zeit, in der jetzt festsaß, gefiel im absolut nicht. Wahrscheinlich wäre die alte Zeit besser gewesen, obwohl am Ende alle hätten sterben müssen. Am besten wäre eine dritte Zeit, eine ohne schlechte Nachrichten und bitterem Ende. Aber er befand sich nun mal hier, gefangen in dieser schrecklichen Realität. Es hing alles von ihm ab. Er war die letzte Chance. Offenbar konnte man die Zeitlinie nicht endlos überschreiben. Er musste sich zusammenreißen. Es ging ja nicht um ihn und sein beschissenes Leben, sondern an erste Stelle stand, dass der Krieg verhindert werden musste. Er konnte nichts mehr zu Beate sagen. Er ging fort, blickte sich nicht um. Er hatte nicht den Wunsch, sie jemals wiederzusehen. Leider würde das nicht funktionieren, denn er musste zu den Treffen mit Min-Jee gehen, dort könnte immer wieder Beate auftauchen. Egal, Privates durfte keine Rolle spielen. So viele Leben hingen von seinen Entscheidungen ab. Diese Leben zu retten, das war der einzige Grund seiner Existenz. Min-Jee musste ausgeschaltet werden. Nur so würde der Krieg nicht so weit gehen, dass die Ozeane der Erde kochten und verdampften. Er hatte zu funktionieren, er würde alle seine Gefühle unterdrücken und zu einer Maschine werden. Das Schicksal war herzlos.


„Anschließend, wenn alles erledigt ist, wenn Min-Jee ihre Fähigkeiten eingebüßt hat, werden wir es ihm sagen müssen. Er hat ein Recht darauf“, meinte Alice.

„Gewiss“, stimmte Karen zu, „ dann wird ihm klar werden, wie er von uns manipuliert wurde.“

Christian mischte sich in das Gespräch ein. „Mehr oder weniger ist alles eine Form der Manipulation, egal was man sagt oder tut. Leben heißt: Manipulieren.“

„Du weißt, was ich meine Christian. Das, was wir getan haben, ging über das normale Maß hinaus.“

„Wir mussten uns über die Loyalität dieses Andys sicher sein. Ihr wisst ja, was davon abhängt.“

„Diesmal war ich es, die in die Erinnerung von jemandem eingegriffen hat, ungebeten. Und er wird es irgendwann wissen und mich dafür verachten.“

Christian sah Alice fest an. „Du machst dir zu viele Gedanken über das, was jemand irgendwann denken könnte. Ein menschlicher Fehler. Du bist keiner von ihnen. Du solltest die Dinge in größeren Zusammenhängen sehen. Es scheint, as ob es eine Gegeninfektion gibt. Wahrscheinlich wurden einige von uns von dem Zeug infiziert, das sie hier seit Urzeiten in sich tragen.“

„Soll ich wirklich nicht mitkommen?“, fragte Karen.

Christian winkte ab. Er und Alice seien vollkommen ausreichend. „Wir wollen doch keinen Aufmarsch im Büro von Doktor Alchinger veranstalten, oder? Es soll ja nur ein kleiner vertraulicher Plausch werden.“


Als sie den Tunnel verließen, saß Doktor Alchinger an seinem Schreibtisch und blätterte einige Papiere durch. Er schreckte auf.

„Keine Panik“, beruhigte Alice ihn.

„Ich bin bereits in Panik“, antwortete er.

Christian sagte: „Verzeihen Sie unseren ungewöhnlichen Auftritt, aber das schien uns der sicherste Weg, um mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Sie werden gewiss beobachtet. Immerhin sind sie einer der führenden Köpfe der Opposition.“

„Mann hat sich schon daran gewöhnt, dass sie einen bespitzeln. Und Sie, wer sind Sie? Gehören Sie zu den Infizierten oder zum Diplomatischen Korps der Außerirdischen?“

„Wir kommen von da oben, Europa“ sagte Alice den Zeigefinger hebend, „Wir zeigen Interesse daran, dass sobald wie möglich ein Regierungswechsel stattfindet.“

Christian setzte sich auf einen freien Sessel und schlug die Beine übereinander. „Unsere Regierung sieht es mit Besorgnis, dass die Opposition in Deutschland so zögerlich agiert.“

Doktor Alchinger setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Man könnte ihre Worte so interpretieren, als wollten sich die Bewohner des Mondes Europa in die Politik der Erde einmischen.“

„Aber Doktor Alchinger, höre ich da ein gewisses Misstrauen aus ihren Worten heraus? Wahrscheinlich habe ich mich in dieser mir fremden Sprache ein wenig unglücklich ausgedrückt.“ Christian wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Das sollte nicht der Versuch einer Beeinflussung sein, sondern ein kleines informelles Gespräch. In der Zukunft werden Botschafter ausgetauscht und es wird zwischen den Menschen und uns interplanetare Verträge geben. Aber ihre Bedenken sind nicht gänzlich unbegründet, leider. In der Vergangenheit, so muss ich zugeben, hat eine gewisse Einmischung unsererseits stattgefunden, besonders vonseiten der hier stationierten Kolonie. Das war sicherlich – nein, nicht nur sicherlich – ganz zweifelsfrei war es ein Fehler. Ich gehöre zu denen, die sich von vornherein dagegen ausgesprochen haben. Wir sind nicht hier, um uns bevormundend einzumischen, vielmehr wollen wir den Menschen helfen.“

Alice übernahm das Wort. „Wie Sie wissen, werden staatliche Organe seit einiger Zeit von Leuten mit gewissen Fähigkeiten unterstützt. Sie machen auf Infizierte Jagd. Das Geheimnis dieser Subjekte ist, dass sie ihre Kräfte von bösartigen Außerirdischen beziehen, den Enceladusanern.“

„Enceladusaner?“, fragte Doktor Alchinger erstaunt.

„Eine interessante Spezies, sie hat sich bis dato aus allen politischen Geschehnissen auf der Erde herausgehalten“, erläuterte Christian. „Die Art des Infizierens, die unsere Leute angewendet haben, sollte die Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen. Die Infizierung, die die Enceladusaner bevorzugen, weckt zerstörerische Fähigkeiten. Scheinbar wollen sie unsere künftige Kooperation boykottieren. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem alles eskalieren kann. Darum lautet unser Ratschlag: Übernehmen Sie die Regierungsgewalt möglichst schnell und mit allen Mitteln. Deutschland ist neben China das mächtigste Land der Welt, seit sich die USA nicht mehr von der letzten Krise erholen konnten. Ihr Handeln Doktor Alchinger wäre ein Signal für den ganzen Erdball. Die Regierung agiert aus dem Exil heraus und hält sich mehr schlecht als recht an der Macht, mithilfe erweiterter Notstandsgesetze, womit die Demokratie faktisch abgeschafft wurde. Warten Sie nicht bis zu den nächsten Wahlen, vielleicht gibt es die nicht mehr.“

Doktor Alchinger wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. „Sie reden also von einem Putsch?“

Christian beugte sich vor. „Das Recht muss wiederhergestellt werden. Niemand sollte eine Exilregierung anerkennen, die sich nicht an die Spielregeln hält. Erheben Sie sich endlich! Die Mehrheit des Volkes wird auf ihrer Seite stehen.“

„Nun, die Polizei und die Geheimdienste sind gegen mich“, gab Doktor Alchinger zu bedenken.

„Doktor, ein Teil des Militärs ist nicht mehr regierungstreu. Viele Offiziere verweigern die Befehle. Die Masse hat keine Meinung, wartet aber auf eine neue Führung. Sie müssen auf das Militär setzen. Sobald Sie die Regierungsgewalt haben, werden wir Ihnen einen Vertrag anbieten. Dort wird die friedliche Koexistenz unserer beider Welten geregelt. Sie können den ganzen absurden Überwachungswahnsinn beenden, die korrupten Geheimdienste auflösen und die Polizei von undemokratischen Kräften reinigen. Auf unsere Unterstützung werden Sie rechnen können.“

„Sie haben recht. Der Wahnsinn muss enden. Ich werde sofort Kontakt zum Militär aufnehmen.“

„Wir wünschen Ihnen viel Erfolg“, sagte Alice. Schon öffnete sich ein Tunnel, der sie einsog. Sekunden später erschien sie neben Karen.

„Wo ist Christian?“

„Weiß nicht, er müsste bald kommen“, sagte Alice.


Christian erschien einige Minuten später.

„Wo warst du denn so lange?“, wollte Alice wissen.

„Ich habe ihm noch einmal erklärt, wie gefährlich die Enceladusaner sind.“


Lichtpunkte wandelten sich zu Linien, so schnell flogen sie dahin. Rote, grüne und gelbe Nebel leuchteten von fernher, verbargen kristallene Welten in ihrem Inneren. War man ganz leise und spitzte die Ohren, so erklang in einem die Musik der großen Kristalle, welche Sonnen waren, die in den Nebeln glühten. Überallhin konnte der gedankenschnelle Flug führen. Sie badeten in Meeren aus Licht, schwebten als silberne Insekten über die Blumensteppen eines Honigplaneten. Über reichgemusterte Landschaften, in denen süße Flüsse plätscherten, zogen sie ihre Bahn. Mit ihren silbernen Insektenleibern tauchten sie pfeilschnell in bis auf den Grund des lieblichen Wassers hinab. Sie schwammen vorbei an flimmernden Fischen, deren Schwärme sich kreisförmig durch die Tiefsee schraubten. Betäubende Süße drang ihnen durch die Poren, bis sie vom Nektar des Alls durchdrungen waren. So schwebten sie durch eine Welt, die keine Minuten kannte und keine Stunden. Sie wurden ergriffen von einem beständigen Glück, ein Glück, das nichts mehr wollte. Es war sich selbst genug.

„Kommen Sie, kommen Sie!“, rief eine Stimme ihm zu.

Kwang öffnete die Augen und wusste wieder, wer er war. Neben sich erblickte er Xellox, oder besser die metallische Libelle, deren Form Xellox angenommen hatte. Die Regenbogenflügel des Tieres leuchteten wie verrückt.

„Wir sollten los!“, rief Xellox und schoss nach oben. Kwang folgte ihm bis zur Oberfläche des Wassers und weiter, bis hinein in den Himmel, wo rote und türkisfarbene Wolken flatterten. Er sah gewaltige Vögel, sie bestanden aus unzähligen winzigen Wesen, die sich zu einem Körper vereint hatten, der erhaben durch die Stille segelte.

Xellox erklärte: „Diese Welten, durch die wir uns bewegen, bilden die Samen für alles, was im Universum der festen Materie entstehen wird. Hier werden Informationen ausgesendet und eingesammelt.“

Sie flogen weiter, vorbei an denkenden Sternen und traumverlorenen Planeten. Wurden Strukturen immer komplexer, so entwickelten sie ein Bewusstsein. Ja, auch Sonnen waren Wesen mit einer Seele. Im Raum zwischen zwei Sternensystemen zog strahlend ein Komet seine Bahn.

Xellox zeigte auf den Kometen und sagte: „Du solltest hindurchfliegen. Es ist gut, zu lernen, dass dich Körper wie dieser nicht aufhalten können. Noch existiert die Idee in dir, ein Komet oder etwas anderes, könnte dich taktieren. Sobald du nicht mehr daran glaubst, dass Erscheinungen eine Substanz besitzen, bist du frei. Alle Erscheinungen sind formlos, leer.“

Dieses nahm Kwang sich zu Herzen, er sauste auf den Kometen zu. Dabei sprang ihn die Angst wie ein Raubtier an. Möglicherweise könnte er ja wirklich mit dem Ding zusammenstoßen. Andererseits fühlte er sich seltsam weit, so erlaubte er der Angst, in ihm zu sein, worauf diese, da sie auf keinen Widerstand traf, einfach verschwand. Freudig durchflog Kwang den Kometen.

„Schön, dass du Vertrauen hattest“, lobte Xellox und lächelte dabei.

„Und was wäre passiert, wenn ich nicht so viel Vertrauen gehabt hätte?“, fragte Kwang.

„Dann wäre es wohl eine weniger angenehme Erfahrung geworden“, meinte Xellox, „denn unsere Befürchtungen haben die Eigenschaft, wahr zu werden.“

„Na ja, manche Sachen fühlen sich sehr präsent an und man wird leicht von ihnen gefangen.“

Xellox nickte. „Ja, manche Dinge wirken erschreckend. Bevor wir uns aber gänzlich ins Philosophieren verwickeln, solltest du zu Min-Jee gehen. Sie braucht gewiss neue Energie.“

Kwang verstand und beschleunigte seinen Flug. Er raste auf die Erde zu.


Xellox trennte sich von kwang und besuchte einen rötlichen Mond, der seine Bahn um einen smaragdfarbenen Planeten zog. Hier sollte das geheime Treffen stattfinden.

Xellox blickte sich um. Noch war niemand zu sehen. Felsen warfen lange Schatten über den bemoosten Boden. Gelbliche Staubschwaden stiegen am nahen Horizont auf. Bald trat eine Gestalt hinter einem Hügel hervor. Er war es! Xellox gab einige Höflichkeitsfloskeln von sich und sah sein Gegenüber erwartungsvoll an.

„Seien Sie gegrüßt Xellox. Vor Kurzem noch hätte ich nicht gedacht, dass wir uns je treffen würden, aber die Situation ist kritisch, wie Sie ja wissen“, sagte Chrochro.

Xellox sprach: „Gewiss, die Situation ist bedenklich, sie könnte durchaus eskalieren. Momentan würde unser Treffen von unseren Regierungen als Verrat bezeichnet werden.“

„Der Verrat ist schon längst passiert. Wir haben unsere Ideale verkauft. Beide Seiten. Eine Katastrophe steht uns bevor, wenn nicht gehandelt wird. Wir sehen nicht klar genug, was kommt. Unser Blick ins Gewebe der Schicksalsfäden ist trübe geworden. Langsam legt sich ein Schleier über unser gemeinsames Bewusstsein. Vielleicht eine Nebenwirkung des Kontaktes mit der Erde. Mag auch sein, es liegt an unserer Arroganz, in das Schicksal der Menschen einzugreifen zu wollen. Ich war immer dagegen. Nun ist es zu spät.“

„Ich verstehe“, sagte Xellox, „und jetzt tastet ihr wie Blinde unsicher nach dem Weg. Aber auch unser Geist ist getrübt. Wir haben uns in einen Widerspruch verwickelt. Wir greifen in die Angelegenheiten der Erde ein, damit wir euer Eingreifen unterbinden können und die alten Verträge wieder erfüllt werden. Diese besagen, wie Sie ja wissen, dass niemand von außen in das Schicksal der Erde eingreifen darf.“

„Ich habe etwas getan verehrter Xellox. Was es war, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin mit jemand anderen irgendwo gewesen. Dann war ich allein. Nein, nicht ganz. Ich legte jemanden die Hände auf dem Kopf und löschte seine Erinnerungen. Ich entsinne mich schwach daran, warum ich es tat. Es sollte wohl unseren eigenen Einfluss abschwächen, damit Enceladus nicht zu radikalen Mitteln greift und die Situation sich entspannen kann. Soweit ich mich entsinne. Etwas scheint uns zu verwirren. Wir werden langsam allesamt wahnsinnig.“

„Vielleicht haben ja einige von euch in letzter Zeit zu sehr mit Erinnerungsmanipulation herumgespielt, sodass sich Störungen im kollektiven Bewusstsein ausbreiten konnten. Aber sei es drum. Die wesentliche Frage ist: Was können wir tun, um Schlimmeres zu verhindern?“, sagte Xellox und musterte Chrochro erwartungsvoll.

„Wir wollen eure Energiequelle auf der Erde entleeren – Min-Jee.“

Xellox verstand. „Min-Jee ist unser energetischer Kontakt. Es ist taktisch das Beste, was ihr tun könntet. Allerdings wäre da die Frage, wie wir darauf reagieren würden. Unsere subatomaren Raketen stehen bereit.“

„Unsere Flotte befindet sich seit ewigen Zeiten in Stellung, ursprünglich der Abschreckung wegen“, ergänzte Chrochro.

„Eure Flotte ist größer als die unsrige“, gab Xellox zu. „Wenn aber unsere Raketen erst einmal gestartet sind, bringen sie die gesamte Schleifenquantengravitation durcheinander. Alles wird zerfallen, von innen heraus. Die Zukunft wird ein einziges Chaos. Dazu braucht es nicht einmal die Fähigkeit, die Fäden des Schicksals zu deuten. Um Min-Jee auszuschalten, müsstet ihr sie töten oder auf ewig ins Koma versetzen. Min-Jee würde auch vorübergehendd ihre Fähigkeiten verlieren, wenn sie von uns keine Unterstützung mehr bekäme. Es ist ihr eigener Mann, der als Verbindungsglied zwischen unserer Energie und ihrem Körper dient. Er lädt Min-Jee in diesem Moment auf. Ich bin sein Mentor, sozusagen. Man übertrug mir diese Aufgabe. Ich befinde mich somit am Hebel, mit dem man die Energie abstellen könnte. Damit wäre Zeit zu gewinnen. Das Problem ist: Man nennt so etwas Sabotage. Es hätte recht unerfreuliche Konsequenzen für mich.“ Xellox hielt inne. Ihm wurde klar, dass er alles alleine entscheiden musste. Chrochro zeigte Schwierigkeiten, sich an wesentliche Dinge zu erinnern. Mit anderen Worten: Sein Gesprächspartner war unzurechnungsfähig.

Chrochro unterbrach Xellox´ Gedanken. „Das Schlimme ist, dass sich der Schleier über uns legt. Verstehen Sie? Man fühlt sich einsam, obwohl man weiß, dass man es nicht ist. Niemand kann der Illusion entkommen, letztlich, selbst wenn man es glaubt. Sie liegt auf der Lauer. Man durchschaut sie, dennoch bleibt sie real. Es ist wirr, real und nicht real. Das ist doch kein Leben, das ist eine Lüge. Vielleicht erlöst uns ja der Krieg und er wäscht alles rein, quält uns so sehr, dass wir Erlösung finden und der Schleier der Illusion von uns abfällt.“

Xellox fühlte sich in seiner Meinung bestätigt: Chrochro war verrückt geworden! Wahrscheinlich ging es den anderen Europabewohnern ebenso. Der Wahnsinn hatte Wellen geschlagen, Wellen, die sich bis nach Enceladus ausbreiteten, wo die Verblendung ebenfalls die Geister umklammert hielt. Er verspürte den unbändigen Impuls, loszulachen. Alle waren durchgedreht. Er bemerkte, wie seine Gedanken zitterten ­­– in Schwingung versetzte Stahlstangen. Auch in ihm tanzte der Irrsinn, der wie eine Fratze vor ihm auftauchte, ihm die Zunge höhnisch entgegenstreckte und dabei kicherte. Trotz des inneren Aufruhrs, sprach er so ruhig, wie er nur konnte weiter. „Hören sie, er ist jetzt dort, Kwang, ihr Mann, er gibt ihr Energie.“

Chrochro nickte. „Gewiss, er ist die Quelle für sie. Es ist zu spät. Unsere Regierungen werden endgültig durchdrehen. Wobei das Schlimme nicht einmal die Vernichtung ist. Es ist die Tatsache, dass der Krieg gedacht werden kann und befohlen wird. Das Räderwerk ist in Gang gesetzt. Schon vor langer Zeit hat man unser Todesurteil gesprochen. Das macht mir Angst, das Urteil – nicht die Vollstreckung.“


 

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