TEIL 7
Als Philip wieder auf der Straße stand, versuchte er erst gar nicht, seine Gedanken zu sortieren. Er zog das Smartphone hervor und rief Elmar an. „Ich war in diesem Institut, du weißt, meine Schwester hat dort gearbeitet. Der Pförtner hat mich erkannt und schickte mich zum Direktor. Stell dir nur vor, der kannte mich scheinbar auch. Irgendwie wusste ich sogar, wie er hieß. Ich habe im Institut gearbeitet, hat er behauptet. Und dann wurde es noch verrückter, diese Frau, ich habe ihren Namen vergessen, ich habe sie schon einmal erwähnt, sie war auch dort. Sie arbeitet im Institut, hat sie gesagt. Und jetzt halte dich fest: Meine Assistentin will sie gewesen sein, das behauptet sie ganz ernsthaft. Der Direktor nannte sich Müller. Kennst du einen Müller? Übrigens, ich soll einen Doktortitel haben, o Mann. Und eine Atombombe wollen sie zünden, auf diesem Mond, auf Europa, stell dir vor!“
„Hört sich ja wild an. Beruhige dich. Atme tief durch Philip. Wir sortieren das jetzt mal. Das war keine gute Idee in das Institut zu gehen. Die haben bestimmt was mit dem Verschwinden von Alice zu tun. Sie werden es nicht gerne sehen, wenn jemand herumschnüffelt. Hinter dem Institut steht die ESA, hinter der ESA stehen Deutschland und die EU und ihre ausführenden Organe, die IES und der TAD, die sich nicht um irgendwelche Regeln scheren, weil es Geheimdienste sind. Ich will dich nicht unnötig beunruhigen, aber du bist in Gefahr, definitiv.“
„Und ich habe dort gearbeitet in dem Institut?“
„Nein Philip, davon weiß ich nichts. Und mit dem Doktortitel muss ich dich enttäuschen. Du hast dein Studium abgebrochen. Deine Schwester konnte immer alles viel konsequenter durchziehen. Du warst intelligent, kreativ und sensibel, hattest aber nie ein Ziel, warst immer auf der Suche nach einer Wahrheit. Es existiert keine Wahrheit, es gibt nur Menschen und ihre egoistischen Ziele, Menschen, die gezwungen sind, Dinge zu tun, die sie nicht wollen. So ist das Leben, die Gewissenlosen stehen an der Spitze der Pyramide. Es herrscht ewiger Krieg. Weil wir diese Realität nicht ertragen können, betäuben wir uns oder glauben an eine Wahrheit, die uns erlösen könnte. Aber da ist nichts, nur das ewige Hamsterrad der Macht, der Spiegel unserer Eitelkeit. Aber ich schweife ab. Sie haben dich belogen, dieser Müller, der Pförtner und deine angebliche Exassistentin. Sie kennen deine Krankenakte. Sie wissen, du hast Probleme mit dem Gedächtnis. Das nutzen sie eiskalt aus. Keine Ahnung, warum sie das tun. Sie könnten dich ja auch einfach verschwinden lassen, falls du ihnen zu unbequem wirst. Obwohl – langsam hege ich einen fatalen Verdacht.“
„Was meinst du Elmar? Das macht mir jetzt Angst. Und ich Trottel habe auch noch Ihr Smartphone benutzt. Ich dachte, es ist sicher. Ich bin geliefert.“
„Höre zu, wir müssen uns treffen! Weißt du noch, wo das Kino war, damals? Wir sind oft dorthin gegangen, am Wochenende – Biskopstraße.“
„Ja da war was. Das Kino, ich entsinne mich Elmar. Es ist eine echte Erinnerung, nicht etwas, an das ich mich nur zu erinnern glaube, weil es mir jemand sagt.“
„Genau, das ist eine echte Erinnerung. Komm heute dorthin, um siebzehn Uhr.“
„Ich werde dort sein“, versprach Philip, warf das Smartphone auf den Boden und trat einige Male drauf, bis es zerbrach. Er lachte kalt. Beinahe hätte er wirklich geglaubt, er wäre ein Doktor gewesen, mit hübscher Assistentin! Aber eines musste man dieser Frau lassen, um den Finger wickeln konnte sie einen ja geschickt. Ja, Karen war ihr Name. Na bitte, das Gedächtnis arbeitete wieder recht gut. An das alte Kino konnte er sich auch entsinnen, wenn auch schemenhaft, aber immerhin. Seine Hände zitterten. Er hatte heute noch keinen Kratomtee getrunken.
Bald schon saß er in der Bahn und dachte an grünes Malaysia Kratom. Er blickte nach oben zum Bildschirm, auf dem die neusten Nachrichten verkündet wurden. Er las: Eine illegale Demonstration wurde heute Nachmittag in der Innenstadt aufgelöst. Dabei trugen offenbar mehrere Polizisten Verletzungen davon. Achtzig Personen wurden wegen des Tatbestandes des Landesfriedensbruches festgenommen. Der Innenminister bezeichnete die Demonstration als Zusammenrottung von Chaoten, dessen vornehmliches Ziel es sei, Unruhe zu stiften und Hass zu verbreiten. Der Schriftzug verschwand und machte dem Gesicht einer Frau Platz. Philip bekam eine Maulsperre. Das war doch diese Karen! Es erschien ein Text unter dem Bild: Terroristin gesucht! Die Polizei bittet um ihre Unterstützung und nimmt sachdienliche Hinweise gerne entgegen. Die Terroristin Durga Friedensreich wird als äußerst gefährlich einschätzt. Sie schreckt nicht vor Waffengebrauch zurück. Es liegt ein internationaler Haftbefehl gegen sie vor. Sie ist mit großer Wahrscheinlichkeit Mitglied einer radikalen Gruppe. Diese Gruppierung soll direkte Befehle vom Jupitermond Europa erhalten. Ihr Ziel ist es, die Staatsautorität und die Demokratie zu zerschlagen. – Durga also hieß sie in Wirklichkeit, sagte sich Philip, Durga Friedensreich, und sie war wohl doch nicht vom Geheimdienst. Und plötzlich wurde ein Aufruf gestartet, ihretwegen, kurz, nachdem er bei ihr gewesen war. So lange hatte sie im Institut unbehelligt gearbeitet. Sie musste sogar den Sicherheitscheck der ESA bestanden haben. Er fragte sich, ob sie wirklich im Institut beschäftigt war. Vielleicht hatte sie sich gestern dort hineingeschmuggelt. Gewiss war sie nur seinetwegen da gewesen. Aber woher konnte sie wissen, dass er kommen würde? Ihm schwindelte. Die Welt hatte alle Festigkeit verloren. Sie wurde zu einem wabernden Etwas aus Energie, strukturlos. Sein Verstand raste. Er sah Spiralen vor sich, Kreise, Labyrinthe, Räume, die sich mehrdimensional ineinander verschachtelten. Überall Wegweiser, die in die Irre führten. Nichts schien mehr sicher, er selbst wusste nicht, wer er war. Und woher kamen eigentlich die ganzen Gedanken?
Er sprang aus dem Zug, rannte den Bahnhof entlang, die Treppe hinunter bis auf die Straße. Dort suchte er das Gebäude, in dem früher einmal das alte Kino war. Hatte hier tatsächlich einmal ein Kino gestanden? Ein Zaun, halb zerfallen, eine mit Rissen überzogene Ruine, mehr war da nicht.
Er wartete nicht lange. Elmar kam auf ihn zugelaufen, begrüßte ihn und führte ihn durch eine Lücke im Bauzaun. „Hier draußen könnten wir gesehen werden. Lass uns ins Haus gegen“, sagte Elmar und blickte sich ängstlich um.
Aus Philip schoss es heraus: „Sie ist eine Terroristin, keine Geheimagentin! Man sucht sie. Ich habe es in der U-Bahn gelesen. Und sie heißt auch nicht Ka-ka-dingsda, sondern ganz anders, Durga heißt sie. Vorhin hat sich noch im Institut herumgetrieben.“
Elmar meinte, er solle sich beruhigen und mit ins Haus kommen.
Eine Tür stand offen. Sie betraten das halb zerfallene Gebäude, modrige Luft blies ihnen entgegen. Matt fiel das Licht durch zersplitterte Fensterscheiben, legte sich über Staubflocken und schimmliges Gemäuer.
„Philip, ich muss dir einiges sagen. Vor allem, dass es mir leidtut.“ Elmar machte hier eine Pause, als suche er nach Worten. Er senkte den Kopf. „Sehr leidtut mir das. Die Verhältnisse sind nun einmal so, wie sie sind. Ich arbeite inzwischen für das IES.“
Hinter Philip knackte etwas. Er blickte sich um. Ein Mann mit maskenhaftem Gesicht war in den Raum gekommen. Seine grauen Augen hatten jeden Glanz eingebüßt, falls da mal je einer gewesen sein sollte. Seine Lippen, zusammengepresst zu schmalen Strichen, wirkten wie von einem Maler kreiert, dem das Rot ausgegangen war. Der Mann hielt eine Pistole in der Hand und zielte damit auf Philips Kopf. Es war ein seltsames Gefühl, so in die Mündung einer Waffe zu blicken. Er empfand keine Bedrohung, es war vielmehr so, als träumte er die ganze Situation, als wäre er in Wahrheit absolut sicher und jenseits jeder Gefahr. Langsam drehte er sich zu Elmar um.
„Ein Mitarbeiter, zur Sicherheit“, bemerkte Elmar. „Du hast keine Ruhe gegeben, wolltest unbedingt herausfinden, was mit Alice geschehen ist. Du hättest Staub aufwirbeln können, der liegen bleiben sollte. So kam ich ins Spiel. Als Kumpel aus alten Zeiten konnte ich dich unverdächtig beobachten. Beinahe wäre alles gut gelaufen: Ich hätte dich im Auge behalten und dir abgeraten, weiter nach der Wahrheit zu suchen. Dann aber ist diese Frau dazugekommen, diese Karen. Als man bemerkte, dass sie zu dir Kontakt aufgenommen hatte, wurde die Sache eine Nummer größer. Nun sollte ich dich nicht bloß von deinem Plan abhalten, nach Alice zu suchen, sondern ich wurde auch dazu angehalten, möglichst viel über deine neue Bekannte herausfinden. Als du sie schließlich im Institut wiedergetroffen hast, war das natürlich ein Erfolg. Aufgrund deiner letzten Information, dass Karen und Durga identisch sind, hat man sogleich den Fahndungsaufruf aktualisieren können. Ich werde einen Bonus ausgezahlt bekommen.“
Nun ergriff der Mann mit der Pistole das Wort. „Sie müssen keine Angst haben, Ihnen wird nichts passieren. Sie werden befragt, vielleicht können Sie sich ja an wichtige Details erinnern. Anschließend unterschreiben Sie eine Schweigeverpflichtung, dann ist alles wieder wie zuvor, als wäre nichts geschehen“.
Philip nickte, er wusste, dass diese Worte eine einzige Lüge waren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich eine Gestalt aus dem Schatten der Wand löste. Er konnte ihre Umrisse erkennen, mehr nicht. Auch der IES-Mann hatte die Gestalt bemerkt und richtete seine Waffe auf sie. Es knallte, der IES-Agent sank zu Boden, röchelte und blieb reglos liegen. Seine Augen starrten verständnislos zur Decke.
Der Schatten trat in die Mitte des Raumes. Philip erkannte ihn: Es war dieser Kommissar, der ihn davor gewarnt hatte, jemanden zu vertrauen. Der angeschossene IES-Mann zappelte am Boden. Er hatte noch ein kleines Flämmchen Leben in sich und schoss. Elmar sackte in sich zusammen. Sein Hemd färbte sich rot. Reglos blieb er liegen. Der Schütze ließ seine Waffe fallen und verwandelte sich in ein totes Stück Fleisch.
„Dummer Elmar, dich hätten sie wieso erledigt! Sie hassen Zeugen“, sagte Philip. Er wandte sich an den Kommissar, „und mich hätten sie auch erledigt, alles im Namen der Freiheit. Und wie kommen Sie eigentlich hierher?“.
„Ich verstehe es selbst nicht“, antwortete der Kommissar. „Ich hatte eine Vision.“
„Eine Vision? Äußerst seltsam. Und diese Vision hat Sie hierher geführt?“
„Es ist vollkommener Quatsch, gewiss, und doch ist es so gewesen. Ich glaube nicht an irgendwelche komischen parapsychologischen Sachen. Ich bin durchaus Realist. Ich wusste nur, dass diese Vision auf Tatsachen verwies. Es ist nicht zu erklären. Aber wie auch immer, Sie müssen jetzt fort. Gehen Sie, verstecken Sie sich. Man wird Sie jagen, zumal man Sie damit in Verbindung bringen wird.“ Der Kommissar zeigte auf die beiden toten Männer. „Ich muss noch meine Patrone aus dem einen herausschneiden. Machen Sie es gut, viel Glück!“
Philip nickte. „Ja, Sie haben recht, ich sollte mich aus dem Staub machen, so schnell wie möglich.“ Er wandte sich um und verließ die Ruine.
Der Kommissar holte sein Taschenmesser hervor. Vorsichtig schnitt er die Kugel aus der Brust des toten Agenten heraus. Er wischte das Messer mit einem Papiertaschentuch sauber, anschließend versuchte er, seine Hände vom Blut zu befreien, was nicht ganz gelang, weshalb er sie in die Hosentaschen steckte, bevor er die Ruine verließ.
Nachdem er einige Minuten lang gelaufen war, tauchte eine Frau an seiner Seite auf. Sie sprach ihn an. „Sie suchen mich. Ihnen ist es nur noch nicht bewusst. Sie wissen von den Agenten, die angeblich die Bürger vor außerirdischen Mächten schützen sollen. Sie fragen sich, wo nur diese Alice nur stecken mag. Sie werden bald sterben, hat man Ihnen gesagt.“
Kommissar Lehmann erstarrte. „Wer sind sie? Niemand weiß das, nur mein Arzt und ich!“
„Ich weiß alles. Nennen Sie mich Karen. Das ist einer meiner Namen. Bald werden Sie verstehen. Was man im Institut bei der Untersuchung des Objektes gefunden hatte, entsprach nicht den Erwartungen. Man konnte nicht mehr mit absoluter Sicherheit behaupten, dass die Existenz außerirdischen Lebens erwiesen ist. Die Sache ist ja so: Man braucht die Außerirdischen, braucht die Gefahr, vor der man warnen kann. Seit es mit den USA abwärtsgegangen ist, haben auch hier die Leute das Vertrauen ins System verloren. Viele stellen sich kritisch dazu oder machen zumindest ihrem Unmut Platz. Grund genug, dass der Staat die Zügel anzieht, einige Rechte abbaut und die Bespitzelung der Bürger vorantreibt. Meinen Sie nicht auch? Wie aber soll man das rechtfertigen? Da kommen doch die Außerirdischen gerade recht. Ja, gefährliche Außerirdische – Aliens, die hier ihre Agenten platziert haben. Fehlt nur noch der Beweis dafür. Das Gerät vom Mond Europa musste für echt erklärt werden. Und hoppla, schon hatten sie ihre Rechtfertigung für alles. Es wurde der Feind geschaffen, den man sich gewünscht hat. Deswegen mussten die Wissenschaftler verschwinden – und mit ihnen Alice. Aus Sicherheitsgründen. Den wirklichen Kampf führt man nicht gegen Aliens, sondern die Regierung befindet sich im Kalten Krieg gegen das Volk.“
„Sie scheinen sich ja gut auszukennen“, bemerkte Kommissar Lehmann ironisch.
„Nicht doch so misstrauisch. Also, wo war ich gleich noch? Ja, die Außerirdischen als Rechtfertigung. Man sucht Monster, die für alles herhalten müssen. Da man sie nicht vorweisen kann, muss man zumindest so tun, als gäbe es Beweise für ihre Existenz. Was nicht heißen soll, dass es nicht tatsächlich Europabewohner gibt. Fakt ist: Es existiert eine Macht, sie ist nicht von dieser Welt, aber sie wirkt in der Welt. Diese Macht hat dafür gesorgt, dass sie jetzt hier sind, in diesem Moment, und das hören, was ich sage. Es ist nicht der Feind.“
Lehmann spürte eine unerklärliche Kraft, sie kroch in ihn hinein, durchströmte seinen Körper und setzte sich im Herzen fest. Er war nahe daran zu weinen. Es, was immer es sein mochte, zog ihn mit sich. Er fühlte sich seltsam frei, fast so, als wäre er sein ganzes Leben eingesperrt gewesen und hätte jetzt die Tür des Gefängnisses offen vorgefunden. Es zeigte sich ihm ein Ort, an dem alles durchtränkt schien von süßer Unbegreiflichkeit. Als Kind hatte er diesen Ort gekannt. Später war das alles in Vergessenheit geraten. Die Welt wurde zu einem Zimmer mit blinden Fenstern. Eine neue und doch altbekannte Energie rüttelte ihn wach. Dieses Wunder ging von der Frau neben ihn aus, strömte aber gleichzeitig von überall herbei. Auch spürte er jene zarte Kraft in sich selbst. Sie kroch aus der Tiefe seines Herzens hervor.
„Das war nur der Schatten, den Sie gespürt haben, ein leichter Hauch. Bald wird es sich ganz zeigen“, sagte Karen. „Sie müssen sich nicht fürchten, wenn Sie sterben. Das Sterben ist wie das Zerreißen eines Schleiers, der vor der Wahrheit hängt. Sie glauben, Sie seien ein Mensch in einem vergänglichen Körper. Das sind Sie nicht! Es erscheint Ihnen nur so. Sie haben vergessen, wer Sie sind. Ich bin hier, um ihre Erinnerung anzuregen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Sie schlenderten ein Stück weiter. „Halt, bleiben Sie hier stehn!“, rief sie. „Gleich wird geschossen. Es wird uns nichts passieren. Vertrauen Sie mir.“