21
„Du bist aber früh hier!,“ sagte Min-Jee, „Von den anderen ist noch niemand da. Geh schon mal in die Wohnstube.“
Andy, der absichtlich zu früh gekommen war, betrat das geräumige Zimmer und setzte sich auf eines der am Boden herumliegenden Kissen. Seltsamerweise bemerkte er eine tiefe Ruhe in sich. Keine Spur von Aufregung. Als Min-Jee ins Zimmer trat, um weitere Kissen zu verteilen, öffnete er seine Hände und feuerte einen Energiestrahl ab. Sie konnte nicht schnell genug reagieren und fiel vorn über. Aber Min-Jee schlug nicht auf den Boden auf, ein Energiefeld hielt ihren Körper in der Schwebe. Jetzt galt es, sie zu beschäftigen, bis die Verstärkung hier sein würde. Er schoss einen weiteren Energiestrahl ab, verfehlte allerdings sein Ziel. Min-Jee schwebte mitten im Raum, eine knisternde Aura umgab sie. Funken sprühten ihr aus den Haaren, die aufwärts strebten wie eine leuchtende Löwenmähne.
„Was ist nur mit dir los?“, fragte sie und pustete kraftvoll, bis ihr aus dem Mund ein feuriger Ring flog. Er kam auf Andy zu und wurde dabei immer größer. Beinahe hätte der Ring ihn berührt, aber er konnte sich rechtzeitig wegducken, sodass dieses energievolle Gebilde an ihn vorbeisauste und in der Luft verpuffte. Sie hatte wohl nicht richtig gezielt, da er keine Bedrohung für sie darstellte. Sie war ihm einfach haushoch überlegen. Es reichte jedoch, wenn er sie ablenken konnte, damit sie nicht merkte, wie sich ihre wahren Gegner näherten.
Alice stand mitten im Zimmer, Karen einige Schritte von ihr entfernt. Offenbar hatte Min-Jee nun begriffen, dass ihr wirkliche Gefahr drohte. Immer wilder flogen Funken aus ihren Haaren heraus. Unzählige Blitze zischten um sie herum, gleich glühenden Nattern, von giftiger Angriffslust getrieben. Karen konnte einer Energieladung, die aus Min-Jees Stirn geschossen kam, knapp ausweichen. Alice erschuf eine Nebelwand mit isolierenden Eigenschaften, dahinter verbarg sie sich. Min-Jee schwebte leuchtend mitten in der Luft. Feurige Sicheln krochen aus ihren Händen, schwirrten durch das Zimmer. Aus ihrem geöffneten Mund preschte ein gleißender Strahl. Er traf eine von den Zimmerwänden, die sogleich zu Staub zerbröckelte. Min-Jee verbrauchte viel Energie, und, so hoffte Alice, sie würde sich bald entladen. Vorerst aber war daran nicht zu denken. Immer heller leuchtete Min-Jee, die Luft wurde heiß und heißer, alles um sie herum flimmerte wie flüssiges Silber.
„Wir verrecken hier!“,schrie Andy. Mit verzweifeltem Mut feuerte er einen Energiestrahl auf Min-Jee ab. Ein Unternehmen, das sich als wirkungslos erwies. Er wurde von dem zerstörerischen Licht Min-Jees gepackt und gegen die Zimmerdecke geschleudert. Es knackte, Knochen zerbrachen. Von der Decke rieselte der Putz.
Alice las Karens Gedanken, die sich darum drehten, dass man Min-Jee einfach nicht entladen konnte. Was wohl auch der Fall war. Anscheinend bekam Min-Jee gerade frische Energie. Alice blickte in die andere Welt, durch die Atome hindurch, durch die virtuellen Teilchen und weiter, bis sie dort, wo Geist und Materie sich trafen, einen Mann erkannte, der Min-Jee mit der Kraft von Enceladus versorgte. Rasch konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart der festen Materie.
„Du musst aufhören, Min-Jee“, rief Alice, „das hältst du nicht lange durch!“ Sie schätzte die Möglichkeiten ab: Würde sie in die Welt des Mannes gehen, wäre sie in der Welt der Materie handlungsunfähig. Ihr Körper läge wie eine leblose Puppe auf dem Boden. Andererseits wurde Min-Jee ständig stärker. Sie begriff, dass sie keine andere Chance hatte, als das Risiko einzugehen, zumal sie Min-Jees Absichten und Ziele nicht durchschauen konnte. Immer noch zeigte sich das Einheitsbewusstsein getrübt, und die Zukunft erschien ihr wie ein düsterer Nebel, aus dem jeden Moment ein Ungeheuer herausspringen könnte. Ihr innerer Kompass funktionierte nicht mehr. Alice wagte es: Sie ließ sich fallen, lag auf den Boden, ohne zu wissen, ob sie je wieder aufstehen würde. Sie fiel mit ihrem energetischen Selbst durch den Boden hindurch, in jene Welt hinein, in der ein Mann Min-Jee mit neuer Energie versorgte. Unversehens stand Alice ihm gegenüber. Schleierhaft nahm sie gleichzeitig auch das Zimmer wahr, in dem Karen Min-Jee gegenüberstand und um ihr Überleben kämpfte.
„Du bringst sie um. Sie wird verglühen. Es ist zu viel Energie, die durch sie hindurchfließt!“, schrie Alice.
Der Mann hielt inne, mehr aus Überraschung, dass diese sie hier aufgetaucht war, als auf die Reaktion dessen, was sie gesagt hatte. Alice fing Gedankenfetzen auf. Er wusste: Vor ihm stand eine von den gefährlichen Außerirdischen, die über eine tödliche Flotte verfügten, mit der sie die Enceladusaner bedrohten, zudem wollten sie die Erde unterjochen.
Alice erkannte: Der Mann war einer von den Toten. Solche Menschen galten als verwirrt und unberechenbar. Sie begriffen das Sterben einfach nicht, diesen Moment, in dem das Individuelle in die Ewigkeit floss, wo man tot war und lebendig zugleich. Dieser Tote hier wurde offenbar von den Enceladusanern rekrutiert.
Er schwankte innerlich, konnte nicht wissen, ob es ein Trick war, oder ob Min-Jee tatsächlich an einen Überschuss von Energie Schaden nehmen könnte.
„Sie brennt durch wie eine überlastete Sicherung!“, rief Alice.
Er wusste, es gab keinen wirklichen und endgültigen Tod, sondern nur eine Verwandlung. Dennoch stoppte er die Energieübertragung.
Min-Jee brach zusammen. Ein paar letzte Funken knisterten um ihren Kopf herum, dann starben auch diese ab. Es wurde still.
„Es wird alles gut“, sagte Alice zudem Mann. Sie war sich selbst nicht sicher, aber ihr Mund sprach das aus, was sie glauben wollte. Langsam verblasste der Geist des Toten vor ihr.
Sie erhob sich und ließ ihre Augen im Zimmer umherwandern. Karen seufzte erleichtert. Andy lag schweratmend in einer Ecke. Min-Jee schien in einen tiefen Schlaf versunken zu sein.
„Was nun?“, fragte Karen, „Was machen wir mit ihr? Sie töten? Ins Koma versetzen? Ihre Erinnerungen manipulieren?“
Alice zuckte müde mit den Schultern. Sie hatte keine Antwort.
„Andy ist verletzt“, sagte Karen.
Langsam ging Alice auf den Verwundeten zu und beugte sich über ihn. Sie spreizte ihre Hände, griff mit ihrem Geist in die Quantenwelt hinein und begann zu rippen. „Ich habe einige Knochen halbwegs zusammengefügt. Es sind etliche Nerven verletzt. Das kriege ich nicht hin. Vielleicht schaffen sie es unten in der Unterwasserstation. Vielleicht.“
„Ich kann meine Beine nicht bewegen“, flüsterte Andy.
„Dein Rückgrat war eben noch gebrochen.“
„Werde ich wieder laufen können?“
Alice schaute ihn an und schwieg einen Moment lang. „Das können wir später klären. Jetzt müssen wir weg von hier, irgendwie.“
Karen wollte von Alice wissen, wie sie die beiden fortschaffen könnten, da sie nicht in der Lage wären, so perfekte Tunnel wie Christian zu formen.
„Nun, für Andy könnten wir die Feuerwehr rufen. Ein Unfall. Sie werden ihn ins nächste Krankenhaus bringen. Min-Jee dürfen wir nicht unbeaufsichtigt lassen. Wir müssen sie mitnehmen, indem wir mehrere Tunnel hintereinander bauen. Ist zwar Flickwerk, aber es könnte gelingen. Wir müssen weg von hier. Ihre Anhänger können jeden Moment auftauchen“, sagte Alice und beugte sich über Min-Jee.
„Was machst du?“
„Ich blockiere alle ihre Erinnerungen.“
„Alle?“
„Uns bleibt keine Zeit für den Feinschliff“, antworte Alice.
„Das heißt, sie wird zum Zombie! Wir waren doch mal die Guten.“
„Wir sind im Krieg, Karen, im Krieg. Es wird alles in Ordnung kommen. Eines nach dem anderen.“
Andy lag im Bett.
„Hallo, Besuch!“, rief Karen mit gespielter Heiterkeit.
„Hallihallo, es gibt Schokolade, die Lieblingsspeise aller Helden!“, trällerte Alice und legte eine Schachtel Konfekt auf die Anrichte neben dem Bett.
Das Kopfteil des Bettes richtete sich auf und brachte Andy in eine sitzende Position.
„Wie geht's?“, fragte Karen.
„Den Umständen entsprechend. Die Umstände sind allerdings nicht so günstig. Wann komme ich zur Unterwasserbasis, wegen der Behandlung?“
„Bald“, versprach Alice, „sehr bald. Es gibt da diese kleine Krise, die alles erschwert. Habe noch ein wenig Geduld!“
„Ehrlich gesagt: Die erste Zeitlinie hat mir besser gefallen. Den Schluss ausgenommen“, sagte Andy und lächelte krampfhaft.
„Du hast ein Anrecht auf die Wahrheit. Es hat nie eine erste Zeitlinie gegeben.“ Karen atmete tief durch.
„Unsinn, natürlich hat es die gegeben. Ich entsinne mich genau, sogar an jedes Detail, bis dahin, als der Ozean zu kochen begann.“
„Ja, das stimmt, du kannst dich daran erinnern“, bestätigte Alice, „aber geschehen ist das alles nicht. Es war eine Illusion. Wir haben deine Freundin beobachtet, wussten von ihrem Kontakt zu Min-Jee. Auch über dich haben wir einiges herausgefunden. Reine Routine, wir haben alle Kontakte Min-Jees kontrolliert. Als wir auf dich gestoßen sind, war unsere Chance da, an sie heranzukommen. Dein Persönlichkeitsprofil zeigte uns, dass du nicht zum Fanatismus neigst. So glaubten wir, dich für unsere Sache gewinnen zu können. Wir brachten dich dazu, uns zu helfen. Kurz vor deiner Entlassung aus dem Gefängnis statteten wir dir einen heimlichen Besuch ab, als du geschlafen hast. Wir haben deine Erinnerungen manipuliert. Wir ließen dich glauben, die nächsten Wochen wären schon vorbei, du wärest wieder in der Freiheit und triffst dann irgendwann auf uns. Du kennst die Geschichte ja. Auch wir können die Zeit nicht auf diese Art zurückdrehen, wie wir dich haben glauben lassen. Das geschah alles nur in deinem Kopf. Für den Geist war es Real. Du solltest mitbekommen, wie die Welt untergeht. Wegen der Motivation, damit du auf unserer Seite bist. Du wurdest nur einmal aus dem Gefängnis entlassen, das zweite Mal, das erste Mal war es nicht echt. Alles nichts weiter als von uns erschaffene Illusionen. Sie wurden aus deinen wirklichen Erinnerungen designt und aus den Ergebnissen unserer Recherchen über dich. Das haben wir mit einer Story gemischt, die dafür sorgen sollte, dass du uns hilfst“.
„Das ist unglaublich! Ich wurde schamlos manipuliert?“
„Ja Andy, eigentlich kann man es so nennen. Wir sehen die moralische Verpflichtung, es dir jetzt zu sagen. Somit weißt du, was du wirklich erlebt hast, und was nicht von dir ist.“
„Das bedeutet: Die Welt war gar nicht in Gefahr unterzugehen? Die Flotte der Enceladusaner greift nicht an?“
„Die Lage ist durchaus ernst. Niemand weiß genau, wie ernst“, sagte Alice.
Andy schüttelte verständnislos den Kopf. „Und deswegen bin ich gelähmt, wegen einer Lüge, einer Illusion. Vielleicht ist das hier ja auch nicht wahr, ihr, dieses Zimmer. Vielleicht ist das nur eine Erinnerung, jetzt gerade implantiert, später werde ich sie glauben. Es wäre nicht so schlimm, wenn die Enceladusaner den Krieg gewinnen würden, dann müssten wir eure Grausamkeit nicht mehr ertragen.“
„Es ist verständlich, du bist verbittert. Es hat dich hart getroffen“, sagte Karen mit sanft.
„Du musst Geduld haben“, fügte Alice hinzu. Sie wusste, ihr Volk wurde immer schwächer und es verlor nach und nach seine Fähigkeiten. Das kollektive Bewusstsein geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Wenn ein Schleier vor dem Tunnel hing, der die Bewusstseinsebenen miteinander verband, wurde es schwierig, die Struktur der Materie zu verändern. Momentan konnte man Andy nicht helfen.
„Und – Min-Jee, was ist mit ihr?“, wollte er wissen.
„Blockierte Gedächtnisstränge. Sie befindet sich in einer Nervenklinik. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist und was sie getan hat“, erklärte Alice betont sachlich. Sie wusste, dass Min-Jee vorerst in der Klinik bleiben würde. Auch ihr konnte nicht geholfen werden. Gedächtnisse zu löschen, war einfach, sie zu reparieren kompliziert.
Üppig wippten goldene Ähren an den Halmen. Der Wind blies Wellen ins Kornfeld. Noch hatte man die Ernte nicht eingebracht. Von Ferne her blökte eine Kuh. Es war eine dieser Herbststunden, die noch einmal zeigen wollten, was die Sonne kann, bevor die Tage grau und kurz den nahenden Winter ankündigten. Und tatsächlich flog das Licht hin und her, einem trunkenen Kranich ähnlich, oder spann gleißende Fäden durch die Luft, ließ die Blätter an den Birken, die am Wegesrand standen, flattern und in sämtlichen Rot-, Gelb- und Brauntönen aufflammen. Aufrecht wie ein Baum stand Philip da. Er bemerkte einen untersetzten Mann auf sich zukommen. Der Fremde machte vor ihm halt, grüßte und musterte ihn neugierig. „Gut sehen Sie aus“; sagte der Mann in einem vertraulichen Ton. „Macht wohl die Landluft. Übrigens, Lehmann ist mein Name. Sie erkennen mich wohl nicht wieder, oder? Ich hörte davon. Sie erinnern sich nicht. Wir hatten einmal miteinander zu tun. Ich arbeitete bei der Polizei. Aber das ist Vergangenheit.“
„So, so – Polizist waren Sie. Allerdings müssen sie sich irren, tut mir leid, ich kenne Sie wirklich nicht. Mein Gedächtnis ist übrigens ausgezeichnet“, sagte Philip zu dem alten und leicht verwirrten Mann, dessen Erinnerungen sich offenbar mit seiner Einbildungskraft unheilvoll vermengten.
„O ja, ich verstehe. Entschuldigen Sie, es war dumm von mir, Sie zu belästigen, ich bin nur einer Eingebung gefolgt. Es kam mir vor, als wäre es wichtig, dass Sie sich erinnern; besser gesagt, dass derjenige sich erinnert, für den ich Sie hielt. Ich habe mich geirrt. Wenn ich Sie mir genau betrachte, sind Sie es wirklich nicht. Also nicht der, für den ich Sie hielt. Eine dumme Verwechslung meinerseits. Meine Recherchen haben mich in diese Gegend geführt, als ich Sie dann sah … Wissen Sie, Ihre Gesichtszüge, sie sind ähnlich wie ... Na ja, lassen wir das. Sie sind es einfach nicht! Also, Sie können unsere kleine Begegnung ruhig vergessen. – Tja, schön haben Sie es hier. So ruhig, ganz anders als in der Stadt.“
„Ja, ich liebe es auch hier. Könnte mir nicht vorstellen, woanders zu leben, als auf dem Land. In den Städten soll es zurzeit ja Unruhe geben.“
„Sehr viel Unruhe. Manche Leute müssen sogar untertauchen. Man redet vom Kalten Krieg zwischen Staat und Volk. Es reichen die falschen Kontakte und schon wird man zur unerwünschten Person.“
„Es tut mir leid für diese Leute. Ich glaube immer an ein gutes Ende.“
„Ich auch, ich auch“, sagte der alte Herr, seine schmalen Lippen lächelten müde, über sein Gesicht huschte ein Ausdruck von Wehmut. „Machen Sie es gut“, stieß er abrupt hervor und ging des Weges.
„Sie auch, schönen Tag!“, rief Philip ihm nach.
Bald war der Fremde hinter einem Wäldchen verschwunden. Überall roch es nach sterbender Schönheit, nach einer Reife, die vollendet war. Philips Blicke hefteten sich an Vogelschwärme, die südwärts zogen, einem neuen Horizont entgegen. Er atmete, und das Einatmen der spätsommerlichen Luft brachte Frieden in sein Herz. Bevor es vor Glück zerspringen drohte, fiel er um. Alles schwarz. Nach und nach erkannte er etwas, Lichter, eventuell Sterne. Nein, doch nicht, jetzt sah er, es waren Quallen. Sie schwammen vor ihm, sie leuchteten aus sich selbst heraus. Es wurde heller um ihn. Seine Augen gewöhnten sich an die neue Umgebung. Hinter den Quallen, die wie lebende Lampen wirkten, schwebten skurrile Wesen über den Boden des Gewässers, in dessen Tiefe er sich befand. Ihre großen Flossen, zwei an der Zahl, zitterten bizarr; auch verfügten sie über zwei Arme, die denen der Menschen ähnelten. Mit großen Augen musterten ihn die Gestalten. Sie wirkten nicht bedrohlich, nur sehr fremdartig, obwohl von ihnen auch eine seltsame Vertrautheit ausging. Er konnte sie hören, es war, als sprächen sie in seinem Kopf. Sie redeten alle gleichzeitig und doch mit einer Stimme. „Dir kann nichts geschehen“, sagten sie, „ dein Körper schläft, dein Geist ist wach. Alles das, was du nun hören wirst, wurde einst in dich eingepflanzt. Die Zeit ist reif, der Same kann aufbrechen. Wir sind die Weisen von Europa, die Weltenträumer. Einst hast du uns besucht, als du jung warst. Wir sind die Weisen, wir sprechen mit einer Stimme, mit einem Herzen, einem Geist, höre auf unsere Worte: Wir erblickten die heilige Welt, in deren Räume sich die Fäden des Schicksals verflechten, um jene Zukunft zu erschaffen, die irgendwann zur Gegenwart gerinnt. Niemand blickt so weit durch die Räume der Zeit wie wir; niemand sonst sieht so klar, wie die Fäden sich weben und verknoten, zerreißen und sich wieder bilden. In jener Zeit, in der du uns hören wirst, werden viele Augen getrübt sein und die Geister verwirrt. Man fragt: Liegt es an den Kindern der Erde? An den Geschwistern auf Enceladus? Oder liegt es an uns, die wir von Mutter Europa stammen? Wir prophezeien einen tiefen Schatten, er wird sich über den Geist der Völker legen. Man wird nicht mehr wissen, was man tut und taub sein für die Worte, die das eigene Herz spricht. Die Sehenden taumeln blind, die Liebenden gebären Hass. Und in der finsteren Zeit der Seele werden Waffen gegen Waffen stehen. Die Weisheit wird man einen Dreck schätzen, die Unwissenden aber werden sich erheben und mit lauter Kehle leere Worte vor die Masse spucken, bis man ihnen folgt. Aber bevor die Völker, welche entsprungen sind aus demselben Schoß, sich peinigen bis aufs Blut, soll ein Licht aufflackern und die Finsternis mit den Flammen der Wahrheit erleuchten, auf dass die, welche der Lüge folgten, sich abwenden von ihren Taten und heulen und zetern wegen ihrer zerrütteten Seelen. Dieses Licht, das wir durch die Zeit senden, sollst du sein. Während andere sich besudelten, da blieb dein Geist rein, erfreute sich an der Unwissenheit, er mied das Gift der Gedanken und Meinungen. Denn dort ist die Quelle des lebendigen Wassers nicht zu finden, wer dort sucht, fischt im Trüben. Die Klugen und Rachsüchtigen, auch die, die meinen, sie täten das Beste, schaufeln künftige Gräber. Darum halte dein Herz fern von solchen, die Verwirrung stiften. Sie wollen dich bei der Hand nehmen und führen, kennen aber den Weg nicht. Richte deinen Blick auf den hellsten der Sterne, sein Licht ist sauber und nahrhaft. Dein Auge soll sehen, so wie unsere Augen sehen. Sprich, was ist dort?“
Philip schaute sich um, konnte aber nichts erkennen. Zu trübe war das Wasser. „Ich sehe nichts“, sprach er.
Die Weisen ruderten bedächtig mit ihren Flossen. „Du schaust mit den Augen des Fleisches. Benutze das Auge, das tiefer sieht. Die Augen, die nach außen blicken, erkennen nur den Schein, die Wahrheit sehen sie nicht.“
Nach diesen Worten war ihm, als öffne sich tatsächlich ein Auge inmitten seiner Stirn. Nun sah er kein schmutziges Wasser mehr vor sich. Alles wurde hell, gleißendes Licht umhüllte die Dinge und offenbarte eine beinah schmerzende Klarheit. Er sah alles, nichts blieb ihm verborgen. Er erinnerte sich daran, wer er war. Langsam erhob er sich. Die Erde hatte ihn wieder. Sorgsam betrachtete er seine Hände. Sie waren kräftiger geworden von der Feldarbeit. Er entsann sich seiner Flossen, mit denen er einst das Wasser auf seinem Heimatmond flink durchschnitten hatte, damals, als er ein übermütiger Junge war. Mehrere Körper hatte er gehabt, mehrere Leben gelebt. Selten war ihm klar geworden, wer er wirklich war. Nun wusste er es. Er blickte in sein eigenes Herz und sah dort den hellsten aller Sterne brennen. Es war keine Frage, was er zu tun hatte. Mit großen Schritten lief er heimwärts.
Seine Frau stand in der Küche und schnitt Gemüse zu Würfeln. Unbemerkt ging er auf sie zu, entwand ihr mit einem geschickten Griff das Messer und zog sie fest an sich. Er schaute ihr in die Augen. Es war ihm, als würde er zum ersten Male ihre Seele erblicken, die sich zitternd hinter dem Fleisch ihres Gesichtes verbarg. Er hatte sie gekannt, aber nicht erkannt. Nun wusste er, wer er selbst war, darum konnte er sehen, wer sie war. Ihr Mund öffnete sich zu einer Frage, die er zu ersticken wusste, indem er ihn zart mit Küssen verschloss. Als er von ihr abließ, schwieg sie. Gewiss ahnte sie, dass etwas Bedeutendes geschehen würde.
„Ich muss gehen“, sagte er. Eine Welle von Liebe strömte aus seinem Herzen und schwappte in ihre Seele hinein. Er drehte sich einmal noch um, als er die Tür erreicht hatte. Schweigend verließ er das Haus.