Sonntag, 21. November 2021

                            5. TEIL

Philip betrat sein Hotelzimmer und ließ sich in den schäbigen Sessel fallen. Eines der wenigen Möbelstücke im Raum. Er griff mechanisch nach dem Smartphone. Dieser verdammte Reflex! Anrufen wäre zu gefährlich. Jeder konnte abgehört werden, so war das heutzutage. Das hoteleigene Telefon wäre bestimmt sicherer. Falls überhaupt noch etwas sicher war in dieser durchgeknallten Welt. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Seine Augen tasteten wie automatische Kameras die Straße ab. Das Gehirn untersuchte die eingehenden Daten auf Gefahrenquellen. Nichts Verdächtiges, obwohl alles verdächtig sein konnte. Da draußen, nicht nur auf dieser Straße, da draußen in der Welt, dort lauerte eine Gefahr, eine unsichtbare, eine Falle, und man würde sie erst bemerken, wenn sie zuschnappte. Er griff entschlossen nach dem Festnetztelefon und wählte Elmars Nummer.

„Denk' dir bloß Elmar, da war diese Frau, mit der ich zusammengestoßen bin. Ich weiß nicht mehr, ob ich dir das erzählt habe. Jedenfalls – ich habe sie wiedergetroffen, zufällig. Vielleicht aber doch nicht so ganz zufällig. Sie schwatzte irgendetwas vom Schicksal. Und jetzt kommt der Hammer: Wir wurden verfolgt, ganz plötzlich, verfolgt von zwei unheimlichen Typen. Und wir sind dann schnell in ein Haus rein. In irgendein Haus. Und die Kerle uns hinterher wie wild. Die Frau aber schien sich dort auszukennen. Sie war ihnen immer eine Nasenlänge voraus, als hätte sie geahnt, was die Typen als Nächstes im Schilde führen. Wir haben es – dem Himmel sei Dank – wieder bis auf die Straße geschafft. Dort hat sie auch noch einen Autounfall verursacht. Du glaubst es nicht. Ein paar Wagen sind zusammengestoßen. Angeblich hat in einem davon jemand gesessen, der auf uns angesetzt war. Mann, das war total wild, das kann ich dir sagen! Und sie weiß gewiss einiges über Alice, sie wusste auch, dass ich sie suche. Karen heißt die Frau.“

„Das ist ja eine seltsame Geschichte Philip. Wer weiß, wer sie ist, diese Karen – vielleicht gehört sie zu einer dieser Gruppen, vor denen jetzt überall gewarnt wird. Womöglich ist sie eine Agentin der Außerirdischen, falls es die wirklich gibt. Kann aber auch sein, sie arbeitet für den Geheimdienst. Ich meine, irgendwer will ja augenscheinlich etwas vertuschen, was deine Schwester betrifft. Diese Karen ließ sich eventuell von ihren eigenen Kollegen verfolgen, zum Schein. So konnte sie dich beeindrucken, dein Vertrauen gewinnen. Für einen Rückzieher allerdings ist es zu spät, du solltest jetzt so viel wie möglich über sie herausfinden. Zumal wenn sie etwas über deine Schwester weiß. Aber sei bloß vorsichtig!“

„Ich werde mich bemühen. Wann können wir uns sehen?“

„Ich melde mich Philip. Ist sicherer.“

„Okay, bis dann Elmar!“

„Bis dann!“

Jetzt fühlte Philip sich etwas besser, da er eine vertraute Stimme gehört hatte. Draußen allerdings lauerte noch immer diese schreckliche Welt, die ihn mit tausend Augen beobachten konnte. Aber was hieß das eigentlich – draußen? Das Hotelzimmer gehörte ja auch zur Welt. Es wäre möglich, dass winzige Kameras auf ihn gerichtet waren. Und das Telefon! Wie naiv wäre es, anzunehmen, dass ein Zimmertelefon sicher sei? Auch das Telefon gehörte zu – da draußen! Wo endete die Welt da draußen eigentlich? An seiner Haut? Nein, es ging tiefer, es ging bis unter die Haut! Vielleicht war es schon in seinem Kopf, waren SIE schon in seinen Gedanken, wer auch immer sie waren, woher sie auch immer gekommen sein mochten. War er wirklich noch der Denker seiner Gedanken? Er würde es herausfinden. Jetzt aber musste er weg, schnell weg. Hier würde er nicht sicher sein. Hektisch stopfte er paar Sachen in den Rucksack und flüchtete aus dem Hotelzimmer. Mit schnellen Schritten lief er zur nächsten Stadtbibliothek, ohne zu wissen, warum. In seinem Kopf schwirrten unzählige Gedanken, die vielleicht ein anderer dachte, oder niemand, oder es waren Gedanken, die einst seinen Eltern gehört hatten, die sie unbedacht angefangen hatten zu denken. Nun schwirrten sie in seinem Kopf, ob er wollte oder nicht.

Als er die Bibliothek betrat, fühlte er sich sicher. Es duftete nach alten Büchern. Man hatte sie zwar digital gezählt, aber immer noch gehörten sie der guten alten Zeit an, einer Zeit ohne Facebook und Smartphones und dem ganzen Schrott. Im Inneren der Bücher lagen viele Welten verborgen, Welten, die friedlicher, ruhiger waren, als die virtuellen Realitäten, in denen man allzu gern herumlungerte. Die Welt, so beschloss er, war wahnsinnig geworden. Sie drehte sich schneller, immer schneller, während die Zeit, über die man verfügte, dahinschmolz wie eine Schneeflocke in der Sahara. Hier aber, an diesem Ort der Besinnung, konnte er die Zeit anhalten. Am Ende des Lesesaales befand sich eine Lounge mit breiten Sesseln, auch ein Getränkeautomat stand dort. Er schlenderte an den Regalen vorbei, die es bald nicht mehr geben würde, wenn das E-Book-Format sämtliche Bücher aus Papier verdrängt hätte. Mit zittrigen Händen zog er sich einen Kakao aus dem Automaten und nahm eine der Zeitungen aus dem Leseregal. Er setzte sich und hielt die Zeitung derart, dass man nicht sehen konnte, was dahinter vor sich ging. Zuerst trank er einige Schlucke vom Kakao ab, dann schüttete er Kratom in den Becher hinein, eine Dosis, die eine ziemlich betäubende Wirkung versprach. Irgendwie musste er zur Ruhe kommen, trotz der Angst, die von überall her nach ihm griff, trotz der unzähligen Gedanken, die ihm wie fremde Besucher im eigenen Kopf vorkamen. Eine Insel aus Kratompulver, Sorte Borneo Red Veine, schwamm auf dem Kakao. Wie sollte er das Ganze nur umrühren? Endlich benutzte er mutig den Zeigefinger dazu. Es war heiß, aber noch erträglich. Nun starrte er in eine Masse von Braun und Dunkelgrün hinein. Er führte den Becher zu den Lippen und trank. Das Süße und das Bittere ergaben zusammen einen seltsamen Geschmack. In seinem Hals setzte sich das Kratompulver. Es begann zu kratzen. Erst ein weiter Becher mit Kakao rettete ihn vor einem Erstickungsanfall. Zufrieden versank er in den Sessel. Hier gab er alles, was er brauchte, sogar einen WLAN-Anschluss.

Nach wenigen Minuten zeigte die Droge ihre Wirkung. Etwas geschah mit dem Körper. Wärme durchströmte ihn, sein Kiefer fühlte sich taub an. Er saß da und hatte vergessen, was er wollte. Dass einfaches Herumlungern derart zufrieden machen konnte! Irgendwann, Minuten oder Ewigkeiten später musste er auf die Toilette gehen. Mit eisernem Willen kämpfte er sich aus dem Sessel. Langsam kam er voran, Schritt für Schritt. Ein Knall unterbrach den Frieden, der alles eingehüllt hatte. Er fragte sich, woher dieses Geräusch gekommen sein mochte; dann fiel sein Blick auf ein Buch. Es lag auf dem Boden und musste wie von Zauberhand aus dem Regal gefallen sein. Eine Seite war aufgeblättert. Er hob das Buch auf und las den Satz: WOHER KOMMEN DIE GEDANKEN? Er klappte es zu und stellte es ins Regal zurück. Das war ja meine Frage, die da im Buch stand, sagte er sich. Wie kam nur meine Frage dahin?

Ihm fiel sein Smartphone ein. Er musste unbedingt die Karte herausnehmen, oder besser, den Akku. Vielleicht konnten sie ihn sonst orten, wer immer sie sein mochten. In diesem Moment klingelte es. Zögernd bewegte er das Gerät zum Ohr. „Hier ist Karen.“

„Wie? Woher hast du denn überhaupt meine Nummer??“

„Wahrscheinlich von dir.“

„Daran kann ich mich aber nicht erinnern“, sagte Philip ungehalten.

„Egal. Ist das Buch schon aus dem Regal gefallen? Ich meine gewiss ist es das. War nur eine rhetorische Frage.“

Philips Mund öffnete sich wortlos.

„Bist du noch da, Philip? Hast du den Satz gelesen, der für dich bestimmt war?“

„Ich muss den Akku aus dem Smartphone nehmen“, sagte er mit emotionsloser Stimme.

Die Welt rückte in die Ferne. Das also war es. Offenbar hatte sich der Wahnsinn seiner bemächtigt. Er müsste ab nun sein Leben in einer Nervenklinik verbringen, ohne Kratom, dafür aber mit viel Psychopharmaka und einigen Therapieversuchen, die allesamt nichts bringen würden. Tagein, tagaus arrogante Psychiater und bösartige Pfleger, dazwischen läufige Schwestern, die es mit den arroganten Psychiatern trieben und für ihre Patienten nur tiefe Verachtung übrig hatten. Ein psychologischer Trick von ihnen, um die eigene Selbstachtung nicht zu verlieren. Ihm schwindelte, er drehte langsam durch! Oder es war noch schlimmer: Nicht er wurde verrückt, sondern mit der Welt stimmte etwas nicht mehr! Übelkeit kauerte in seinen Eingeweiden wie ein bösartiger Gnom. Er rannte zur Toilette, beugte sich über die Kloschüssel und übergab sich. Der Ekel, der ihn gepackt hatte, kam nicht aus dem Magen, er stammte nicht vom Kraton, sondern kam aus seiner Seele. Sie erbrach alles, was in ihr war, Jahre der Dummheit, verlorenes Leben, Nichtwissen und Ahnungslosigkeit darüber, woher die Gedanken kamen. Die Seele spie sich selbst aus. Sie war genauso ein Betrug wie alles andere.

Eine Stimme weckte ihn. „Wir schließen jetzt“, mahnte eine Bibliotheksangestellte.

Seine schweren Augenlider klappten auf. Er war im Sessel eingeschlafen. Schlafwandlerisch lief er nach draußen. Der Abend war schön wie eine Prinzessin, die sich in dunkle Seidentücher schmiegt. Die Grenzen seines Körpers verschmolzen mit der fleischigen Dämmerung. Sein Smartphone klingelte. Er erkannte Elmars Stimme.

„Ach, jetzt habe ich doch vergessen, den Akku aus dem Smartphone zu nehmen“, klagte Philip.

„Warum willst du das tun?“

„Na ich kann sonst geortet werden, oder?“

„Keine schlechte Idee Philip, nur ich erreiche dich dann auch nicht mehr. Hast du sie übrigens wiedergetroffen, diese Frau?“

„Sie hat mich angerufen. Vorhin.“

„Wie? Sie hat deine Nummer?“

„Nein, natürlich nicht. Das heißt – doch. Aber sie hat sie nicht von mir.“

„Das hört sich nicht gut an. Ja, du solltest den Akku rausnehmen. Ruf mich von einem anderen Gerät an, oder sende mir eine SMS aus einem Internetcafé. Melde dich, wenn es was Neues gibt. Besonders mit dieser Frau. Du weißt ja, wenn es um Frauen geht, verlieren Männer oft den Blick für die Tatsachen. Du bist doch nicht etwa verliebt in sie?“

„Nein, eigentlich nicht. Irgendwie hat sie etwas, ich weiß nicht, was es ist, aber verliebt? Also zumindest noch nicht. Nee – ich glaube nicht!“

„Nun, dann bleibe mal standhaft Philip. Und melde dich wieder, wenn es Neuigkeiten gibt, ja?“

„Okay mach dir mal keine Sorgen, wird schon alles schiefgehen, tschüss!“

Während des Telefonats war ein weiterer Anruf eingetroffen. Die Nummer war ihm nicht bekannt. Aber vielleicht ... Er klappte seine Brieftasche auf und entnahm ihr eine Visitenkarte. Sie stammte vom Kommissar, der so getan hatte, als wäre er auf seiner Seite. Die Nummern waren identisch. Er entfernte die Rückseite des Smartphones und riss den Akku heraus.

Von ferne her hörte er das Quietschen eines bremsenden Zuges. Es kam ihm so vor, als sei er selbst dieses Geräusch gewesen. Er musste lachen. Wie konnte ein Mensch nur ein Geräusch sein? Aber wo verlief die Grenze zwischen ihm und der Welt? Wo befand er sich? Was war er? Und wie zum Teufel kamen all die Gedanken in seinen Kopf hinein?

„Schau doch nach“, sagte eine Stimme hinter ihm. Er zuckte zusammen und drehte sich um. „Habe ich dich erschreckt, “fragte Karen und lächelte.

„Ich weiß, wie du mich reingelegt hast“, behauptete er. „Du hast mich verfolgt und beobachtet, deswegen wusstest du von der Sache mit dem Buch. Nur das mit der aufgeschlagenen Seite kann ich nicht erklären.“

Karen lachte ihm ins Gesicht. „Na das nenne ich aber Kleingläubigkeit! Der Verstand sucht immer Erklärungen, die ihm genehm sind. Wenn wir darauf hören, versäumen wir viel. Aber wir haben ja Angst, unser gewohntes Weltbild könnte – ach wie furchtbar – ins Schwanken geraten!“

„Du lenkst ab. Die Frage ist: Wer bist du?“

„Ach Philip, ich lenke nicht ab. Ich bin ein offeneres Buch, als du denkst. Die Frage ist tatsächlich: Wer bist du? Du hast sogar vergessen, dass du einer der begehrtesten Spezialisten der ESA warst, die mit am Projekt EUROPA gearbeitet haben. Aber dann ist etwas schiefgegangen.“

Einerseits schien es ihm, als sei es die Wahrheit, die Karen da aussprach, andererseits hörte es sich an, als plapperte sie reinen Unsinn. Eigentlich war es ihm unmöglich, Vorstellungen und Erinnerungen auseinanderhalten. Die letzte Woche war kein Problem. Er wusste genau, was da passiert war. Ältere Erinnerungen allerdings verschwammen in seinem Geist und konnten nicht von Tagträumereien unterschieden werden. Er war krank. Jeder, der das wusste, konnte es ausnutzen. „Es mag sogar stimmen, was du da sagst. Ich entsinne mich an die letzten Tage, auch kommen mir Bilder aus der Kindheit, obwohl sie wie künstlich wirken, irgendwie als wären sie aus einem Bilderbuch, aber ich weiß nicht sicher, was dazwischen passiert ist. Ich muss mich darauf konzentrieren, einen Faden finden und mich daran entlanghangeln. Momentan aber ist mein Kopf wie Matsch. Ich meine, man könnte mir alles Mögliche erzählen und ich würde es glauben. Die Welt ist so flüchtig, dass ich nicht mehr weiß, was real ist. Ich bin ein kranker Mann. Ich suche meinen Frieden. Lass mich bitte in Ruhe! Es ist schändlich, kranke Menschen zu quälen.“

Karen sah ihn streng an und sagte ernst zu ihm: „Du solltest deinen Kratomkonsum einschränken!“

„Ja, im Prinzip keine schlechte Idee, aber das Kratom macht mich wieder normal.“

„Na ja“, sprach sie bedächtig, „deine Aufgabe ist es vielleicht nicht, normal zu sein, sondern wieder du selbst zu sein. Oftmals ist das, was wie Verrücktheit aussieht, das Ende der Verrücktheit. Finde es heraus. Wir brauchen dich.“

„Wir?“, sprach er, „wer ist das – wir?“

„Wir sind ich, wir sind das Zentrum, das Kontinuum. Du weißt es, in Wahrheit weißt du es. Du spielst dieses Spiel mit dir selbst, du spielst, es nicht zu wissen. Und mich hast du natürlich auch nie gesehen, oder? Ich meine, bevor wir zusammengestoßen sind auf der Straße. Und mein Gesicht – Du hast es vergessen?“

„Wieso? Haben wir uns mal gekannt?“, fragte er erstaunt.

„Wie konntest du mich nur vergessen?“, sie sah ihn flehend an.

Er lächelte unsicher. Offenbar wollte sie ihn manipulieren. Seine Erinnerung mochte Lücken aufweisen, er entsann sich dennoch an Elmar, zwar unklar, aber immerhin, er wusste, dass Alice seine Schwester war, auch wusste er, dass er einen Exschwager hatte und eine Nichte, wenn ihm auch momentan ihr Name nicht mehr einfiel; aber die Frau vor ihm war eine Fremde. Er müsste noch einmal mit Elmar sprechen, vielleicht hatte der ihm nicht alles erzählt.

„Wenn ich nur ein Handy hätte“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Karen.

Sie holte ein Smartphone aus ihrer Jackentasche und fuhr mit dem Zeigefinger über den Touchscreen. „Ich stelle es nur auf die Fabrikeinstellungen zurück. Es war wieso mal deins. Was meins ist, ist auch deins. Eigentlich gibt man Geschenke ja nicht zurück, aber da du es dringend brauchst, bitte!“ Sie hielt ihm das Gerät hin.

„Das ist wirklich nett, ich werde es wiedergutmachen. Das mit den Geschenken habe ich zwar nicht verstanden. Muss ich wohl auch nicht. Lebe wohl.“

„Auf Wiedererinnern“, sprach sie und senkte traurig den Kopf.

Er drehte sich um und ging.

Sonntag, 14. November 2021

                                                                4 TEIL

 

 

 

Irgendwo mussten sie geblieben sein, diese Wissenschaftler. Sie alle waren mit ihren Autos vom Gelände des Instituts gefahren. Er hatte den Pförtner befragt und hielt dessen Auskünfte für glaubwürdig. Kommissar Lehmann trottete mit in Falten gezogener Stirn auf das ESA-Gebäude zu. Hier waren sie zuletzt gesehen worden, bevor sie sich buchstäblich in Luft aufgelöst hatten. Nun wollte er abermals den Pförtner befragen, möglicherweise hatte er ein Detail übersehen.

Er grüßte den Pförtner und zeigte seine Dienstmarke. Dieses Mal stand er einem anderen Mann gegenüber. „Sehen Sie, ich habe ja schon Ihren Kollegen befragt, den, der an dem Tag Schicht gehabt hatte, als Frau Alice Stein-Lumen zuletzt im Institut gesehen wurde. Möglicherweise ist Ihnen etwas zu Ohren gekommen und Sie können mir einen Hinweis geben.“

Der Pförtner kratzte sich am Kinn. „Nun, ich denke nicht, dass ich Ihnen da helfen könnte. Ich habe auch nur gehört, dass alle wie immer zum Feierabend mit ihren Wagen rausgefahren sind. So, wie jeden Tag. Nur, na ja, das wird nichts Wichtiges sein: Die Frau Stein-Lumen, so habe ich es von einem Kollegen, als sie rausgefahren ist, da saß noch wer bei ihr im Wagen. Wer das war, konnte keiner sagen. Abgedunkelte Scheiben, Sie wissen ja. Na ja, kommt ja öfters vor, dass jemand Mitarbeiter aus anderen Abteilungen ein Stück im Wagen mitnimmt. Ein Mann soll's wohl gewesen sein. Das ist aber auch alles, mehr weiß ich auch nicht.“

Der Kommissar bedankte sich. „Das könnte durchaus von Belang sein“, bemerkte er und ging zum Parkplatz zurück, wo sein Auto stand.

Er setzte sich hinter das Steuer, steckte die Autochipkarte in den Schlitz, aber drückte den Startknopf nicht. Seine Lungen saugten sich mit Luft voll, dann atmete er seufzend aus, um sich von einer Last zu befreien, die ihm aufs Herz drückte. Ja, sagte er sich, das musste die Erklärung sein. Der Fremde im Wagen. Gewiss hatte dieser Mann eine Waffe in der Hand, oder seinen Anweisungen wurde gefolgt, weil er sich als Regierungsbeamter ausgewiesen hatte. Vermutlich war es ein Mitarbeiter des IES, des neuen Geheimdienstes, der angeblich für die Erdsicherheit zuständig war, dessen Machenschaften niemand durchschaute. Und so, vermutete der Kommissar weiter, war Alice Stein-Lumen wohl nicht die einzige Mitarbeiterin gewesen, die an dem Tag eine Begleitung im Wagen zu sitzen hatte. Sie alle mussten bei ihrer Arbeit etwas entdeckt haben. Die Öffentlichkeit sollte auf keinem Fall erfahren, um was es sich dabei handelte. Aber wo befanden sich die Wissenschaftler jetzt? Hatte man sich damit zufriedengegeben, sie an einem geheimen Ort unterzubringen, oder war es zum letzten Schritt gekommen, und sie wurden eliminiert? Er verbesserte sich und ersetzte das Wort eliminiert durch ermordet. Er erschreckte vor den Gedanken, die aufdringlich durch seinen Geist huschten. Waren sie wirklich so weit gegangen? Wenn ja, wie lange noch konnte man die Sache vertuschen? Ein Angehöriger könnte zu viel reden, unbequeme Fragen stellen! Vielleicht war ein Virus mit im Spiel, das sich gegen Desinfektion ihres Untersuchungsgegenstandes als resistent erwiesen hatte. Wer wusste das schon? Irgendetwas musste passiert sein, etwas Seltsames, und es könnte sich wie ein kalter Schatten über das Schicksal der Menschheit legen.

Die Polizei hatte man ausgeschaltet, alles unterlag strengster Geheimhaltung. Würde er bei seinen privaten Nachforschungen erwischt werden, ginge es ihm an den Kragen! Was hatte er schon zu verlieren? Sein Leben war ein Spiel ohne Zukunft. Er überlegte den nächsten Schritt. Ihm fiel nichts ein, stattdessen bemächtigte sich seiner eine aufdringliche Vorstellung: Er sah einen Knochenmann vor seinem inneren Auge, der zu ihm sagte: „Der nächste Schritt ist immer der, den man als Nächstes macht!“ Dann lachte der Kerl schauerlich.

Bist du der Tod?“, fragte Kommissar Lehmann.

Ich bin der, von dem du glaubst, dass ich es bin“, bekam er zur Antwort. „Sie werden dir bald auf die Spur kommen.“

Wer“, fragte er, „wird mir auf die Spur kommen?“

Der Knochenmann klapperte mit den Zähnen. „Höre ich da etwa Unsicherheit aus den Worten? Nun, die Sicherheit wird sich noch einstellen! Ja, sie werden kommen. Sie fühlen sich mächtig, sie werden Angst verbreiten. Sie sind aber nicht allmächtig. Eigentlich sind sie schwach, wenn man genau hinschaut, und sie haben einen starken Gegner, einen, der unbesiegbar ist. Sie sehen ihn nur noch nicht.“ Der Knochenmann nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich über ein Feld. Unversehens standen sie am Rand eines Abgrundes. „Da musst du hinunter“, sagte Lehmanns unheimlicher Begleiter. „Dieser Mut, der mehr Vertrauen ist als Heldenhaftigkeit, er ist deine Waffe.“

Aber“, warf Hans Lehmann scheu ein, „das überlebe ich ja gar nicht!“

Da gackerte der Knochenmann so heftig, dass der Kommissar wieder zu sich fand und in seinem Auto hochschreckte.

Er startete den Wagen und fuhr los. Wie mechanisch schaltete er das Radio ein. „... Verteidigungsetat erhöht. Das neue Gesetz zur terrestrischen Sicherheit könne die bürgerlichen Grundrechte einschränken, betonte der Sprecher der Regierung. Hierbei sollten keine grundlegenden Rechte abgeschafft werden, vielmehr gehe es darum, die Grundrechte der Bürger dauerhaft zu schützen, indem man effektiver gegen Feinde des Staates und der menschlichen Gattung vorgehen könne. So sei es vorübergehend nötig, den Datenschutz bereits bei der bloßen Vermutung einer Kollaboration mit Außerirdischen oder ihrer menschlichen Agenten aufzuheben. Auch sei das Festhalten von Personen auch ohne richterlichen Beschluss bis zu acht Wochen möglich. Wegen der besonderen Sicherheitslage könne die Pressefreiheit in gewissen Fällen eingeschränkt werden. Aufgrund der momentanen Ereignisse, die unsere Freiheit bedrohen könnten, habe sich die Regierung gezwungen gesehen, diese Gesetzesänderungen ohne die Zustimmung des Parlamentes durchzuführen. Ab sofort gelte der Notstand. Es handele sich dabei alleinig um ein Instrument zum Schutze der Bevölkerung. Man wolle damit die freiheitlichen Rechte weder einschränken noch abschaffen. Diese Maßnahmen seien auch deswegen nötig geworden, da es sich in letzter Zeit gezeigt habe, dass es bestimmte Gruppen gebe, die gegen die Interessen des Staates und der Menschheit handelten und mit außerirdischen Mächten kooperierten. Es werde eindringlich darum gebeten, die Bemühungen der Behörden und Sicherheitskräfte zu unterstützen und verdächtige Personen zur Meldung zu bringen. Innerhalb der nächsten Tage wolle man zu diesem Zweck entsprechende Telefonnummern veröffentlichten. Diese könnten unbürokratisch und auf Wunsch anonym von den Bürgern genutzt werden.

Nun zum Sport: Die Fußballsaison ...“

Er schaltete das Radio aus. Ja, der Knochenmann in seiner Vision hatte recht gehabt: Sie waren mächtig. Jetzt wusste er, welchen Schritt er als nächsten zu gehen hatte.


Ein Vorhang aus Regen hing seit Stunden in der Luft. Es war nachmittags. Der Himmel trug das gleiche Grau wie die schmutzige Stadt, die träge unter ihm lag. Kommissar Lehmann wandte sich vom Fenster ab. Gleich sollte das Verhör beginnen. Der Verdächtige war ein vorbestrafter Dealer, der sich grade daranmachte, vom Kleinhändler in die Mittelklasse seiner Zunft aufzusteigen. Er hatte bis jetzt tapfer geschwiegen, was ziemlich schlau war. Bloß die Dummen und Ängstlichen redeten bei der Polizei. Der Mann wurde ins Büro gebracht.

Lehmann bot ihm einen Platz an. Zu seinem Kollegen sagte er: „Gehen Sie ruhig, es kommt gleich noch jemand fürs Protokoll.“

So befand er sich für einen Moment mit dem Verdächtigen allein im Zimmer. Das wollte er ausnutzen. Er wählte seine Worte mit Bedacht: „Sehen Sie, die Sache ist die, dass die zwei Säcke mit dem Kokain, wären nicht ihre Fingerabdrücke drauf, überhaupt nichts beweisen würden. Sie könnten jemand anderem gehören. Möglicherweise hat ein flüchtiger Bekannter das Kokain bei Ihnen untergestellt, ganz ohne Ihr Wissen. Aber Ihr Fingerabdruck existiert. Ich weiß das. Ich bin einer der wenigen, die das wissen. Um als unschuldig zu gelten, müsste ihr Fingerabdruck verschwinden. Es könnte auch nichts schaden, wenn es wirklich eine Person gäbe, die die Drogensäcke bei Ihnen untergestellt hat. Sie haben heute ein unverschämtes Glück.“ Lehmann hielt ihm einen Zettel vor die Nase. „Der hier war‘s! Die Fingerabdrücke könnten einfach verschwinden. Ich habe da gewisse Kontakte. Geben Sie nur den Namen zu Protokoll, den Sie hier lesen.“

Der Verdächtige sah den Kommissar mit großen Augen an. Die Tür zum Büro ging auf und der Kollege, der das Protokoll aufnehmen sollte, trat ein. Er setzte sich und flüsterte dabei einen halb zerkauten Gruß.

Nachdem man die persönlichen Daten des Verdächtigen aufgenommen hatte, fragte Kommissar Lehmann ihn, ob er den Eigentümer des beschlagnahmten Kokains sei. Der Mann schüttelte den Kopf. „Aha“, sagte Lehmann, „also wenn das nicht Ihre Droge war, wessen Droge war es dann?“

Philip, Philip heißt der Kerl, Philip Stein!“

Kommissar Lehmann atmete erleichtert auf.

 Mond Europa

 

 Kurz zwischengeschaltet - etwas Hintergrundwissen zum Mond Europa und seine Erforschung

Zum Artikel des Tagesspiegels

Sonntag, 7. November 2021

                                                 3.Teil

Er drehte sich vom Monitor weg, starrte ins Nichts. Unvermittelt erschien vor ihm ein seltsamer Raum. Die Umgebung wirkte unklar, wie durch Nebel gesehen. Er erblickte die Szene nicht von hier aus, von seinem Stuhl, der in dem kleinen Hotelzimmer stand. Nicht einmal durch die eigenen Augen sah er. Es waren die Augen seiner Schwester. Durch sie nahm er alles um sich herum wahr. Auf eine merkwürdige Weise befand er sich in ihr, während er gleichsam sie war. Der Körper dort, in diesem fremden Raum, er konnte sich nicht rühren. War er gefesselt? Ein Gedanke blitzte auf, ein Gedanke von Alice, sie dachte an ihn. Sie stellte sich vor, wie er in einem Hotelzimmer saß und an sie dachte. Bald verblasste diese Vorstellung. Übrig blieb nur ein diffuses Gefühl.

Ihm schwindelte, die Welt schien sich aufzulösen. Wer, fragte er sich, war er eigentlich? War er eine Frau, die in einem nebligen Raum saß und an ihren Bruder dachte, oder war er dieser Mann hier in dem Hotelzimmer? Er wusste es nicht. Seine Gedanken schienen ihm unzuverlässige Zeugen. Sie redeten, wie sie wollten, einmal so, ein andermal andersherum. Eine winzige Störung im Hirnstoffwechsel könnte eine andere Realität erzeugen. Langsam kam er zu sich, riss die Augen auf, suchte seine Tasche und nahm einen Beutel mit Kratom heraus. Er schüttete die pulverisierten Blätter in ein Glas mit Leitungswasser. Das Blattpulver schwamm oben, so schluckte er die Droge äußerst vorsichtig herunter, damit er nicht an ihr erstickte. Nach wenigen Minuten spürte er die betäubende Wirkung des Kratoms. Die Welt war wieder in Ordnung. Er legte sich hin, kroch unter die Decke, kauerte im rechten Winkel zur Banalität. Die Opioide saugen ihn an, bis in den süßen Tod hinein, der dann doch nicht kommt, stattdessen aber ein abgrunddurchtränktes Traumgewebe, lockiges Haar, hinter dem ein Lächeln blitzt wie der Urknall. Daraus kriechen alternative Welten hervor, diamantbesetzte Würmer. Er schwebt, Stille, ist ein Blatt im Windhauch, balanciert über die Bodenlosigkeit, während er gleichsam schon längst angekommen ist in der anderen Welt, in der ein weiteres pulsierendes Leben wartet wie eine überreife Frucht. Zucker rieselt aus den Sekunden. Ein Netz aus Düften und Offenheit siebt die Lichtpartikel des Tages, bevor endgültig die Realität mit der Wahrscheinlichkeit ausgetauscht ist. Und die Stimme einer toten Sängerin zwängt sich satt zwischen träge Luftmoleküle, gasige Zellen, wabernd, unsichtbare Kristallgitter, Glasfasern zwischen Seelen gespannt, fett eingewickelt in Geschichten ohne Sinn. Und das Lächeln ist wie ein Beil. Es spaltet den Augenblick, färbt ihn lippenrosa.

Als sein Smartphone läutete, wusste er nicht recht, was er tun sollte. Er fragte sich, ob auch eingehende Gespräche abgehört werden konnten, oder ob man nur Telefonate registrierte, die er selbst anfing, indem er eine Nummer wählte. Mutig nahm er das Gespräch entgegen. Es war Elmar, sein Kumpel aus alten Zeiten. Der Kontakt zu ihm war eingeschlafen, ohne dass es, soweit er sich entsann, dafür einen besonderen Grund gegeben hätte. Er hatte nicht damit gerechnet, wieder einmal mit ihm zu sprechen. Philip versicherte Elmar, dass es ihm gut ginge. Ja, er wohne noch in derselben Bude wie damals. Im Moment allerdings habe er woanders Quartier bezogen, in einer Notunterkunft. Es möge seltsam erscheinen, aber er könne nicht sagen, wo. „Es sind zurzeit spezielle Umstände. Meine Schwester, musst du wissen, ist verschwunden. Aber das ist eine lange Geschichte. Klar, wir können uns treffen. Ja, am alten Bahnhof. Um fünfzehn Uhr? In Ordnung. Bis dann!“

Philip war froh, jemanden gesprochen zu haben, den er von früher kannte, jemanden, dem er vertrauen konnte. Er sackte zufrieden in den abgewetzten Sessel.


Elmar wartete am Bahnhofseingang. Philip fand, dass er kaum älter ausschaute als damals, nur ein wenig dicker. Seine Augen hatten an Lebendigkeit verloren und die Mundwinkel zuckten seltsam. Sie gingen in ein Café, bestellten Buttercremetorte und redeten. Elmar sagte, es ginge ihm gut, er habe eine anständige Stellung bei der Post, in der Verwaltung. Philip erzählte, was kürzlich alles geschehen war. „Meine Schwester Alice ist weg, einfach weg! Du hast bestimmt von dieser Sache gehört, es kommt ja ständig in den Nachrichten. Ich meine das mit Europa, diesem Jupitermond.“ Er breitete die ganze Geschichte vor Elmar aus.

Der nickte bedächtig, als Philip nichts mehr zu erzählen wusste. „Da solltest du vorsichtig sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass du beobachtet wirst, ist recht hoch. Am besten, du verhältst dich ruhig. Wer weiß denn außer dir von der Sache?“

„Dieser Kommissar.“

„Dabei sollte es auch bleiben. Wenn sie das Verschwinden einer ganzen Gruppe von Leuten verheimlicht wollen, wird alles getan, damit das auch gelingt. Sie werden sämtliche Mittel einsetzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Eventuell ist dein Leben gefährdet, oder sie stecken dich in den Knast, indem sie dir etwas unterschieben. Offiziell werden sie dir nichts tun, klar, wir leben ja in einem Rechtsstaat. Aber du sagtest ja, dass solche Geheimtypen mitmischen. Und wenn sie selbst die Polizei von dem Fall abgezogen haben, dann ist das ein ganz großes Ding, eine Staatssache von höchster Wichtigkeit sozusagen! O Mann, ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Aber ich kann dir helfen. Ich kenne da den Portier eines kleinen Hotels. Dort könntest du dir unter falschem Namen ein Zimmer mieten. Am besten noch heute. Wo du jetzt wohnst, finden sie dich irgendwann. Und ich werde dir ein Handy besorgen, ein sauberes Handy, eines mit anonymer Karte.“

„Ja danke, prima Idee. Was aber wird aus Alice, wenn ich nicht nach ihr suchen kann?“

„Tu jetzt nur nichts Unüberlegtes. Wir wissen ja gar nicht, was mit ihr los ist. Kann sein, sie wurde in Sicherheit gebracht, unter Schutz gestellt, was auch immer. Im Prinzip kannst du nichts machen. Du willst etwas unternehmen, das ist verständlich; wenn du allerdings darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass du nichts tun kannst, weil du nicht weißt, was du tun sollst.“

Philip presste die Lippen zusammen, sagte dann: „Ich könnte die Presse ...“

„Um Gotteswillen!“, fiel ihm Elmar ins Wort, „das wäre doch dein Todesurteil. Wahrscheinlich hat die Presse wieso Schreibverbot, was dieses Thema betrifft.“

„Aber wir haben doch eine freie Presse, es gibt Rechte.“

Elmar lachte auf: „Wer sagt das?“

„Der Staat garantiert ...“

„Ja, die Freiheit und unsere Rechte sind ein hohes Gut. Dafür muss gekämpft werden. Die Verteidigung der Freiheit beinhaltet zumeist eine Einschränkung der Freiheit. So verhält es sich auch mit unseren Rechten. So wird das Böse oft angewendet, damit man das Gute schützen kann.“

Philip stopfte sich ein Stück Torte in den Mund und zerkaute es nachdenklich.


Das neue Hotelzimmer glich dem alten, nur die Tapete war ein wenig vergilbter. Er saß hier herum und hatte keine Ahnung, was er unternehmen sollte. Einerseits musste er etwas tun, denn er wollte Alice nicht im Stich lassen; andererseits konnte er nichts tun, jedenfalls nichts, was nicht auffallen würde. Wenn sie ihn beobachteten, wäre alles auffällig, egal was er tat. Er starrte auf einen imaginären Punkt im Raum. Eine Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Gewiss, das war sie, mit ihr war er zusammengeprallt. Deutlich konnte er ihr Gesicht erkennen. Ihre Lippen formten ein Wort: Schicksal! Er versuchte, seine Vision abzuschütteln. Es gelang, bald schien alles wieder normal. Dass er aber das Wort Schicksal gehört hatte, mit eigenen Ohren, laut und klar, war eine nicht zu leugnende Tatsache.

Dieser merkwürdige Vorfall für sich genommen hätte nicht die Kraft gehabt, sein Weltbild ins Wanken zu bringen, wenn nicht am nächsten Tag Folgendes passiert wäre: Der Vormittag war lichtvoll und wohlig warm, so wollte er ein wenig Luft schnappen. Er ging spazieren. Flott liefen die Leute auf der Straße hin und her, stürmten in die Geschäfte, stürmten aus ihnen wieder heraus. Gehetzt blickten sie auf ihre Uhren und rannten drauf los, als wäre der Teufel hinter ihrer Seele her. Er glaubte, er befände sich in einer Welt voller ruheloser Geister, alle dazu verdammt, in einem Bereich zwischen Leben und Tod ihr Dasein zu fristen. Das ist ja die Welt der Schatten, hier wohnt ja gar nicht das Leben, dachte er. In diesem Moment legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er blickte sich um und sah sie, diese Frau, diese Karen.

„Glauben Sie an das Schicksal?“, wollte sie wissen.

Er fühlte sich unbehaglich, da seine Vision von gestern Abend und das Jetzt sich auf erschreckende Weise deckten. Ein Zittern wanderte durch seinen Körper, es war Angst.

„Nun ja“, stammelte er, „vor Kurzem hätte ich mit einem Nein geantwortet und gesagt, dass der Glaube an ein Schicksal eine Art von Schwäche ist, eine Entschuldigung, um keine Verantwortung zu übernehmen. Aber jetzt, in diesem Moment, da bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Verzeihen Sie, ich rede konfus, aber mir ist so zumute, als hätte ich mich gestern an etwas erinnert, was soeben erst passiert ist.“

Sie lächelte ihn an, lange genug, bis er sich unwohl fühlte. „Hört sich ja interessant an“, sagte sie, „wir sollten das Thema irgendwann vertiefen. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich. Es liegt keine Absicht in dem, was ich sage. Ich folge nur dem Schicksal, obwohl das nicht ganz korrekt ausgedrückt ist. Natürlich folge ich dem Schicksal nicht wirklich, das hieße ja, ich würde ihm hinterherlaufen. Das Schicksal ist das, was passiert – man ist nicht getrennt davon. Aber lassen wir dieses Gerede mal. Die Wahrheit ist, Sie sind in Gefahr. Sie sollten sich in Acht nehmen.“

Und wieder schwankte ihm der Boden unter den Füßen. Was hatte das zu bedeuten? Wusste sie, was los war? Wenn ja, so war sie gewiss eine von denen, eine Agentin der Erdsicherheit, des IES. Somit war es alles andere als ein Zufall, dass er mit ihr zusammengestoßen ist. Nein, es gehörte mit zum Plan. Offenbar hatte man sie auf ihn angesetzt. Also wollte sie ihm damit drohen, wenn sie ihm sagte, er solle ich in Acht nehmen. Er erinnerte sich an Elmars warnende Worte.

„Ich weiß, was Sie denken“, behauptete sie.

„So?“

„Sie meinen, ich sei eine von denen. Sie wissen schon, die in der Jupitersache ermitteln und vertuschen wollen, dass ...“

„Sie wissen davon? Wer sind Sie?“

„Ich bin keine von denen. Ich gehöre zur anderen Seite!“

„Sie sympathisieren mit den Aliens?“

Sie lachte laut auf und hakte sich vertraulich bei ihm ein. „Gehen wir einen Kaffee trinken, ja?“

Das Café war fast leer. Sie bestellte einen Milchkaffee, nahm einen Schluck und wischte sich einige Blasen des Schaumes von der Oberlippe. „Alien-Sympathisanten sind zumeist harmlose Spinner mit esoterischem Hintergrund. Sie erhoffen sich das Paradies, wenn sie endlich den Außerirdischen begegnen. Glauben Sie, dass ich zu denen gehöre?“

Philip sah sie an und ließ dabei den Blick eine Weile auf ihrem Gesicht ruhen. Etwas geschah dabei, er konnte nicht sagen, was es war, aber es schien so, als würde eine unsichtbare Hand in ihn hineingreifen und seine Seele berühren. „Sie wollen mir nicht wirklich erzählen, dass Sie eine Außerirdische sind?“, fragte er hart, obwohl er innerlich weich wurde und zu zerfließen begann.

Sie lächelte. „Ich sehe doch nicht so aus, wie jemand, der unter Wasser lebt?“

Er pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. „Sie sind eine Agentin von ihnen, von diesen geheimnisumwobenen Europabewohnern!“

„Sie sollten weniger Vorstellungen haben. Sie verwirren sich damit nur. Es ist nicht klug, alles zu glauben, nur weil es so aussieht, als würden Sie es selbst denken. Das, was ich bin, übersteigt im Moment noch Ihre Vorstellungskraft. Und ich bin nicht allein. Bis jetzt ist niemand wirklich an den Europabewohnern interessiert. Sie sind nur ein Vorwand, damit die Mächtigen ihre Herrschaft ausbauen können. Nebenbei versuchen sie, uns zu eliminieren, mich und die, die so sind wie ich.“

„Sie meinen, man hat auf dem Jupitermond nichts entdeckt?“

„Sie haben etwas gefunden. Daraus wurde dann die Geschichte gewoben, die großartige Story von der bedrohten Erde.“

Ihm schwindelte. „Die Erde ist gar nicht in Gefahr?“

Sie nickte. „Doch, sie wird allerdings von denen bedroht, die die angebliche Bedrohung abwenden wollen, klar?“

„Wenn Sie so viel wissen, wie Sie vorgeben, dann sagen Sie mir doch, wo meine Schwester ist!“

Karen schaute durch das Fenster des Cafés auf die Straße hinaus. „Alles hat seine Zeit. Jetzt ist die Zeit, um zu verschwinden. Sie warten da hinten in dem blauen Wagen.“

Er sah nach draußen. Ja, dort stand ein Wagen, protzig und dunkelblau. Allerdings besagte das nichts. „Wollen Sie mir Angst einjagen, oder werde ich wirklich verfolgt?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

„Wir sollten jetzt gehen, bevor sie noch Verstärkung anfordern. Übrigens – Sie werden nicht verfolgt. Das haben die nicht nötig. Sie sind eine zu leichte Beute, da lohnt sich keine Hetzjagd. Sie wollen mich. Nebenbei bemerkt – habe ich Ihnen gerade das Leben gerettet. Man wird Ihnen nichts tun, da man glaubt, man bekommt durch Sie Informationen über mich. Derjenige, der Sie erledigen soll, wird noch eine Weile auf seinen Spaß warten müssen. Los komme … kommen Sie mit! Sie können auch hierbleiben. Wenn Sie allerdings mit mir gehen, dann haben Sie die Chance, einige überraschende Dinge zu lernen“, sagte sie und erhob sich hintergründig schmunzelnd.

Er folgte ihr auf die Straße. Der Wagen stand auf der anderen Seite. Türen wurden aufgestoßen und zwei Kerle sprangen heraus, sie zogen Gesichter wie ausgehungerte Bulldoggen.

„In die Ausfahrt rein!“, rief Karen.

Er gehorchte, wusste aber nicht, ob es klug war, ihr zu vertrauen. Eventuell hockten sie jetzt in der Falle.

„Hausaufgang!“

Wieder folgte er ihr. Sie stiegen eine Treppe aufwärts. Im dritten Stockwerk ging es nicht weiter. Von unten her klapperten Schritte.

„Es ist nur einer. Sie haben sich aufgeteilt“, bemerkte Karen trocken und zeigte dabei auf eine Tür. Philip drückte die Klinke herunter. Die Tür war unverschlossen. Sie betraten einen Hängeboden, der schon lange nicht mehr zum Trocknen von Wäsche benutzt wurde, sondern als Abstellraum für alles Mögliche diente. Karen öffnete eine wurmstichige Kiste, die verstaubt in einer Ecke vor sich hin gammelte, entnahm ihr einen Hammer und einen Besenstiel, den sie geschickt unter der Klinke der Eingangstür stemmte. „Das wird uns vierundzwanzig Sekunden Zeit geben“, versprach sie. „Jetzt weiter! Siehst du links von dir einen Draht auf dem Boden liegen?“

Er ließ seinen Blick nach unten wandern. Tatsächlich lag dort ein dicker Draht! Verwundert hob er ihn auf. Sie nahm ihm das Fundstück aus der Hand und strahlte. „Ja, das ist er.“ Sie verbog den Draht mit geschickten Händen, „Unser Schlüssel für die Tür dahinten.“

Philip rüttelte an der besagten Tür. Sie war verschlossen.

„Vierundzwanzig Sekunden Zeit.“

Philip musterte Karen und war sich nicht klar, ob er eine Irre vor sich hatte, oder eine Frau, die haargenau wusste, was sie tat. Karen schob den Dietrich ins Schlüsselloch und öffnete mühelos die Tür. Sie fanden sich in einem weiteren Treppenhaus wieder.

Karen ließ den Dietrich fallen. „Das ist das Nebenhaus. Der Dachboden verbindet die beiden Treppenaufgänge“, belehrte sie Philip. Sie warf die Tür hinter sich zu. Sie besaß keine Klinke, nur einen Knauf, der sich nicht drehen ließ, was den Verfolger einige Sekunden lang aufhalten würde.

Von unten hallten Schritte. „Der andere Mann“, sagte Karen, „aber keine Angst: Hier im Treppenhaus wird er nicht schießen. Außerdem habe ich mir ja den Hammer aus der Kiste mitgenommen. Mit welcher Faust schlägst du härter zu? Mit der rechten oder der linken?“

Philip stutzte. „Äh, ich weiß nicht.“

„Aha, habe ich mir gedacht. Deswegen der Hammer. Dann los, nach unten!“, befahl Karen.

Sie liefen abwärts, dem anderen Verfolger entgegen, der die Treppe hoch hastete. In der zweiten Etage blieb Karen abrupt stehen, schwang den Hammer und schlug damit gegen die Türen, bis Farbe von ihnen absprang und das Holz splitterte. Jetzt war der von unten kommende Verfolger nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Ein junger Mann mit kalten Augen. Zackig lief er auf sie zu. Karen warf den Hammer in seine Richtung. Der Mann fing ihn reflexartig. In diesem Augenblick flogen fast gleichzeitig alle Türen der Etage auf. Ebenso überrascht wie wutschnaubend kamen die Mieter aus ihren Wohnungen heraus und gafften fragend auf die drei Fremden. Schließlich blieben ihre Blicke an dem Mann mit dem Hammer hängen. Von oben her erschütterte weiterer Lärm das Haus, der daher rührte, dass der zweite Verfolger inzwischen die Tür des Dachbodens aufgestemmt hatte.

„Das ist sein Komplize, es sind Einbrecher! Man muss sofort die Polizei alarmieren. Halten Sie die beiden fest, sonst entwischen diese dreisten Gauner noch!“, brüllte Karen und entwand dem verwirrt gaffenden Mann den Hammer mit einem flinken Griff. Das Werkzeug fiel polternd zu Boden, der junge Mann starrte vor sich hin und versuchte vergeblich, die Situation zu verstehen, in der er sich befand. Ehe er sich‘s versah, hatten die Mieter ihn umzingelt. Schon kam sein Kollege die Treppe herunter. Er wurde sogleich von einem kräftigen Hausbewohner beim Kragen gepackt und durchgeschüttelt. Karen und Philip nutzten die Situation aus. Sie machten sich auf und davon.

Wieder auf der Straße angelangt blieb Philip keine Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Ohne Vorwarnung stieß Karen ihn zur Seite. Er stolperte und fand taumelnd erst auf der Fahrbahn das Gleichgewicht wieder. Ein heranfahrendes Auto bremste. Mit quietschenden Reifen kam es grade noch rechtzeitig zum Stehen. Das nachfolgende Fahrzeug wäre beinahe aufgefahren. Das dritte Auto aber knallte mit einen ordentlichen Rums gegen den zweiten Wagen. Airbags blähten sich auf, Autotüren wurden aufgerissen. Geschrei und Flüche übertönten den Verkehrslärm.

„Rasch, komm fort von hier!“, rief Karen und zog Philip mit sich.

„Was war denn das?“, beschwerte er sich bei ihr, „war das ein Mordversuch?“

„Es bestand keine Gefahr.“

„Ach, keine Gefahr? Man hätte mich beinahe überfahren. Was sollte das nur?“

Karen schlug einen versöhnlichen Ton an. „Philip, du wärst nicht überfahren worden, da es nicht dein Schicksal ist, unter einem Auto zu sterben. Ja, es war vielleicht nicht angenehm für dich, dieser kleine Schubser, aber er war notwendig. Da saß nämlich die Verstärkung unserer Verfolger drin, im letzten Auto, das aufprallte. Ich habe eine hilfreiche Handlungskette in Gang gesetzt. Du warst nie in Gefahr!“

„Das konntest du doch gar nicht wissen“, tobte Philip, „und auch konntest du nicht vorhersehen, dass ausgerechnet das dritte Auto auffahren würde.“

„Ich habe getan, was zu tun war. Im Moment ist deine Sichtweise zu begrenzt, um das zu verstehen. Deswegen regst du dich auf.“

„Willst du damit sagen, ich bin zu dumm und verstehe deswegen nicht, was du meinst?“

„Es ist keine Frage von Dummheit oder Intelligenz. Es entzieht sich einfach deinem Verständnis“, sagte sie mit der Gewissheit, dass er ihre Worte nicht verstehen würde.

Unterdessen waren sie einige Straßenecken weitergekommen. Philip erinnerte sich an die Mahnung des Kommissars, niemanden zu vertrauen. „Na wenigstens sind wir ihnen entwischt“, sagte er mehr zu sich als zu Karen.

„Du bist ihnen nicht entkommen! Sie waren hinter mir her, also keine Sorge. Vorerst bist du in Sicherheit. Sie werden dich weiterhin beobachten, hoffen, dass sie etwas durch dich über mich herausbekommen. Irgendwann aber ... Ach, denke nicht an die Zukunft: Am Ende wird alles gut.“

Er schaute Karen durchdringend an. „Eine Frage bleibt allerdings: Wer bist du eigentlich? Und warum gab es diesen zufälligen Zusammenstoß mit mir, der wahrscheinlich nicht zufällig war. Und was weißt du wirklich alles?“

Karen lachte auf: „Du hast dein Vertrauen ins Leben verloren! Wer? Wie? Wo? Was? Warum? Das alles sind vollkommen unnötige Fragen. Sie haben nicht den geringsten Wert. Bedeutungslose Fragen können nur zu bedeutungslosen Antworten führen. Bedeutungslose Antworten führen zu törichten Taten. Wenn du wissen willst, was mit deiner Schwester Alice ist, musst du es herausfinden. Wir, sie und ich, sind uns schon begegnet. Sie würde nicht wollen, dass ich dir etwas über sie sage. Verlass dich nicht auf mich. Du musst dein Schicksal erfüllen. Eines Tages wirst du alles verstehn und über deine Dummheit kichern. Du weißt, ich werde gejagt und bin schwer zu fangen. Jetzt müssen wir uns trennen, sonst machen wir es den Jägern zu leicht. Ich werde aber trotzdem immer da sein, auch dann, wenn du mich nicht siehst. Ich sehe dich, wir sehen dich. Wir sind bei dir. Habe keine Angst und vertraue allem, was dir begegnet. Vertraue, vertraue, vertraue!“

Philip bemühte sich, ihre Worte zu verstehen, aber als er sie mit dem Verstand fassen wollte, war ihre Bedeutung schon verblasst und es schien ihm, als hätte Karen nie etwas gesagt. Er schaute ihr in die Augen, oder vielleicht waren es auch ihre Blicke, die seine magisch anzogen. Ihre Augen waren wie die Ewigkeit, sie schienen alles auszudrücken und doch befand sich nichts in ihnen. Sie blickten aus einer anderen Welt zu ihm, aus der Zeitlosigkeit hinein in die Zeit, in der er gefangen im Kreise schwamm, ein Goldfisch im Glas. Die die Gegenwärtigkeit Ihres Lächelns schwebte noch als ungreifbare Ahnung vor ihm, als sie schon längst fortgegangen war.