TEIL 6
„Auf Wiedererinnern“, sprach sie und senkte traurig den Kopf.
Er drehte sich um und ging.
Der Abend verdrängte langsam aber unaufhaltsam den Tag. In einem Park fand er eine freie Bank, auf die er sich setzte. Der Horizont schien fern wie nie zuvor. Einige Krähen markierten den Himmel mit ihrer schwarzgrauen Anwesenheit und flogen den kraftlosen Strahlen der Sonne entgegen. Eine Tasche mit wenigen Sachen, einige Tüten Kratom und ein Smartphone, das war alles, was er noch besaß. Er kramte einen Zettel aus seiner Brieftasche hervor. Er liebte Zettelwirtschaft. Er las Elmars Nummer ab und rief ihn an. „Hallo, Philip hier. Sie war wieder da!“
„Oh, Philip, hallo, du meinst bestimmt diese merkwürdige Frau, von der du mir erzählt hast.“
„Ja, und sie sagte allerhand komische Dinge, so, als würden wir uns von früher her kennen und ich hätte das vergessen. Komisch ist, dass ich glaube, dass ich tatsächlich Erinnerungslücken habe.“
„Bleibe ganz ruhig Philip, du stehst unter Stress wegen der Sache mit deiner Schwester, du kannst dich deshalb nicht konzentrieren. Du bist leicht traumatisiert und schützt dich, indem du bestimmte Dinge ausblendest. Diese Frau, wer sie auch immer sein mag, nützt das aus. Also mir ist keine Karen bekannt. Wir haben uns allerdings eine Weile nicht gesehen. Vielleicht hast du sie in der Zwischenzeit kennengelernt.“
„Nun Elmar, ich denke, ich habe niemanden mehr kennengelernt. Ich lebte zurückgezogen. Ich war etwas angeschlagen: die Nerven! Ich musste sogar Tabletten schlucken, deswegen. Aber mein Gedächtnis war, soweit ich mich entsinne, immer in Ordnung. Diese Karen, stell dir vor, sie wusste, dass ich in der Bücherei war. Sie hat draußen auf mich gewartet. Sie tat so, als würde sie mich gut kennen. Ich drehe langsam durch.“
„Bleib ruhig, das ist vielleicht genau das, was sie will: Dich verrückt machen!“
„Kann sein Elmar, kann sein. Entweder ist sie vom Geheimdienst oder von den Leuten, die mit den Außerirdischen sympathisieren. Die sind gegen die Regierung, du weißt, man warnt ständig vor ihnen.“
„Vielleicht solltest du freundlicher zu ihr sein, so tun, als würdest ihr vertrauen. Das wäre die Chance, von ihr zu erfahren, wer sie ist, was ihre Ziele sind und für wen sie arbeitet. – Was hast du jetzt eigentlich vor?“
„Keine Ahnung, irgendwie die Nacht rumkriegen und sehen, was kommt.“
„Gut, mach das. Bei mir kannst du leider nicht übernachten. Ist nicht persönlich gemeint, aber wenn diese Fremde dich in einer Bücherei aufspüren konnte, kann sie dir wahrscheinlich überallhin folgen. Falls du sie wiedersiehst, solltest du unbedingt herausbekommen, was mit ihr los ist.“
„Du hast recht. Ich notiere mir, was du gesagt hast. Gut, ich melde mich wieder“, sagte Philip und steckte das Smartphone ein. Unterdessen hatte der Himmel sich dunkelblau gefärbt und wirkte wie der Schatten eines Riesen. Die Welt war einst geboren im Riesen und starb immer wieder von Neuem in seinem Magen. Der Riese war die ewige Dunkelheit, etwas Tiefes, das kein Sterblicher ausloten konnte. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Die Sonne weckte ihn, er setzte sich auf. Sein Rücken schmerzte. Eine Bank war als Bett nur bedingt brauchbar. Er blickte zum morgendlichen Horizont und ihm wurde klar, was er zu tun hatte.
„Das Institut“, flüsterte er, „das Institut“. Er entsann sich, er wusste genau, wo es sich befand. Er sah es innerlich vor sich. Alice musste ihn wohl einmal dahin mitgenommen haben, obwohl er nicht mehr sagen konnte, wann das passiert sein sollte. Nein, nicht nur begleitet hatte er sie, er war drin gewesen, im Institut. Er hatte Alice in ihrem Laboratorium gesehen. Es wurde ihm jetzt noch einmal gegenwärtig: Sie steht am Tisch und schraubt an etwas herum. Sie lächelt stolz. Er schaut genau hin, will sehen, was das ist, was da vor ihr liegt. Aber er erkennt es nicht, er sieht es wie durch Milchglas. Er weiß aber, wenn sie fertig geschraubt hat, wird die Welt nicht mehr das sein, was sie gewesen war. Nachdenklich lief er zur U-Bahnstation.
„Dieser verfluchte Narr!“, schimpfte Kommissar Lehmann in sich hinein. „Dieser Narr wird direkt in sein Unglück laufen!“ Der Haftbefehl war bereits da, bloß dieser verdammte Philip konnte nicht aufgetrieben werden. Im Gefängnis wäre er zumindest sicherer aufgehoben als auf der Straße. Heute Morgen hatte er veranlasst, dass jeder seiner Mitarbeiter ein Foto des Gesuchten ausgehändigt bekam. Nun wurden sämtliche Hotels und Pensionen in der Nähe der Wohnung des Tatverdächtigen aufgesucht, in der Hoffnung, ein Portier könnte sich erinnern. Dass der vermeintliche Verdächtige unschuldig war, hatte dabei keine Bedeutung. Er wollte ihn retten, mit allen Mitteln.
Das Telefon läutete. Endlich kam der Anruf, auf den er so lange gewartet hatte. Das Hotel wurde gefunden. Dort hatte er Unterschlupf gesucht. „Jemand hat für ihn ein Zimmer gemietet“, bemerkte der Kollege am anderen Ende der Leitung. „Ja, wir werden nachforschen, was für ein Typ das ist. Nein, heute Nacht war das Zimmer nicht belegt. Kann sein, er kommt nicht wieder. Bald erfahren wir, wie lange und wohin er vom Hotelzimmer aus telefoniert hat. Falls er überhaupt telefoniert hat. Aber es wird ja alles gespeichert heutzutage.“
„Ja, es wird alles gespeichert“, wiederholte Kommissar Lehmann und legte auf. Kurz darauf läutete das Telefon abermals. Er drückte den Hörer ans Ohr. Der Staatsanwalt war dran. Der Fall Philip Stein müsse sofort zu den Akten gelegt werden. Eine Anweisung des Justizministeriums. Eine Anklage sei nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Somit bestehe kein Grund, den Fall weiter zu verfolgen. Herr Philip Stein könne so viel Kokain besitzen, wie er wolle.
Kommissar Lehmann knirschte mit den Zähnen. Sein Rettungsversuch war gescheitert. Was nun? Zum zweiten Mal hatte man ihm einen Fall entzogen. Aber er wollte keine Ruhe geben, bis er Alice Stein-Lumen gegenüberstand. Was sollte er tun? Er hatte keine Idee. Sein Körper wurde schwer, eine tiefe Müdigkeit war über ihn gekommen, zog ihn abwärts, aber nicht in den Schlaf hinein, er blieb dabei seltsam wach. Es schienen nur die Augen, die in die Welt hinausschauten, eingeschlafen zu sein, aber es gab noch andere Augen, die nicht nach außen blicken, dennoch klar sahen.
„Der Menschen Glaube, der ist ja so klein, dass ein Senfkorn dagegen wie ein Berg erscheint“, sprach der Knochenmann, der unvermittelt neben Kommissar Lehmann aufgetaucht war. „Schau her und erkenne das Schicksal!“
Zähneklappernd verschwand diese groteske Gestalt wieder. Nun erschien eine Art Abrisshaus, eine Ruine, durchnässt und zerfallen. Eine Pistole erkannte er, Blut sah er auch, frisches Blut. Dann – ein Straßenschild und eine Uhr. Er merkte sich die Uhrzeit, den Straßennamen und die Zahl, die kurz vor ihm aufblinkte, wohl die Hausnummer der Ruine.
„Des Menschen Glaube ist so klein!“, meckerte der Knochenmann von Ferne her.
Der Kommissar schreckte hoch. Gewiss war er kurz eingenickt und dabei in einen kuriosen Traum versunken. Einen Straßennamen und eine Uhrzeit geisterten durch seinen Kopf. Sollte er dort hinfahren, eines Traumes wegen? Er lachte über seine Gedanken. Das wäre nicht normal, einem Traum zu folgen. Andererseits galten die normalen Gesetze für ihn nicht mehr. Er war dabei, sich von allem zu verabschieden, die Erinnerung loszulassen, die Hoffnung zu vergessen. Immer mehr wurde ihm klar, dass weder eine Vergangenheit existierte, noch etwas, das man eine Zukunft hätte nennen können. Es exisierte das, was man zu tun hatte, ob man wollte oder nicht. Bisher war er daran gewohnt gewesen, seinen eigenen Gedanken zu vertrauen, Erklärungen und Gründe zu brauchen, damit alles einen Sinn bekäme. Damit war es nun vorbei. Es gab weder einen Sinn noch ein Ziel. Es gab nichts, gar nichts, nur etwas, was getan werden musste, weil es wieso geschehen würde. Es war der Lauf der Dinge, der nicht fragte, ob er sein durfte. Er existierte einfach, übermächtig und zwingend. Diese Erkenntnis war den Weisen oder Sterbenden vorbehalten, oder er wurde verrückt, weil eine andere Wirklichkeit in sein Gehirn tropfte.
Er erblickte sich als Kind, das stundenlang in seinem Spiel versunken das Glück genoss; sah sich als Schüler, der widerwillig lernte; sah sich als Polizist, frisch von der Polizeischule kommend, spürte den Augenblick, als er seiner Frau zum ersten Male begegnet war; sah seine Tochter als Baby, als frisches Dasein, das in die Welt hineinstaunte. Sein ganzes Leben hing vor ihm wie ein großes Gemälde, ein Werk voller Jahre, die wie Farbabstufungen aufeinanderfolgten. Er erkannte in den Tupfern und Linien des Bildes seine Träume, Taten und Sehnsüchte. Manches war geglückt, vieles misslungen, Hoffnungen gescheitert. Augenblicke, hell und funkelnd sprangen bunt ihm entgegen: der Beginn eines Sommertages, damals, als er grade sechs Jahre alt war; ein Abend, an dem er gemeinsam mit seiner jungen Frau den Sternen einer Zaubernacht Namen gegeben hatte. Und dann das erste Mal, als seine Tochter den Mund zu dem Wort Papi formte. Diese Momente ragten wie Berge aus dem Tal der Zeit heraus, bis hinein in den Himmel, der sich zeitlos über all die Formen des Lebens streckte.
Er kannte keine Zweifel mehr, er wusste, was er zu tun hatte. Zuerst aber rief er einen seiner Kollegen an, presste das Telefon ans Ohr und sagte ihm, dass sie den Fall Philip Stein abblasen müssten. „Befehl von oben, von ganz oben. Wie? Sie haben herausgefunden, mit wem er telefoniert hat? Ach nein! Na ja, wie gesagt, wir sind da raus.“
Der Kommissar legte den Hörer auf. Jetzt wurde die Geschichte ernst.
Philip hatte das Institut erreicht. Er ging zum Pförtnerhäuschen, ohne zu wissen, was er dort sagen sollte.
Der Pförtner sah ihn überrascht an. „Ich habe Sie erst gar nicht erkannt. Aber schön, dass Sie wieder einmal vorbeischauen Herr Doktor Stein! Ich werde gleich Herrn Direktor Müller anrufen und Ihnen einen Besucherpass ausstellen.“
Philip war verwirrt: Er konnte sich nicht daran erinnern, je eine Doktorarbeit geschrieben zu haben! Der Pförtner telefonierte kurz und überreichte ihm einen Besucherausweis. „Direktor Müller erwartet Sie.“
Philip schaute den Mann hilflos an. „Verzeihen Sie, Sie wissen ja, ich war lange nicht mehr hier, außerdem war ich sehr krank; wenn Sie mir also sagen könnten, wie ich zu Direktor Müllers Büro komme, wäre ich Ihnen dankbar.“
„Gehen Sie geradeaus, dann ins Gebäude links hinein. Im dritten Stockwerk ist das Büro. Steht groß Müller an der Tür. Er hat sich ein neues Schild machen lassen. Echt Messing.“
Philip dankte dem Pförtner und betrat das Haus. Er fragte sich, wer dieser Direktor Müller war, und was er mit dem zu schaffen gehabt hatte! Gleich würde er es herausfinden. Er klopfte an die Bürotür, an der ein wirklich protziges Messingschild glitzerte.
„Ja, bitte!“, rief jemand von drinnen.
Philip trat ein. Im Büro standen mächtige Sessel sowie zwei Aktenschränke aus tropischen Hölzern, alles ebenso teuer wie geschmacklos. Ein solariumgebräunter Anzugträger stürmte auf Philip zu, legte die Hände auf seine Schultern, schaute ihn mitleidig an und zwang sich dann zu einem Lächeln, das etwas zu breit geriet. „Philip, du alter Saukerl, welch eine Freude, dass du hier vorbeischaust! Wie geht’s dir so? Erzähle!“
„Nun, ganz gut. Ich habe leichte Probleme mit meinem Gedächtnis, aber ...“
„Ja Philip, ich weiß, warum du gekommen bist – wegen Alice. Tragische Sache. Als sie von hier losgefahren ist, war alles so wie immer. Wer konnte ahnen, dass sie nicht mehr wiederkommt?“
„Sie war nicht die Einzige, ich habe mit der Frau eines Wissenschaftlers gesprochen, der mit Alice zusammengearbeitet hat. Alle sind sie verschwunden, alle, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben.“
Der Direktor nickte. „Sie sind fort, alle, die es untersucht haben.“
„Dieses Ding vom Mond Europa?“
„Ja, dieses verfluchte Ding! Es hat bereits die Welt verändert und unser Leben. Nichts wird mehr so sein, wie es gewesen war. Du hättest das Team geleitet, wenn deine Krankheit nicht ...“
Philip schaute Müller fordernd in die Augen. „Was habt ihr herausgefunden?“
„Nun, du weißt, wir leben in schwierigen Zeiten, man kann nicht mehr so reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist.“
„Ich verstehe Eddy“, Philip stutzte, da ihm der Vorname von diesem Müller eingefallen war, „da gibt es den Abwehrdienst, TAD genannt, dann existiert noch das Institut, das IES, und sie alle sind um unsere Sicherheit mehr als besorgt.“
„Es ist schon seltsam, alles fing mit dir an.“
„Wieso mit mir Eddy?“
„Ich habe dich beneidet um deine großen Ideen. Ich war immer der Pragmatiker, du der Visionär.“
„Vielleicht habe ich heimlich dich beneidet.“
„Mag sein, aber du warst es, der die Chefs der ESA überzeugen konnte, das Europaprojekt zu starten, nachdem diese Sache mit den USA passiert ist, der Wirtschaftscrash, wonach die NASA dann auch in die Pleite gegangen ist. Du hast unerbittlich an Leben auf den Eismonden geglaubt. Du warst der große Planer, hast die ersten Modelle des Maulwurfs entwickelt, hast errechnet, wie er sich am effektivsten durch die dicke Eisschicht schmilzt und wühlt. Erst deine Argumente haben dafür gesorgt, dass Geldmittel geflossen sind. Du warst mein bester Mitarbeiter, ehrlich. Ich schätze, bei der nächsten Beförderung hättest du mich überholt und wärst ein ganz großes Tier bei der ESA geworden. Was nun allerdings abläuft, das würde dir nicht gefallen. Der Maulwurf wird bald die erste Forschungssonde in Unterirdische Meer von Europa absetzen, ein zweiter Maulwurf, der dann folgen soll, wird die Drohne befördern, die Drohne mit der Bombe. Man nennt das einen Präventionsschlag.“
„Also höre mal Eddy, du meinst, die werden die Bombe zünden, ohne Beweis, dass die Bewohner von Europa feindliche Absichten hegen? Bevor man sie überhaupt wirklich entdeckt und mit ihnen geredet hat?“
Eddy Müller setzte ein ernstes Gesicht auf. „Es ist die erste deutsche Atombombe. Nuklearer Verteidigungstorpedo sagen wir dazu. Da sind die bösen Begriffe nicht drin: Atom und Bombe. Seit in den USA das Chaos herrscht, will Deutschland zeigen, wer hier in der westlichen Welt das Sagen hat. Europa ist ja schon auf deutscher Linie. Und das andere Europa, der Mond, der um den Jupiter kreist, soll dran glauben. Einfach eine Machtdemonstration: Deutschland als Retter der Welt!“
Philip schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber das würde bedeuten, dass man eine ganze Zivilisation ausrottet, wegen des bloßen Verdachtes, sie könne uns gefährlich werden.“
„Na ja, vielleicht ist der Mond Europa unbewohnt“, gab Eddy zu bedenken. „Es gibt ja auch die Ganymed-Hypothese. Demnach hätten Bewohner des Mondes Ganymed auf der Suche nach einem Ort, der ihrer Heimat gleicht, den Mond Europa entdeckt und eine Rakete dorthin geschickt, die das Ding abgesetzt hat. Die Spinne.“
„Vielleicht hat man sich grundsätzlich geirrt, vielleicht sind die Eismonde keine guten Kandidaten für Leben“, bemerkte Philip.
„So etwas sollte man in der Öffentlichkeit nicht äußern. Das würde unterstellen, unsere Regierung wäre blöde.“
„Falls es Aliens gibt, sind sie ganz anders. Sie werden nicht unseren Vorstellungen entsprechen. Es könnte sein, dass sie uns weit überlegen sind, überlegen und unbesiegbar.“
„Wenn es sie gäbe, Philip, wer weiß, ob sie uns angreifen würden?“
„Befreien möglicherweise, befreien aus einem Käfig, geschmiedet aus tausend Jahre Intoleranz und Dummheit. Sie würden uns die Augen öffnen, wir könnten sehen, dass wir Teil der großen kosmischen Familie sind, dass das, was wir den Feind nennen, uns in Wahrheit näher als der eigne Herzschlag ist.“
Eddy lachte trocken. „Immer noch der alte Visionär!“
„Stimmt, mir fehlt das Gen fürs Pragmatische. Tja, dann wäre ja alles gesagt.“
„Gib acht auf dich“, mahnte Eddy, dabei klang er wie ein besorgter Vater.
„Mach‘s gut Eddy“, sagte Philip, schüttelte die Hand des Direktors und verließ das Büro.
Auf dem Flur glaubte Philip, einer Halluzination zu begegnen. Karen kam auf ihn zu, als wäre es das Natürlichste auf der Welt und sagte: „Schön, dich hier zu sehen.“
„Verdammt, was machst du denn hier im Institut!“, rief er und glotzte ungläubig.
„Ich arbeite hier zufällig. Verzeihe, ich vergesse immer, wie viel du vergessen hast. Ich war deine Assistentin.“
„Meine Assistentin? Und du hast mit meiner Schwester zusammengearbeitet?“
Sie nickte. „Ja. Wir drei waren ein gutes Team. Wir sind immer noch ein gutes Team, hoffe ich.“
Philip spitzte die Lippen und fragte sie, warum sie nicht wie Alice an der Untersuchung der außerirdischen Apparatur mitgearbeitet habe.
„Ich war mit dem anderen Projekt beschäftigt. Projekt Pandora.“
„Pandora?“
„Du weißt, die Frau aus der alten Sage. Sie besaß eine Kiste, in der sich alle Übel befanden. Einmal geöffnet – ist es zu spät. Die Übel springen heraus und peinigen das Land.“
„Verstehe Karen, ich verstehe: Pandora bringt die Bombe nach Europa. Die ultimative Verteidigung gegen eine Bedrohung, die existieren könnte. Und man muss eine Zeitschaltuhr aktivieren, bevor der Maulwurf die Unterwasserdrohne mit der Bombe unter dem Eis absetzt. Funkwellen schaffen es nicht, das Eis zu durchdringen. Der Befehl ist von einem bestimmten Punkt ab nicht mehr umkehrbar.“
„Es ist, wie du sagst. Wir arbeiten mit der NATO zusammen. Es gilt als Verteidigungsfall.“
„Aber wir wurden nicht angegriffen!“
„Nun ja, Philip, die bösen Aliens verfügen über Massenvernichtungsmittel. Die hat zwar noch keiner gesehen; es reicht allerdings aus, wenn man es ihnen unterstellt. Wesen, die ein mehrbeiniges Erkundungsgerät zurechtzimmern können, sind zu allem fähig, oder?“
„Massenvernichtungswaffen? Vielleicht nur Imaginäre. Und die Erde holt zum Erstschlag aus?“
„Ja, aber doch nur zur Verteidigung. Man kann ja nicht warten, bis man wirklich angegriffen wird, ansonsten könnte es zu spät sein. Deswegen muss die Verteidigung vor dem Angriff stattfinden.“
„Mit anderen Worten: Die Erde ist der Aggressor.“
Das sei nicht die offizielle Lesart, bemerkte Karen. Die Menschen verteidigten lediglich ihre Freiheit in der Umlaufbahn des Jupiters.
„Okay Karen, habe es kapiert. Und du machst da mit, bastelst an dieser Pandora?“
„Aber die Bombe wird niemals explodieren, dazu kommt es nicht.“
„Du klingst ziemlich überzeugt.“
„Ach Philip, bevor die Bombe hochgehen kann, wird etwas anderes explodieren, etwas, was viel mehr Kraft hat: reines Bewusstsein.“
„Wie ist das, wenn reines Bewusstsein explodiert?“
Karen lächelte selig und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund. „Wunderbar“, sagte sie, „es ist einfach wunderbar.“