Sonntag, 16. Januar 2022

                                                Teil       13

Jetzt blätterte sich im Buch der Erinnerung eine neue Seite auf, eine farbige, wunderschöne. Er sah ein Fest vor sich, es war eines der großen Feste auf Europa. Millionen Körper formten eine Spirale, die sich wild durchs Meer schraubte. Ein Spektakel aus Licht und Mustern. Gleichsam glühten unzählige Punkte auf, sie verbanden sich zu einem Netz, zu einem einzigen Geist, zum Geist von Europa. Der kollektive Wille schuf ein gigantisches Raumschiff, das bis zum Zentrum des Universums reiste, wo es sich freudig in das Nichtseiende-Sein stürzte, und tief ins Zentrum des Himmels eindrang. Dort verschmolz das Bewusstseinsschiff mit dem Weltherzen. Zeitlos ruhte es in ewiger Stille, heller strahlend als alle Sonnen.

Eine andere Erinnerung stieg auf: Fern der heißen Quellen schwebten die Weltendenker, dort wo die Kühle des Waassers einem aufs Gemüt schlug, dennoch den Geist erfrischte; dort wo kleine silberne Tiere mit durchsichtigen Flossen zitterten und in Schwärmen durch eine von Leuchtalgen bestrahlte bläulich grüne Dunkelheit tanzten. Philphil und sein Freund Chrochro hatten sich an diesem Tag zu einem Abenteuer aufgemacht, sie wollten die Weltendenker besuchen. Es gab an diesem Ort nicht viel zu sehen, außer etliche Nebelschwaden aus flimmerndem Plankton, der von der Strömung zu immer neuen Gebilden geformt und geknetet wurde. Die beiden Freunde blickten mit Ehrfurcht auf die Weltendenker. Diese alten Wesen trieben reglos in den tiefen Spalten des Ozeans dahin, während sie ihren Geist auf den inneren schöpferischen Prozess gerichtet hielten.

Das sind sie also, die Weltendenker, von denen es heißt, sie sind so weise, dass sie die Fäden des Schicksals weiter verfolgen können als jeder andere“, bemerkte Chrochro.

Hoffen wir, dass einer von ihnen zu uns spricht.“

Sie sind da äußerst eigen, heißt es, sie reden, wenn sie es für angemessen halten, und das ist selten.“

Ich frage mich, wie das geht, dieses erdenken von Welten. Was weißt du darüber Chrochro?“

Es soll wohl mehr ein Träumen sein als ein Denken. Wenn wir träumen, so wirkt das sich nicht direkt auf die Materie aus. Unsere Traumwelten bleiben hypothetisch. Ihre Welten aber realisieren sich. Auf fernen Planeten und Monden wird Wirklichkeit, was ihr Geist sich erspinnt. So sagt man zumindest.“

Philphil zappelte mit den Flossenarmen. „Aber es ist und bleibt doch ein Traum, der Traum der Weltendenker. Sicherlich, über einen geträumten Stein kann man stolpern, eine Traumgestalt kann man sehen. Hat diese Gestalt eine unabhängige Wirklichkeit, fühlt und denkt sie wie wir?“

Eine wirklich tiefe Frage! Alles ist Teil des jeweiligen Weltendenkers. Die erträumten Wesen sind nichts Eigenständiges. Sie sind nur die Masken des Träumers. Wenn sich aber der Träumer in seiner Traumwelt verliert, so erscheint ihm diese als einzige Realität. Ein geträumtes Wesen mag durchaus, wenn es sich verletzt, Schmerz empfinden, einen Schmerz, der immer schon im Träumer gesteckt hat, der sich ausdrücken und befreien will.“

Gut, aber wer spürt den Schmerz?“, fragte Philphil. „Wer hat den Schmerz in den Träumer gesetzt, wer träumt den Träumer?“

Chrochro pendelte im Wasser hin und her. „Der Träumer folgt dem Faden des Schicksals. Niemand träumt den Träumer. Die Weltendenker werden nicht von einem weiteren Weltendenker erdacht. Wir kämen dann ja zu einer endlosen Kette von Träumern, die Träumer träumen. Die Fäden des Schicksals bestehen einfach auch einer Energie, die vom Zentrum des Universums ausströmt, wie du ja weißt.“

Was ist dieses Zentrum wirklich?“, fragte Philphil, mit unermesslichen Wissenshunger.

Das Zentrum ist das, woraus die Fäden des Schicksals kommen“, erklärte Chrochro kurz und bündig.

Gut, lass uns nicht weiter grübeln, lass uns lieber einen der Weltendenker befragen, was die Zukunft uns bringt“, drängte Philphil.

Chrochro näherte sich vorsichtig einem der Weltendenker, der in sich versunken vor ihnen schwamm, und berührte scheu einen seiner Flossenarme. Langsam wandte der Weltendenker seinen Kopf den beiden Jungs zu. Eindringlich prüfend schaute er sie an. „Aha, wieder welche, die es nicht erwarten können, zu erfahren, wie die Zukunft aussieht! Es leben im Universum Wesen, die können nicht einmal ein wenig in die Zukunft schauen, wie es hier auf unserer Welt üblich ist. Ihr seid begnadet, aber das reicht euch nicht, ihr wollt mehr wissen, getrieben von unbändiger Neugier. Warum? Weil es euch an Vertrauen fehlt. Damit beginnt der Irrtum. Ihr seid noch jung, darum ist eure Schwäche geduldet. Wir Weltendenker setzen unendliches Vertrauen in allen unserem Geist entsprungenen Welten. Und auch die geschaffenen Welten können uns vertrauen; denn wir folgen den Fäden des Schicksals, nur sie bestimmen unsere Handlungen. Alle Fäden wurden von der Allmacht geknüpft. Das reicht, um zu vertrauen. Deshalb muss man auch nichts wissen; es reicht, zu sein. Für so manche wird das Wissen zum Gift, das Zwietracht bringt, wo Frieden herrschte. Unzählige Welten habe ich erträumt. Ich erblickte aufstrebende Planeten, deren Bewohner die besten Anlagen zeigten; oft aber blieben ihre Seelen blind, da ein jeder nur sich sah und seinen engeren Kreis. Man kämpfte und gewann dadurch an Stärke, die Kriege aber wollten nicht enden. Es blieben nur Trümmer übrig und trauernde Herzen. So erträumte ich sehende Seelen, sie sprachen die Wahrheit zu den ewig Kämpfenden. Manches Mal schlug man diese Mahner tot, oft hörte man auch auf ihre Worte, wenn man müde geworden war von all den Kämpfen und es allen zu ekeln begann, wegen des vielen Blutes und des Fleisches, das sinnlos verweste. Darum wisst: Kraft ohne Weisheit führt zum Untergang. Wahre Weisheit blickt über die Grenzen bis hin zum Herzen des großen Ozeans, in dem die Sterne schwimmen.

Noch seid ihr jung an Körper und Geist, das Leben ist euch ein leichter Rausch, auch ohne Weisheit. Bald schon wird der Ehrgeiz an euch nagen, er kommt nicht allein, sondern wird seine Gesellen mitbringen: das Wissen und die Macht. Mit solchen Gaben ist sorgsam umzugehen. Oft schadet die edelste Absicht und die Fäden des Schicksals verheddern sich. In der alten Zeit waren die Fäden harmonisch zu einem Seil geflochten. Alle Schicksale erfüllten sich, indem jedes Wesen zur Musik des Lebens tanzte, ein jegliches nach seiner Art. irgendwann kam der Gedanke in den Tanzenden auf, dass der Schicksalsfaden, an dem sie hingen, ihr Eigentum sei, mit dem sie machen konnten, was immer sie wollten. Jetzt begannen sie nach dem Faden zu greifen, zu ziehen und daran zu zerren, damit ihr eigener Wille sich durchsetze. Ja selbst nach den Fäden anderer Wesen langten sie aus, nach solchen, die ihnen im Wege schienen. Sie schoben sie frech beiseite, damit ihr eigener Faden mehr Platz bekäme für seine wirren Verwicklungen. Da alle so handelten, begann die große Verknotung. Je mehr Knoten entstanden, umso heftiger wurde gekämpft, damit man seinen Faden wieder entknoten konnte. Aber es funktionierte nicht. Das Gegenteil geschah: Die Fäden gerieten in ein größeres Durcheinander und daraus wuchsen Leid und Vernichtung. Bald wusste man nichts mehr von dem Seil, das aus all den Schicksalsfäden gebunden war. Man sah nur noch Fäden und kannte deren Bedeutung nicht mehr. Dennoch tauchten immer wieder Einzelne auf, die erkannten, dass alle Fäden der Welt Teil eines einzigen Seiles bildeten, des großen Fadens, der im Herzen des Sternenozeans begann und endete.

Haltet diese Weisheit in Ehren. Mehr müsst ihr nicht wissen. Und vertraut dem Unbekannten!“, so sprach der alte Weltendenker und schwieg. Gewiss hatte er begonnen, eine neue Welt zu träumen.

Nachdenklich verließen die beiden Freunde diesen Ort.


Eine weitere Erinnerung: Er sah Chrochro vor sich. Die Jugendzeit war vergangen. Sein Freund hatte eine vielversprechende Karriere bei der Regierung begonnen.

Lieber Philphil“, sagte Chrochro, „wir leben in aufregenden Zeiten. Man will wieder Neues entdecken. Ich habe gehört, dass du uns verlassen möchtest, um die Erdkolonie mit aufzubauen. Gern würde ich mit dir kommen, aber meine Schicksalslinie verläuft anders. Ich diene Europa besser, wenn ich hierbleibe und für die Regierung arbeite, die uns bisher so weise geleitet hat.“

Philphil dunkelte seine Farbe etwas ab und bewegte seinen rechten Flossenarm in Richtung Kopf. „So gerne ich dich bei mir hätte, dort in der Fremde, auf der Erde, so verstehe ich, dass du deinem Ruf folgen musst, der dir sagt: Dein Platz ist auf Europa.“

Wenn du dort bist, da unten in der Tiefe, im fernen Meer der Erde, gib auf dich acht. Die Schwingungen, die wir von der Erde aufnehmen, sprechen von Kampf und Lüge.“

Gewiss Chrochro, ich werde aufpassen und den seltsamen Wesen dort aus dem Weg gehen, soweit es sich machen lässt“, versprach Philphil.


Es sollte nicht mehr lange dauern, und eine Gruppe von Europabewohnern rippte sich zur Erde, suchte sich einen Platz in der Tiefsee und baute dort eine kleine Stadt. Philphil war einer von ihnen. Auch seine Schwester war mitgekommen. Sie zeigte sich von Anfang an fasziniert vom Planeten Erde und dessen Bewohnern. Man wusste einiges über diese fremdartigen Wesen, aber immer noch zu wenig. Sie waren schwer zu verstehen, niemand konnte begreifen, was sie dazu brachte, so zu handeln, wie sie es taten.

Stell dir vor Alal“, sprach Philphil eines Tages zu seiner Schwester, „sie bringen sich immer noch gegenseitig um, massenhaft. Und das wegen Kleinigkeiten. Welcher Europäer würde das tun? Sie müssen alle krank sein. Gewiss gibt es auch bei uns Konflikte, aber wir töten uns doch nicht einfach deswegen!“

Du hast recht, es ist schrecklich, aber auch wir mussten schon Dinge tun, die nicht ruhmreich waren“, sagte Alal und empfand Mitleid mit den Menschen. „Wir sollten noch besser verstehen, was mit ihnen los ist. Gewiss können wir ihnen helfen.“

Vielleicht, falls ihre Schicksalslinie es zulässt. Wir haben oft versucht, sie zu begreifen“, bemerkte Philphil.


Bald beantragte Alal ein Forschungsprojekt beim Rat der Erdkolonie. Philphil, der Mitglied des Rates der Kolonialisten war, unterstützte ihr Anliegen. Auch wollte er mehr darüber erfahren, wie diese Wesen, diese Menschen, so werden konnten, wie sie waren: blind und fehlgeleitet in ihren Urteilen.

Bald schon durfte Alal ein Institut leiten, das sich mit Menschenforschung beschäftigte. Eines Tages kam Philphil zu Alal und sagte ihr, er habe tief in die Zeit geblickt und dabei die Verflechtungen der Schicksalsfäden gesehen. „Wir sollten die Menschen nicht nur erforschen“, bemerkte er, „wir sollten aktiv…“

Ich weiß, was du sagen willst. Wir könnten unter ihnen leben, wenn wir wollen“, entdeckte ihm Alal.

Ich denke, wir sind auf der richtigen Spur“, sagte Philphil.


Ein menschliches Erscheinungsbild zu bekommen, war nicht einfach und nur mit der Hilfe eines Teams von Experten möglich. Die genaue Kenntnis von Humanphysiologie und Genetik war dazu notwendig. Seltsam mutete es an, einen menschlichen Körper zu besitzen, die Schwerkraft zu spüren, gegen die sich die Bewohner des Landes permanent stemmen mussten, um sich fortzubewegen, oder einfach nur, um aufrecht zu stehen. Philphil konnte sich kaum rühren, nachdem er den neuen Körper bekommen hatte. Er war hauptsächlich Schwimmbewegungen gewohnt, nun schien ihm die geringste Veränderung seiner Körperhaltung wie ein Kampf um das notwendige Gleichgewicht. Zudem klebte er seltsam am Boden fest, als würden ihn unsichtbare Krallen abwärts ziehen. Und man konnte in einem Menschenkörper kuriose Laute von sich geben, indem man etwas von dem Gas, das die Atmosphäre der Erde bildete, durch den Hals presste, dabei den Mund verzerrte und die Zunge verdrehte. Er fühlte sich verloren in diesem Leib. Das änderte sich erst, als Philphil die für ihn erstellte Pseudoerinnerung implantiert bekam. Von da an konnte er mit dem neuen Körper umgehen. Man hatte einige Erinnerungen von Menschen kopiert, sie miteinander verbunden und versucht, etwas Sinnvolles daraus zu machen. Die Erfahrung des Laufens, die Regeln der Sprache und andere Gewohnheiten der Erdprimaten wurden ihm somit auf wunderbare Weise zugänglich. Auch besaß er von da an eine menschliche Geschichte, eine Vergangenheit. Sie glich einem Paket, angefüllt mit scheinbaren Erfahrungen, auf die er zurückgreifen können würde, sobald es notwendig schien. Natürlich wusste er, dass er diese Erfahrungen nie durchlebt hatte, aber für den Fall, dass er sie brauchen würde, kämen sie wie ein Tagtraum über ihn. Sie funktionierten dienten als Werkzeug. Bald fühlte er sich wohl in dem Menschenkörper, ja er freute sich darauf, einen richtigen Erdbewohner spielen zu dürfen. Es dauerte nicht lange, da schauten die anderen für ihn, die man ebenso äußerlich zu Menschen gemacht hatte, nicht mehr ganz so sonderbar aus. Er konnte bald ihre Gesichter unterscheiden und die Mimik darin lesen. Obwohl es nicht das erste Mal war, er hatte schon damals, vor langer Zeit, den Geschmack dieses zweifelhaften Vergnügens kosten dürfen. Jetzt erlebte er es wieder vollkommen neu. Ein seltsames Erlebnis war es, als Alal und er sich als Menschen gegenüberstanden. Sie schien ihm fremd und war gleichsam so vertraut. Sie stand vor ihm als seine Schwester und doch sah er eines dieser Erdenwesen, die ihm ein ewiges Rätsel bleiben würden. Irgendetwas konnte mit den Menschen nicht stimmen, das merkte er an den eigenen Pseudoerinnerungen: Im menschlichen Geist machte sich eine gewisse Art der Verwirrung breit!


Es waren einhundertzwanzig von ihnen, die man paarweise über einige der wichtigsten Länder des Planeten verteilen wollte. Sie standen in einem Raum tief unter der Meeresoberfläche. Um sie herum: Die ungewohnte Luft – sie atmeten sie mechanisch ein und aus. Man hatte ihnen Hosen, Röcke, T-Shirts und Jacken ganz nach dem Geschmack der Erdbewohner auf den Leib gerippt. Sie trugen ihre gefälschten Ausweise und Papiere bei sich. Die neuen Wohnungen – man hatte sie über das Internet angemietet – mussten nur noch bezogen werden. An Bewerbungsunterlagen für spezielle Jobs war gedacht. Man hatte alles vorbereitet. Ihnen würde man über eine Scheinfirma genügend Geld zukommen lassen, zur Überbrückung, bis das eigene Einkommen ausreichte, die Kosten zu decken.

Der Raum um Philphil löste sich auf und er fand sich unversehens in einer Wohnung wieder. Er schaute sich um. Hier also müsste er eine gewisse Zeit verbringen. Er würde sich daran gewöhnen, so seltsam die Menschenbehausung auch anmuten mochte. Nach kurzer Zeit vermittelte ihm die Wohnung eine Art von Wohlgefühl, selbst sein jetziger Körper, gebaut sich behäbig am Lande zu bewegen, wurde immer mehr zu einem Teil seiner selbst.

Philphil trieb sich in Universitätsseminaren herum, las Fachbücher, knüpfte Kontakte zu Menschen und sammelte ohne Unterlass Fakten über die aktuelle Situation auf der Erde. Dank ihrer guten Zeugnisse bekamen Alice und er eine Arbeit bei einem Institut der ESA, der europäischen Weltraumbehörde. Die wichtigste Aufgabe des Institutes bestand darin, die technischen Voraussetzungen für die Erforschung der Eismonde im Sonnensystem zu entwickeln. Auch begriff er immer mehr die Seele und die Kultur der Menschen. „Sie haben dieses Ding im Kopf“, sagte er eines Tages zu Alal, die sich mittlerweile Alice nannte, „es besteht aus Krampf und Kampf. Sie versuchen ständig zu sein, etwas, jemand, irgendwie zu sein. Ich finde das seltsam. Als müsse man sich anstrengen, um zu sein. Auch scheinen sie, sich nicht genug zu sein, immer wollen sie besser sein, als sie glauben, dass sie es sind. Vor allem wollen sie besser als die anderen sein, wodurch sie sich oft viel schlechter fühlen“, erklärte Philphil, der in menschlicher Form Philip genannt wurde. „Sie spalten sich ab, halten sich für eine isolierte Einheit, glauben, sie seien unabhängig und könnten den Linien des Schicksals entgehen. Sie betrachten hauptsächlich ihre eigene Welt, die deshalb so klein scheint, weil sie sie so klein sehen. Die Menschen meinen, es existiere in ihnen ein sogenanntes Ich, das der Welt gegenübersteht. Ich und die Welt. Sie glauben an Grenzen, die in Wahrheit ausgedacht sind. Es sind Gedanken, nichts als Gedanken. Daran muss man sich erst gewöhnen, dass sie Vorstellungen und Realität verwechseln. Manche töten sogar für ihren Glauben. Das ist unglaublich. Sie töten für nichts, töten, weil andere nicht die gleichen Vorurteile wie sie selbst bevorzugen. Das ist für uns unbegreiflich. Wir glauben nichts, wir wissen.“

Das bedeutet ja nur, Sie nehmen das Zentrum des Universums nicht wahr!“, stellte Alice fest. „Aber das haben wir schon immer gewusst.“

Philip nickte traurig. „Sie haben keine Ahnung, woher sie kommen, wohin sie gehen, wer sie sind. Sie denken und denken und erfinden immer neue Träume, aber sie können nicht wirklich Sehen. Selbst das Rippen ist ihnen unbekannt. Leidtun sie mir, wirklich leid. Sie leben eingepfercht in ihren Vorstellungen, sie verzweifeln, wenn die Wirklichkeit davon abweicht. Deswegen verlangen sie immerzu etwas und stellen einander Bedingungen. Daraus kann nur Elend entstehen. Für jedes Kind auf Europa wäre das klar ersichtlich. Es ist eine sonderbare Welt, auf der wir jetzt leben. Eine Krankheit, ein düsteres Erbe hat sich in die Menschheit hineingefressen. Sie trägt ihren Untergang schon in sich. Sie spüren das Herz des Universums nicht schlagen. Das ist das Traurigste. So glauben sie, dass sie ein Leben haben. Sie wissen nicht, dass sie das Leben sind. Wir müssen dieses Grauen beenden, so schnell, wie es geht, bevor sie sich alle gegenseitig abschlachten. Wir dürfen nicht zusehen, wie die Erde vor die Hunde geht, wie man hierzulande sagt. Wir sind fähig, ihren Geist zu beeinflussen, und das sollten wir tun.“

Gewiss, dann werden auch sie klar Sehen und schließlich rippen können“, ergänzte Alice.

Philip schaute sie lächelnd an. „Sie werden sehen und rippen, den Fäden des Schicksals folgen. So wird eine heilende Kraft heranwachsen, bis eines Tages der gesamte Planet von der Plage der Unwissenheit befreit sein wird. Dieser Linie des Schicksals muss ich folgen.“

In Alices Augen leuchteten Sterne. „Diese Linie wird auch die Meinige sein – oder meine sein, oder wie immer das heißt in dieser schrecklichen deutschen Sprache!“


Dienstag, 11. Januar 2022

                                                Teil  12

 

Das Haus machte einen schäbigen Eindruck. Hier hatte dieser andere Philip gewohnt. Matte Farbschichten blätterten im Treppenhaus ab, als wollten sich die Wände häuten. Er blieb vor einer verstaubten Tür stehen. Er klingelte. Wie erwartet öffnete niemand. Das Schloss schien nicht sehr stabil und er überlegte, ob er es knacken könnte. Jemand kam die Treppe heruntergehumpelt. Es war ein älterer Herr, dessen fleckiges T-Shirt sich über den Bauch spannte. Der Geruch von Bier strömte ihm aus den Poren. „Ich habe Ihren Bruder eine Weile nicht mehr gesehen“, krächzte er.

Philip nutzte den Irrtum des Mannes aus und tat so, als sei er wirklich der Bruder des Vermissten. „Ich habe ihn, auch eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Leider scheint er ja nicht da zu sein. Er hat sich ewig nicht mehr gemeldet. Die ganze Familie macht sich Sorgen.“

Sie sehen ihm schon recht ähnlich. Ich habe Sie ja gleich erkannt, ohne Sie zu kennen. Er ist natürlich ein wenig älter und auch nicht so in Form wie Sie“, bemerkte der Nachbar und ging weiter treppab.

Als alles ruhig im Treppenhaus war, zog Philip ein Bündel Dietriche hervor. Nachdem er einige Minuten am Schloss herumgefummelt hatte, sprang die Tür auf und er konnte die Wohnung betreten. Viel fand er nicht vor, es war, als hätte jemand gründlich aufgeräumt, vielleicht sogar, um Spuren zu vernichten. Er untersuchte den verstaubten Schrank. In den Schubfächern befand sich wenig Brauchbares, kein Zettel mit Notizen, keine Papiere, nichts. Nirgends war ein Computer zu sehen, auf dem interessante Daten hätten gefunden werden können. Nichts Persönliches lag herum, kein Foto, kein Brief. Enttäuscht verließ er die Wohnung. Vor dem Haus kam ein Mann auf ihn zu und sprach ihn an. „Ich habe gehört, dass Sie der Bruder sind, von dem im zweiten Stock.“

Hier sprechen sich die Dinge ja schnell rum“, meinte Philip.

Der Mann kräuselte seine Oberlippe. „Tja, ist hier so üblich. Ich möchte Sie ja nicht beunruhigen, aber ich habe so einen Verdacht, was Ihren Bruder betrifft. Ich denke, er kommt nicht wieder. Ich habe ihn gekannt, nicht sehr gut, aber ich habe ihn gekannt. Er war depressiv, wie Sie ja bestimmt wissen. Er hat mir gesagt, dass er geht und dass er nicht mehr wiederkommt. Was immer das auch bedeuten mag. Am besten wir nehmen an, dass er in ein anderes Land gegangen ist. Asien vielleicht. So manch einer hat dort sein Glück gefunden!“

Mag wohl das Beste sein“, stimmte Philip zu.

Der Fremde wischte sich einen Fussel vom Ärmel seines schwarzen Anzuges ab und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, drehte er sich um und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Philip überlegte: Die Wohnung war leer geräumt. Vielleicht wollte der Gesuchte einfach nur vergessen werden. Die dramatischste Version wäre, wenn jemand diesen Philip beseitigt hätte. Im Moment gab´s keine Spuren, nichts Sinnvolles. Seine Klientin musste sich mit der Tatsache abfinden, dass ihr Mann auf und davon war, oder sich sogar von einer Brücke gestürzt hatte. Aber nein, er würde ihr sagen, ihr Mann sei möglicherweise in Asien. Das klang besser. Oder war er sogar einer dieser Staatsfeinde? Der Staat hatte keine andere Wahl in solchen Fällen und musste hart durchgreifen, wenn er die Bürger vor den Aliens schützen wollte. Diese außerirdischen Aggressoren, so hieß es, bekämen immer mehr Sympathisanten. Wenn die Sache einen politischen Hintergrund haben sollte, wäre es gut, sich da herauszuhalten. Er würde bestimmt nicht seine Lizenz aufs Spiel setzen.

Als seine Klientin wieder bei ihm auftauchte, riet er ihr, die Sache auf sich beruhen zu lassen; denn es weise alles darauf hin, dass der Gesuchte untergetaucht sei. Spuren, die verraten könnten, wo er sich befände, habe ihr Bruder scheinbar verwischt. Er wolle offenbar nicht gefunden werden. Philip verschwieg ihr seine Theorien, die mit Selbsttötung und Staatsfeindlichkeit zu tun hatten.

Sie war verzweifelt, sie weinte. „Er braucht mich, hören Sie? Er weiß gar nicht, wie sehr er mich braucht! Er ist zuweilen ein wenig verwirrt, aber hinter seiner Verwirrung steckt etwas Geniales. Außerdem fehlt er mir.“

Philip nickte professionell. „Er hatte kaum Kontakt. Einige Mieter im Haus haben ihn ab und zu mal kurz gesehen. Das ist alles. Immerhin weiß ich in etwa, wie er aussieht: so ähnlich wie ich. Zumindest hat man mir das gesagt. Ich habe dummerweise vergessen, Sie nach einem Foto von ihm zu fragen. Tragen Sie eines bei sich?“

Also ich sehe da nicht viel Ähnlichkeit zwischen Ihnen und ihm. Die Augenpartie vielleicht. Jetzt, wo Sie es sagen. Aber der Mund … nein, doch nicht, der ist schon ziemlich anders“, sagte sie und zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche hervor. Sie tippte auf den Touchscreen. Ein Ausdruck des Entsetzens husche über ihr Gesicht. „Die Fotos, sie sind weg!“

Gewiss haben Sie noch welche auf ihrem PC oder im Internet“, merkte Philip an, um sie zu beruhigen.

Den PC hat er ja mitgenommen, als er ausgezogen ist. Ich mag keine Computer. Ich hasse auch die sozialen Medien. Alle Fotos, die ich von ihm hatte, waren hier gespeichert. Nun ist alles fort. Die ganze Vergangenheit wurde gelöscht!“

Ich habe keinen PC in seiner Wohnung gesehen“, stellte Philip sachlich fest. „Vielleicht ist das ein Zeichen, das mit den Bildern. Sie sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Machen Sie besser einen Schnitt, fangen Sie ein neues Leben an.“

Tränen liefen ihr über die Wangen. „Helfen Sie mir; Sie dürfen nicht aufgeben!“, beschwor sie ihn.

Philip blickte sie nachdenklich an. „Es gibt da eine Möglichkeit, eine Quelle, die ich anzapfen könnte. Es ist ein korrupter Polizist – verkauft Informationen aus dem Polizeicomputer.“

Ich zahle alles“, sagte sie erleichtert und wischte sich die Tränen ab.


Am Nachmittag nahm Philip Kontakt zu seiner Quelle auf. Der Informant meldete sich eine Stunde später. Er hatte etwas gefunden. Die offiziellen Akten seien geschlossen worden und man habe sie gelöscht. Eine Anweisung von höherer Stelle. Wohl etwas Politisches. Auch Drogen spielten eine Rolle, plauderte der Informant aus. So stehe es zumindest in einer Notiz, die sich ein Beamter zu dem Fall gemacht habe. Solche inoffiziellen Gedächtnisstützen seien zumeist aufschlussreich. Auch habe er einen Eintrag über eine Wissenschaftlerin gesehen – wohl die Schwester von diesem Philip. Ihr Name laute Alice, sie gelte als vermisst. Am Rand habe jemand notiert: Fall geschlossen? Dickes Fragezeichen.

Philip wollte wissen, wer das notiert hatte.

Hören sie“, sagte der Informant, „meine Dienste sind begrenzt. Der Name würde Ihnen auch nichts nutzen.“

Meine Klientin wäre bereit, eine entsprechende Summe aufzutreiben“, versprach Philip.

Na gut. Löschen sie meine Telefonnummer. Was auch geschieht: Sie haben nie mit mir gesprochen! Es war Kommissar Hans Lehmann, der diese Notizen gemacht hat!“

Danke, Sie werden Ihr Geld bekommen, wie immer in Bitcoins eingezahlt“, versprach Philip und beendete das Gespräch. Er rief daraufhin seine Klientin an. „Er hat wohl doch eine Schwester, es gibt sie wirklich. Es scheint, sie ist verschwunden. Zumindest hat sie jemand als vermisst gemeldet. Sie soll eine Wissenschaftlerin sein.“

Er hat nur ihren Namen erwähnt, sonst nichts. Er hat wenig über seine Familie geredet. Ich habe nie weiter nachgebohrt.“

Meine Quelle ist nicht billig.“

Schon in Ordnung. Ich werde das Geld zusammenkratzen. Tun Sie, was getan werden muss!“

Philip schwieg einen Moment, kratzte sich am Kopf und fuhr fort: „Wenn wir jetzt weiter forschen, könnte der Fall für uns gefährlich werden. Ich halte es immer noch für das Beste, alles auf sich beruhen zu lassen. Mache ich jetzt weiter, werde ich eventuell in ein Wespennest herumstochern. Der Fall seiner Schwester wurde zu den Akten gelegt. Die Akten hat man gelöscht. Das geschah auf Befehl einer Stelle, die über der Polizei steht. Kann sein, der Geheimdienst steckt mit drin. Eventuell waren Ihr Mann und seine Schwester Terroristen!“

Machen sie weiter“, flehte Karen, „jetzt, wo Sie eine neue Spur haben. Sie sind meine letzte Hoffnung. Sie sind der Beste, ich habe es gleich gewusst!“

Gut, ich werde weitermachen“, versprach Philip, legte das Telefon aus der Hand und flüsterte: „Das Schicksal sei uns gnädig.“


Kommissar Lehmanns Frau öffnete die Tür. „Hier ist Besuch für dich!“

Hans Lehmann kam aus dem Wohnzimmer. „Gottverdammt!“, rief er erschrocken aus. „Schatz, lass uns doch bitte kurz allein. Ist dienstlich.“

Seine Frau nickte und zog sich zurück. "Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sie gefährden meine Familie. Ich sagte Ihnen doch: Tauchen Sie unter", zische Lehmann.

Tut mir leid, aber ich habe Sie noch nie zuvor gesehen“, beteuerte Philip.

"Wie immer Sie meinen. Wenn Sie aus der Haustür herauskommen, gehen Sie rechts die Straße entlang. Hinter der nächsten Ecke finden Sie ein Café – Café Maximus heißt es. Warten Sie dort auf mich. Und geben Sie nur acht, dass Sie niemand hier im Haus sieht. Ist Ihre Freundin auch hier?"

Äh, welche Freundin?“

Na die Sie immer verfolgt. Ich habe mich geirrt: Sie können ihr vertrauen.“

Mich verfolgt niemand. Aber vielleicht reden Sie von meiner Klientin, Frau Karen Durga.“

Hans Lehmann nickte. „Das hört sich nach ihr an. Telefonieren Sie mit ihr. Sie soll auch in das Café kommen. Sagen Sie ihr, es sei wichtig!“

Philip nickte. „In Ordnung! Ich bin gekommen, weil ihr Mann verschwunden ist. Hoffentlich können Sie mir weiterhelfen.“

Nachdem Philip gegangen war, atmete Hans Lehmann tief durch, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und ging zum Telefon. „Hallo!“, rief er aufgeregt in den Apparat, „hallo Alice, er war gerade hier, ja, bei mir. Etwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Er tat so, als hätte er mich noch nie gesehen. Er wartet in Café Maximus in der Hauptstraße. Ja, es ist gut, wenn du kommst.“

Er rief seiner Frau zu: „Ich muss dringend weg Schatz. Kann länger dauern!“


Das Café Maximus war fast leer. In der der hinteren Ecken hatte Philip an einen Tisch Platz genommen. Hans Lehmann lief auf ihn zu und setzte sich zu ihm.

Hören Sie“, sagte Philip, „ich kenne Sie persönlich gar nicht. Ich denke, Sie verwechseln mich mit dem Mann meiner Klientin. Er soll mir ähnlich sehen.“

Unsinn, Sie sind es!“

Was, ich soll ihr Mann sein?“

Nicht, dass ich wüsste. Sie sind aber der Mann, den ich kenne.“

Ich weiß nicht, wovon Sie reden, ich bin zu Ihnen gekommen, da Sie eventuell etwas über eine gewisse Alice wissen. Sie ist die Schwester des Mannes meiner Klientin.“

Da ist sie!“, rief Lehmann.

Alice kam auf den Tisch zugestürmt, an dem sie saßen. Sie umarmte Philip so fest, dass ihm die Luft wegblieb.

Es tut mir leid, aber Sie verwechseln mich offenbar. Ich bin nicht der, den Sie glauben, vor sich zu haben!“

Ich bin Alice, glaube mir, ich würde dich immer erkennen“, sagte sie.

In diesem Moment sprang die Tür zum Café auf und Karen kam herein. Sie entdeckte sogleich Philip und lief außer Puste zu seinem Tisch.

Was ist so wichtig? Warum haben Sie mich angerufen? Können diese Leute uns weiterhelfen, wissen sie, wo mein Mann abgeblieben ist?“

Setz dich, Karen“, bat Alice, dann wandte sie sich an Kommissar Lehmann. „Es ist etwas passiert, was gar nicht gut ist: Man hat das Gedächtnis der beiden manipuliert. Ebenso, wie man meines manipuliert hatte. Ich rede von der zweiten, der ungewollten Manipulation. Der erste Eingriff war geplant. Wir nennen es das Pseudogedächtnis. Es besteht aus künstlichen Erinnerungen, sollen helfen, sich in eine fremde Umgebung einzuleben. Man weiß aber gleichzeitig immer, dass diese Erinnerungen nicht die eigenen sind. Es hilft uns, die Rolle zu spielen, die wir benötigen, um unter Menschen zu leben. Wir haben somit einen menschlichen Charakter, eine Vorgeschichte und hilfreiche Erfahrungen, kurz: Eine Art von innerem Drehbuch, das uns aber auch genügend Raum zum Improvisieren lässt. Ein relativ harmloser Eingriff in den Geist. Es ist so, als käme man aus dem Kino und stünde noch unter dem Eindruck eines Films.“

Was soll das?“, fragte Karen und schaute Philip entgeistert an. „Ist diese Frau verrückt?“

Bei dir Karen“, fuhr Alice fort, „war es anders. Du bist ein Mensch, eine Infizierte. Du hast das Geschenk, die Fähigkeit erhalten. Die Infektion hat die Einheit offenbart. Mit Philip und mir verhält es sich aber anders. Was für dich wie eine Offenbarung schien, ist für uns unsere Natur.“

Philip schüttelte verständnislos den Kopf. „Soll das jetzt heißen, ich bin kein Mensch oder was?“

Alice erläuterte weiter: „Eigentlich sollte man langsam vorgehen in einem solchen Fall. Ich muss aber schnell zur Sache kommen, um eure Erinnerungen zu aktivieren. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir sind im Krieg, wir haben einen Feind. Wir brauchen dich jetzt Philip!“

Moment, also der Reihe nach. Ihr seid angeblich außerirdisch. Ist das so?“

Nein Philip, der Herr Kommissar hier ist menschlich, ebenso wie Karen. Sie wurden infiziert. Das Alien bist du! Wir beide sind Außerirdische.“

Philip schüttelte ungläubig den Kopf und fragte höhnisch: „Und der Feind sind wohl die Menschen, die noch nicht infiziert wurden, nehme ich an!“

Alice verneinte. Die Menschen seien keine Bedrohung, die Gefahr komme vom Mond Europa.

Moment, es wird immer wirrer. Laut dieser Story, die wir hier aufgetischt bekommen, sind wir die Aliens. Wir müssten also vom Eismond Europa stammen. Unsere Feinde kommen auch von Europa. Habe ich das jetzt richtig verstanden?“

Du reagierst momentan wie ein Mensch, deshalb ist die Kommunikation mit dir nicht einfach. Du willst alle Ereignisse wie Perlen auf eine Kette ziehen. Das Universum aber ist keine Perlenschnur, sondern es gleicht mehr einem Netz, das sich ständig verzweigt. Wir kommen von Europa, lebten aber kurzfristig noch in der Erdkolonie. Sie befindet sich in der Tiefsee. Aber zurück zum Gedächtnis“, sagte Alice und zeigte dann auf Karen. „Ihr Gedächtnis ist leicht zu reparieren und es werden keine Schäden zurückbleiben. Sie hatte zuvor auch kein Pseudogedächtnis erhalten.“

Wenn das alles stimmen sollte, dann könnte man es ja bei ihr gleich reparieren“, sagte Philip und sah Alice herausfordernd an.

Wir werden jetzt woanders hingehen. Es wird eine Stunde dauern, bis ihr Geist das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Die Infizierung wird dann wieder wirken und dabei helfen, alles zu integrieren.“ Alice wandte sich an Karen. „Du musst verstehen, dass es ein kleiner Schock sein wird. Ein wenig wie Sterben. Du wirst verteidigen wollen, was du jetzt glaubst zu sein. Aber es ist nicht wahr, das bist nicht du. Kommt mit, wir sollten aufbrechen!“

Ja wohin denn nur?“

Bis zum nächsten Treppenhaus Karen. Du kannst wieder nach Hause“, sagte Alice zu Kommissar Lehmann gewandt, „aber warte, ich habe noch etwas für dich. Ich sehe, du leidest an Krebs, Streukrebs. Wir können die Schicksalslinien nicht beliebig ändern. Manches Mal aber sind wir, die es scheinbar können, Teil des Schicksals, das einen unvorhersehbaren Haken schlägt. Eines Tages wirst du sterben, aber der Tag wird nicht so bald sein. Deine eigene Kraft ist noch nicht so stark, um das zu tun, was ich tun kann. Heute werde ich dein Engel sein, morgen wirst du der Engel von jemand anderen sein; dann wirst du sehen, dass das Universum nichts anderes als Liebe ist.“ Alice öffnete die Hände und pustete, als wolle sie etwas wegblasen, was darinnen lag. Ein kleiner Lichtstern flog zu Hans Lehmann und Zerplatzte über seinem Kopf. Tausend Funken prasselten auf ihn herab. „Deine Aufgabe ist noch nicht zu Ende, wir brauchen dich, die Menschen brauchen dich. Ich weiß, du wirst deine Fähigkeiten zum Besten nutzen, zur Befreiung der Erde.“ Alice erhob sich. „Es ist Zeit zu gehen.“

Philip schaute sie an, neugierig und zweifelnd. Sie folgten ihr, als sie das Café verließ. Hans Lehmann blieb schweigend zurück.

Gleich neben dem Café Maximus hielten sie vor einem Wohnhaus. Alice klingelte irgendwo und die Haustür öffnete sich. Sie traten ein. Verwirrt blickte Philip sich um. Eine Berglandschaft lag vor ihnen. Sie standen auf einer Almwiese.

Hier sind wir ungestört. Da hinten ist eine Hütte. Kommt mit“, sagte Alice. „Ach so, was da soeben passiert ist, das nennen wir Rippen. Ich habe einen Tunnel gebaut.“

Das ist Zauberei, oder ich träume jetzt nur. Sie ist wohl tatsächlich eine Außerirdische“, meinte Karen.

Sie ist gefährlich“, warnte Philip.

Alice griff sich ans Herz und atmete tief ein und aus. Frieden lag über allem. Ein Strom von Vertrauen durchdrang ihn. So gingen sie zu der kleinen Almhütte und traten ein. An der Wand hing ein Hirschgeweih. Der Boden knarrte unter den Schritten. Es roch nach Fichtenholz und Bergwiese.

Liebe Karen, liebe Freundin“, sagte Alice, wobei ein Licht aus ihrer Brust strahlte. Karens Atemzüge beschleunigten sich, bald weinte sie und bald lachte sie, bis abermals Tränen aus ihren Augen flossen. „Im Nebenzimmer steht ein Bett, dort kannst du dich hinlegen“, bot Alice an und begleitete Karen dorthin.

Philip sah, wie Karen die Augen schloss und sich hin und her wälzte, bis sie in einen scheinbar tiefen Schlaf fiel.

Was ist mit ihr passiert?“, fragte er.

Alice sagte: „Sie ist den Prozess des doppelten Erinnerns durchgegangen. Sie erlangte ihr Gedächtnis zurück und spürte erneut die Macht der Infektion, der Urerinnerung, die ihr offenbart wurde. Nach einem kurzen Todeskampf fiel die falsche Persönlichkeit ab. Sie hat sie als das erkannt, was sie war: ein Traum. Ihre Ehe, ihre Kindheit, ihr ganzes Leben, das weiß sie nun, war nicht mehr gewesen als Einbildung. Unter der Schlacke der Illusion hat sie eine andere Erinnerung gefunden, eine andere Kindheit, das Leben, das wirklich ihres war. Und wieder fühlte es für sie an wie Sterben, schmerzhaft und süß. Nach einer Stunde wusste sie alles: Woher sie gekommen war, wohin sie gehen würde. Sie konnte wieder SEHEN! Sie lebt nicht mehr in der Illusion, getrennt zu sein vom großen Fluss, vom Wasser des Lebens, vom Zentrum der Welt, diesem Herzen aus Licht.“

Als Karen sich erhob, sagte sie: „Die Irrtümer sind verschwunden, ich weiß, was wahr ist!“

Alice lächelte. „Schön, dass deine Augen offen sind.“

Die Regierung hatte recht: Es gibt Aliens auf der Erde“, sagte Karen zu Philip, der immer noch grübelte, was hier vor sich gehen mochte.

Alice erklärte: „Ja, es gibt nicht nur Aliens, es existiert auch ein böses Wesen, dieses ist körperlos. Es hat sich im Geist der Menschen festgefressen. Es zeigt sich als menschliche Ignoranz. Es hat allen die Unschuld geraubt, hat die Gedanken der Menschen verdreht. Je höher die Menschheit glaubte zu steigen, umso tiefer ist sie gefallen. Man hat begonnen, sich gegenseitig abzuschlachten, und die größten Schlächter als Helden zu feiern. Man gründete Religionen und glaubte an Ideologien. So baute man eine Mauer zwischen sich und der Wahrheit. Die Menschen verteidigten ihren Glauben mit dem Schwert, kämpften für ihre Freiheit, die nichts anderes als Gefangenschaft ist. Sie klammern sich leidend an ein Leben, das sich nicht vom Tod unterscheidet. Sie haben sich vom Herzen des Universums abgewendet. Aber es hilft ja nicht, man kann es nicht übersehen, das Feuer der Wahrheit brennt in ihnen. Ja, die Wahrheit macht Angst, sie zerstört jede Illusion. Als das Leiden groß genug war, haben wir eingegriffen.“

Philip sah Alice eine Weile schweigend an, dann sagte er: „Und nun kommt der Satz: Irgendetwas ist schiefgelaufen?“

Sagen wir mal: Etwas ist quer gelaufen. Manches Mal kreuzen sich zwei Schicksalslinien. Unser Gegner bewegt sich auf einer anderen Linie.“

Du musst dich erinnern!“, beschwor Karen Philip.

Alice sprach: „Einer kann das Unheil abwenden. Das bist du Philip. Dazu müsstest du dich allerdings erinnern. Es ist gefährlich, denn deine Erinnerungen wurden zu oft verändert. Wir müssten viel Zeit haben. Aber die Zeit ist knapp. Die ersten eingepflanzten Erinnerungen sind harmlos, sie sollten nur die Anpassung an die Erdengesellschaft begünstigen. Sie wurden als künstliche Erinnerungen durchschaut. Als ein Angriff auf deinen Geist stattfand, ist dein Bewusstsein vollkommen mit diesen Pseudoerinnerungen verschmolzen, sodass sie für dich zur Wirklichkeit geworden sind. Sie überlagerten deine wahre Identität. Später erfolgte ein weiterer Angriff auf dein Gedächtnis. Als du dich zu verändern begannst, hat Karen dich infiziert, in der Hoffnung, sie könne dich damit heilen. Und ja, das kann durchaus funktionieren, um die Selbstheilung in Gang zu setzen. Eine Infektion ist nichts anderes als eine Erinnerung daran, was das eigene Wesen im Grunde genommen ist. Sie konnte dir nie die ganze Wahrheit erzählen, das hätte zu einem Schock geführt. Deshalb hat sie nur vorsichtige Andeutungen machen können, um deinem Gedächtnis auf die Spur zu helfen. Na ja, dann wurde auch sie ausgeschaltet. Zweimal warst du bis jetzt in der Enge gefangen, jeweils in einem eingebildeten Ich. In Wahrheit war da nichts, nur eine Vorstellung, ein Glaube. Dein ursprüngliches Sein und deine echten Erinnerungen wieder freizulegen, ist ein riskanter Eingriff. Man hat dir die schlimmste Verletzung zugefügt, die man sich denken kann: Du lebst subjektiv gesehen in einer Isolationshaft innerhalb einer falschen Persönlichkeit. Du gaukelst dir ein Universum ohne Türen vor, in dem es vor Wänden nur so wimmelt. Wir haben keine Wahl, du musst dich erinnern. Das ist deine Schicksalslinie.“ Sie berührte seine Stirn mit ihren Lippen und sagte dann: „So mag geschehen, was zu geschehen hat.“

Auf Philips Stirn flimmerte ein winziges Licht. Es drang in seinen Kopf ein und lockte ein anderes Licht an, das in der Tiefe ruhte. Das eine Licht glühte warm und angenehm; das andere aber war grausam. Das eine Licht hieß Leben; das andere nannte man den Tod. Bald erloschen die zwei Lichter und es blieb nichts als Finsternis. Und doch war darin ein Tunnel zu erkennen, wie ein Loch in der Erde, das in einen Abgrund von Schwärze hinabführte. Ich bin Philip, dachte es in ihm, und ich muss jetzt sterben. Er fiel tief, sehr tief. Von unten flammte ihm Licht entgegen, und er wusste nicht, ob es das kalte Flimmern des Todes, oder die warme Flamme des Lebens war. Als er mit dem Licht zusammenstieß, wurde es dunkel und still, wie noch nie eine Stille still war. Eine sternlose Nacht lag wie ein flaumiges Tuch über allem. Funken flogen auf, sie malten Bilder auf eine unendliche Leinwand. Zuerst erschienen einfache abstrakte Formen, Kreise, Rechtecke, Linien, dann wurde alles komplexer, füllte sich mit Leben, bewegte sich. Es hüpfte, sprang, schwamm, pulsierte, bis sich eine Welt voller Eindrücke offenbarte. Anfangs wirkten die Bilder und Empfindungen schemenhaft; bald aber wurde alles deutlicher, bis er klar erkannte, was vor ihm lag: Seine eigene Kindheit, er sah das Leben auf Europa, auf der fernen Heimat unterhalb der Eisschicht. Er entdeckte seine Eltern und andere leuchtende Wesen, schwerelos glitten sie durch das Wasser. Er nahm sich selbst wahr inmitten einer Schar von Kindern. Sie berührten sich an den Flossen und spielten damit, immer neue Gefühle und Gedanken im Kreis herumwandern zu lassen. Er erinnerte sich daran, wie er staunte, als er zum ersten Mal eine Gruppe Arbeitsroboter auf dem Meeresboden entlangmarschieren sah. Jeder von ihnen lief auf acht Beinen und verfügte über zwei beeindruckende Greifarme. Eines Tages, das versprach er sich, würde er auch so ein Ding bauen.

Vielleicht wirst du ja Ingenieur, oder du verfügst über eine andere Begabung. Unsere Herzen sind groß, wir nehmen immer das mit Begeisterung auf, was die Linie des Schicksals bringt“, sagte sein Vater.

In diesem Augenblick hatte Philip begriffen, wie das Leben funktionierte. Die Eltern lehrten ihm, die Welt mit dem Herzen zu sehen und wie man kraftvoll rippt. Das waren wesentliche Fertigkeiten, besonders wenn man einem Blug begegnete. Der erste Blug, der ihm über den Weg schwamm, sah scheußlich aus. Es war ein fettes Tier, das gierig sein Maul aufriss und seine acht Zahnreihen zeigte. Seinerzeit war ein Gedicht sehr beliebt:


Der Blug hat scharfe Zähne,
Die bringen viel an Leid.
Mehr noch an Schmerzen fasst die Schale,
Die Schale, die ich bin;
Während ich trage
Mein zerrissenes Kind
Auf der Leichenbahre
Meiner Erinnerung!


Er füllte keine Schale mit Schmerzen; denn er konnte gut genug rippen, um den Blug umzulenken. Das Tier spreizte seine fünf Flossen und zog ab, ohne zurückzuschauen. Auch erinnerte er sich an die großen Städte, hell flimmernd trieben sie durch das Wasser. Er sah seine Schwester Alal vor sich, dieses kleine leuchtende Wesen. Sie tanzte verspielt, schaute bewundernd zu ihm auf und sagte ihm, dass er immer bei ihr bleiben müsse und sie nie verlassen dürfe. Er versprach es und wechselte dabei zur Unterstreichung seiner Absicht die Hautfarbe. Auch legte er ihr liebevoll einen seiner Handarme und einen Flossenarm auf den Kopf, wobei sie zufrieden Wasser aus dem Mund blies.

Er dachte an die Schule, an all die klugen Lehrer, daran, wie sie kleine Lichtschimmer aus ihren Herzen aussandten, die sanft in die Kinder hineinstrahlten. So wurde Wissen vermittelt. Die neue Information breitete sich langsam in einem aus und verknüpfte sich als kunstvolles Geflecht mit dem Wissen, über das man schon verfügte.

 

Sonntag, 2. Januar 2022

 TEIL 11

Hans Lehmann, Polizeikommissar in privater und geheimer Mission, dachte nach. Sein Ziel hieß Alice. Wäre es möglich, fragte er sich, jemanden aufzuspüren, indem man einfach seinen eigenen Instinkten folgte? Eigentlich nicht! Aber hatte er nicht schon Erstaunliches gesehen? Diese seltsame Frau – sie hatte ihm gezeigt, wie ein älterer Herr seine jungen und kräftigen Verfolger abschütteln konnte, indem er scheinbar Unmögliches vollbrachte. Entweder war da etwas Wunderbares geschehen, oder ein Wunder wurde um seinetwillen inszeniert. Dann allerdings war die Frage: wozu dieser Aufwand?

„Ich muss fort“, sagte er zu seiner Frau, „dienstlich.“ Und bald, so dachte er, würde er für immer gehen, in das Reich ewiger Abwesenheit, ins Land des Todes. Langsam wurde sein Leben zu einem einzigen Abschied. Alles floss dahin, verlor seine Form, zerbrach. Nichts hatte Bestand. Das Dasein war ein immerwährendes Sterben; war es schon immer gewesen, nur jetzt wurde ihm das erst bewusst, wo er seinem Ende gegenüberstand. Er schaute seine Frau an. Sie erschien ihm als Kind, als junges Weib, als Mutter, als alle Frauen der Welt, er sah innerlich ihre Geburt und ihr Sterben. Und er erkannte ein um ihren Mund tanzendes Lächeln, das wie Sternenfeuer glühte und nie vergehen würde. Es war dieses ewige Lächeln, das Lächeln der Engel. Man musste richtig hinschauen, musste die Augen dazu bringen, ihre Blicke tiefer ins Fleisch der Welt zu bohren, dann konnte man sehen, wahrlich sehen. Mit diesem Lächeln des Wissens und der Leichtigkeit kamen alle Menschen zur Welt, dann aber zog es sich nach und nach zurück, verkroch sich nach innen, lag begraben unter einem Berg von Meinungen, Ängsten und zerbrochener Hoffnung, bis es nur noch selten aufleuchtete. Jedoch es war nicht fort, schwelte beständig unter der Oberfläche. Er wollte seiner Frau etwas sagen, ihm fehlten aber die Worte. Er zog sich eine dünne Jacke über und verließ Haus.


Er stieg in sein Auto, fuhr los, obwohl er nicht das Recht besaß, zu ermitteln. Es kam ihm vor, als steuere nicht er den Wagen, sondern als lenke eine seltsame Kraft alles – den Wagen, ihn, die ganze Welt. Er fuhr so entschlossen, als hätte er ein Ziel vor Augen. In der Nähe des Strandes hinter der Stadt hielt er an, stieg aus und sah sich um. Sein Blick fiel auf ein Haus. Ein quadratisches Betonungeheuer, das wie ein riesiger Bauklotz in der Landschaft stand. Hier war es! Er wusste nicht, warum dieser Gedanke so klar in ihm auftauchte, aber er vertraute ihm. Vor dem Haus machte Hans Lehmann halt. Die Tür sah stabil aus, sie war mit Metall verstärkt. Eine Klingel existierte, aber kein Namensschild. Sein Blick wanderte nach oben: Dort hing eine Kamera. Bald, nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, sprang die Tür auf. Unvermittelt sah er sich drei Männern gegenüber. Sie zielten mit Pistolen auf ihn.

Er sagte gefasst: „Es würde auffallen, wenn Sie einen Polizisten erschießen, der seinen Ermittlungen nachgeht. Meine Kollegen wissen, wo ich bin.“

„Schön die Hände über den Kopf und nicht bewegen!“, befahl einer der Männer. Ein anderer tastete ihn ab. Er fand einen Dienstausweis, aber keine Waffe. Die Männer steckten ihre Pistolen weg. Sie führten sie ihn in einen Raum, in dem er kurz warten sollte. Es war ein karg eingerichtetes Büro. Er ließ sich in einen der billigen Sessel fallen, die dort herumstanden. Keine Spur von Angst war ihn ihm, er wusste, dass er das Richtige tat.

Nach einigen Minuten stampfte ein riesiger Kerl ins Zimmer. An seinem Handgelenk trug er eine wahrscheinlich teure Uhr, die derart protzig wirkte, dass sie billig erschien. „Wir gingen davon aus, dass es in diesem Fall keine Ermittlungen mehr gibt. Sie wissen ja, von welchem Fall ich rede. Hätten Sie sich angemeldet, so wäre die Begrüßung gewiss weniger dramatisch ausgefallen. Wir sind keine Gauner, wir sind eine staatliche Behörde.“

Lehmann nickte. „Natürlich, es geht ja auch nur darum, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

„Nach meinen Informationen bekam die Polizei von der Staatsanwaltschaft die Anweisung, den Fall nicht weiter zu verfolgen. Es waren uns einige Fehler unterlaufen, als wir diese Wissenschaftlerin zu ihrem eigenem Schutz ...“

„Und die anderen auch?“

„Sehen Sie“, führ der große Mann fort und sah ihn dabei bedeutungsvoll an, „Sie wissen auch schon davon. Das alles sollte vermieden werden. Aber wir sind daran nicht unschuldig. Wir hätten uns etwas anderes überlegen sollen. Nun aber müssen wir den Weg, den wir eingeschlagen haben, mit aller Konsequenz weitergehen. “

Es klopfte an der Tür. Ein unscheinbarer Mann betrat den Raum und übergab stumm einen Zettel. Der Große bedankte sich förmlich. Der Bote machte sich rasch wieder davon. Mit zusammengekniffenen Lippen besah sich der arrogante Riese den Zettel. „Grade habe ich eine Nachricht bekommen. Sie besagt, dass erstens der Fall definitiv nicht mehr im Aufgabenbereich der Polizei liegt, zweitens, dass Ihre Kollegen nicht wissen, wo Sie sich momentan aufhalten. Wenn Sie nicht dienstlich hier sind, stellt sich die Frage: Was wollen Sie wirklich?“

Lehmann lächelte, als hätte er einen raffinierten Witz verstanden. „Sehen Sie, es war mein Fall. Ich erfuhr kürzlich, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Ich nahm mir daraufhin vor, meinen letzten Fall abzuschließen. Ohne offiziellen Auftrag. Eine dumme Idee, werden Sie sagen. Aber so nahe am Ende betrachtet man alles von einem anderen Standpunkt. Nun, ich bekam heraus, dass nicht nur die eine Wissenschaftlerin verschwunden war, sondern auch weitere Leute, die an diesem Projekt gearbeitet haben. Sie wissen, es ging um dieses Ding vom Jupitermond Europa. Dann traf ich auch noch den Bruder der Vermissten. Ich weiß, er wird beobachtet und verfolgt.“

„Natürlich“, sagte der große Mann, dessen eingeübtes Lächeln sich verflüchtigt hatte, „er musste ja herumschnüffeln, genau wie Sie. Außerdem steht er in Beziehung zu einer verdächtigen Person.“

Kommissar Lehmann nickte. „Ich weiß, so eine Frau.“

„Sie scheinen ja recht viel zu wissen. Und das ist mehr, als Sie wissen sollten. Es geht hier um die Sicherheit der Zivilisation. Es geht hier um all das, was Menschen je geschaffen haben. Es geht um uns. Außerirdische bedrohen die Erde. Wir stehen der größten Gefahr gegenüber, die uns als Menschheit bedroht hat!“

„Es gibt Stimmen, die meinen, den Regierungen Europas ginge es darum, mit einem solchen Feindbild die Bürger besser unter Kontrolle zu halten.“

„Sie glauben wohl, sie sind besonders schlau, Herr Kommissar, aber von welchen Bürgern reden Sie überhaupt? Sie reden von Bürgern, die schon unter dem Einfluss der Aliens stehen. Sie reden von verwirrten, fanatischen Kreaturen, bereit, sich und ihre eigene Art ans Messer zu liefern. Die Außerirdischen sind nicht blöde, sie greifen uns nicht mit Waffen an, sie zerstören uns von innen her. Sie verändern die Menschen, mit denen sie in Kontakt treten, machen sie zu Monstern. Sie schüren Unzufriedenheit. Es kommt zu Aufständen. Überall lauern ihre Agenten, ihre menschlichen Lakaien. Sie statten sie mit Macht aus, sie überfluten ihre Gehirne mit Ideologie, bis sie innerlich selbst zu so etwas wie Aliens werden, denen menschliche Werte nichts mehr bedeuten. Wenn wir sie nicht stoppen – dann Welt ade! Ich will mit keiner Alien-Gehirnwäsche leben. Lieber wäre ich tot! Ich will nicht auf das verzichten, was mich als Mensch ausmacht, auf all das, was ich mir mühevoll erarbeitet habe, auf meinen Erfolg, meinen Status und auf den Wunsch, meinem Land zu dienen, Europa zu dienen. Ich kämpfe für meine Ideale, – wenn es sein muss mit allen Mitteln!“

„Und was, wenn diese Aliens uns gar nicht unterdrücken wollen, sondern befreien?“

Der große Mann lachte bitter. „Befreien? Wovon denn? Von uns selbst?“

„Warum nicht? Schauen Sie sich unsere Geschichte an: Eine blutige Spur zieht sich durch die Jahrtausende. Übrigens: Ich habe einen Ihrer Agenten erschossen – Notwehr! Das mit dem anderen Agenten war ein Unfall.“

Der große Mann drückte den Alarmknopf. In diesem Moment öffnete sich ein Tunnel, er verschluckte die ganze Welt und spie sie wieder aus. Danach war nichts mehr wie zuvor. Hans Lehmann hatte seinen Standpunkt verloren. Es gab keine Ursachen mehr und keine Reaktionen. Alles geschah einfach nur. Die Zeit war aus den Dingen herausgeflossen und vor ihm bildeten sich wechselnde Muster, die sich in vier Dimensionen ausbreiteten. Diese Muster hingen wie ein Spinnennetz im Raum, und wenn ein Teil dieses Netzes sich regte, erzitterte das ganze Gebilde. Lehmann sah das, was noch geschehen würde, bereits jetzt. Die Zeit war für ihn zu einem Zimmer geworden, in dem alle Uhren stillstanden, das er betreten konnte, um sich darin umzusehen. Die Gedanken und Handlungen von jemand anderen erschienen in seiner Wahrnehmung so, als wären es seine eigenen. Er wusste: Das nannte man SEHEN. Bewaffnete Männer stürmten durch die Tür. Er sprang automatisch zum für ihn günstigsten Punkt des Raumes.

„Ergeben Sie sich!“, brüllte jemand.

„Sie sollten sich ergeben!“, rief Lehmann den Männern zu; aber er wusste, das würden sie nicht tun. Sie funktionierten wie Maschinen. Das Schicksal lief wie ein Uhrwerk ab. Jeder befand sich in einem Film, den man Realität nannte. Er sah durch diesen Film hindurch, der wie eine transparente Schicht über ein pulsierendes Meer von Energie lag. Dieses Meer war ein geheimnisvoller Ort: Es brodelte, es zischte, Wellen aus Feuer loderten aufwärts und ein Sturm fegte über alles hinweg, ein Sturm wie ein Schrei, herausgedonnert aus Milliarden Kehlen. Das war der Platzt, erkannte er, wo das seinen Ursprung hatte, was sie – wer immer sie sein mochten – das Rippen nannten. Betrachtete man die kochende Energie dieses Meeres genau, so war zu erkennen, dass sie aus lauter schmalen Linien bestand. Es waren die Linien der Welt. Alle Dinge kamen daraus hervor. Mit dieser gestaltenden Kraft fühlte er sich innig verbunden. Er sah, wie die Männer, die vor ihm standen, auf ihn zielten, gleichsam spürte er eine unbekannte Gewalt in sich. Eine Hand wuchs aus ihm heraus und griff tief ins Gewebe der Welt hinein. Die Männer im Raum blickten sich verwirrt. Sie versuchten vergeblich, mit ihren Pistolen ein Ziel zu fixieren. Hans Lehmann lief unbehelligt zwischen ihnen hindurch, bis hin zum Flur..

Er rannte geradeaus. Vor seinem inneren Auge erschienen sämtliche Räume des Gebäudes. Er wusste sofort, wo er finden würde, was er suchte. In einem der Zimmer erkannten seine neuen Sinne mehrere Lichter, diese Lichter waren die Energien Menschen. Eines von ihnen strahlte heller als die anderen. Das war Alice. Sie würde in wenigen Minuten wieder richtig SEHEN können und rippen, so wie er. Rasch rippte er eine verschlossene Tür auf, durchquerte einen dahinterliegenden Raum, dann noch einen weiteren. Hier bemerkte ihn ein Wächter. Lehmann wusste, der Mann könnte ihn nicht mit seiner Waffe treffen, wenn er jetzt kurz nach links ausweichen würde. Er sprang. Es knallte eine, Patrone schlug neben ihm ins Gemäuer ein. Staub flog aus der Wand. Wütend rannte der Wächter ihm hinterher, stolperte und fiel der Länge nach hin. Jetzt musste nur noch eine Tür geöffnet werden. Kommissar Lehmann lächelte, während er den kalten Lauf einer Pistole an der Schläfe spürte. Einer der Wächter hatte ihn erwischt. „Jetzt hier rein, Bursche!“, triumphierte dieser und schloss eine Tür auf, um Hans Lehmann einzusperren. Da waren sie alle: die vermissten Wissenschaftler und mitten unter ihnen sie, Alice. Er erkannte, dass sie noch einen kleinen, einen letzten Impuls benötigte, und sie wäre wieder das, was sie immer gewesen war. Etwas öffnete sich in seinem Herzen, ein Punkt aus Licht flog – unsichtbar für die anderen – in Alice hinein. Einen Augenblick erstarrte sie, dann sah sie die Welt wieder mit erwachten Sinnen. Sie rippte und der Wächter fiel um.

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte Alice zu Hans Lehmann.


Eine Irre, dachte Philip, eine Irre also. Diese verrückte schien über telepathische Fähigkeiten oder Ähnliches, zu verfügen. Diese Durga, Karen – wie auch immer – hatte wahrlich ein übles Spiel mit ihm getrieben! Alles war aus einer psychotischen Phase entstanden. Ein Aufenthalt in der Nervenklinik, das war seine Vergangenheit gewesen, nicht die Tätigkeit in einem Institut der ESA. Nur ein Teil in diesem Puzzle, das er zusammenlegen wollte, stimmte nicht: die Spinne! Die Holzspinne, die sie gebastelt hatten, sah dem Ding aus den TV-Berichten verdammt ähnlich. Diese Berichte wurden aber allesamt später veröffentlicht. Gewiss konnte es sein, dass sie beide, er und die Irre, im Labor verrückt geworden waren. Vielleicht wegen eines Experimentes mit feinstofflichen Raumschiffen. Und was, wenn die Regierung die Wahrheit über diese gefährlichen Außerirdischen sagte? Hatten diese Europabewohner so sehr mit der Realität herumgespielt, dass sie beschädigt wurde. Eventuell würde er nie wissen, was die Wirklichkeit war, weil es keine mehr gab, weil nichts existierte, an das er sich festhalten konnte. Was, wenn die Welt allein aus verdichteter Information bestand, aus die der jeweilige Beobachter seine Realität herauslas? Die meisten Menschen mochten über eine gewisse Bandbreite der Wahrnehmung verfügen, würde sich diese erweitern, sagte er sich, könnte man eine gänzlich andere Wirklichkeit wahrnehmen. Die Folge davon wäre unter Umständen, dass der Wahnsinn einen packte. Ihm schauderte. Etwas Fremdes schien in ihm aufzutauchen, bereit, ihn zu verschlingen. Ein Abgrund in dem seine Persönlichkeit stückchenweise hineinpurzelte. Im selben Augenblick bemerkte er eine Gestalt, zehn Meter von ihm entfernt, sie stand auf der Straße und beobachtete ihn. Sie trug einen schwarzen Anzug, ihr Gesicht wirkte maskenhaft, die Augen wirkten wie Glasperlen.

Philip wurde von der Seite angerempelt und fand sich unversehens an der nächsten Straßenecke wieder. „Was war das?“, fragte er überrascht.

Durga, Karen, wer immer sie war oder was immer sie sein mochte, sie lief an seiner Seite und erklärte: „Die Welt hat viele Löcher und Tunnel. Normalerweise übersieht man sie, aber wenn man sie bemerkt, kann man durch sie hindurchgehen. Der Mann, den du gesehen hast, ist ein gefährliches Wesen. So lange, wie du dich nicht erinnern kannst, hast du keine Chance, dich zu wehren. Selbst deine künstlichen Erinnerungen wurden manipuliert.“

„Meine künstlichen Erinnerungen?“, fragte Philip verzweifelt. Unter normalen Umständen hätte er die Bemerkung einer Verrückten kaum beachtet. Der Mann aber, der so seltsam geschaut hatte, war real. Wie aus dem Nichts stand der Fremde neben ihnen. Philip verspürte einen kraftvollen Stoß. Um ihn herum lag ein menschenleerer Strand. Einige Möwen glitten auf dem Wind. Die Wellen des Meeres rollten vor und zurück. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Eine Gestalt materialisierte sich vor seinen Augen: Es war der Mann im schwarzen Anzug.

„Wo ist sie?“, wollte Philip wissen.

„Ich habe sie durch einen anderen Tunnel geschubst. Als sie drin war, habe ich ihn geschlossen“, sprach der Fremde betonungslos.

„Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass sie zwischen zwei Augenblicken festsitzt“, erklärte der unheimliche Kerl. „Sie wird uns nicht stören“, fügte er kalt lächelnd hinzu.

„Sie sind wohl nicht vom IES oder dem BND oder einer anderen Spionageorganisation?“

Der Fremde schüttelte den Kopf. „Und ich bin auch keiner von den Terroristen mit den seltsamen Fähigkeiten, einer von diesen Infizierten. Ich bin hier, weil du dich – Sie sich zu erinnern beginnen. Das darf nicht geschehen. Sie müssen aufgehalten werden. Sie sind eine Gefahr. Sie sollten sich von mir behandeln lassen. Ich beende Ihr Leid, Ihre Zweifel. Ich implantiere Ihnen neue Erinnerungen. Ich habe das erste Implantat überschrieben, somit waren Sie keine Gefahr mehr. Aber dann tauchte sie auf. Sie hat alles verdorben. Ich behandele Sie nun und Ihr Leben wird wieder gut. Sie nehmen regelmäßig Ihr Kratom, schauen sich Videos an, essen Ihre Kekse und werden alles vergessen haben, was Sie aufregen könnte.“

Philip riss fassungslos die Augen auf und schrie: „Was haben Sie mit mir gemacht?“

„Ich habe nichts verändert. Das Implantat haben Sie selbst mitentworfen. Es sollte nie die alten Erinnerungen vollständig verdrängen, sondern eine Erleichterung sein, um besser mit Ihrer falschen Identität leben zu können. Ich habe die implantierten Erinnerungen nur verstärkt, sodass sie alles andere überdecken konnten. Leider ist dabei etwas schief gegangen. Sie wurden labil. Bei Alice hat es besser geklappt. Bis jetzt zumindest.“

„Stimmt das mit dem Infizieren? Ich habe Alice infiziert und ihr diese Kräfte gegeben.“

Der blasse Mann winkte ab. „Sie haben Sie nicht infiziert. Aber egal vergessen Sie alles, es spielt keine Rolle mehr. Sie werden in ein tiefes Loch fallen, herauskriechen und ein anderes Leben beginnen, eines mit frischen Erinnerungen. Keine Angst, es tut nicht weh. Sie werden einen Moment der Verwirrung erleben, danach sind Sie ein neuer Mensch.“

„Und Karen? Was soll aus ihr werden?“

„Nun ja, eigentlich wäre sie ja recht gut aufgehoben, so eingekeilt zwischen zwei Augenblicken; aber angesichts dessen, dass wir einmal Freunde waren, bevor sich unsere Ansichten auseinanderentwickelten, könnte ich die gleiche Prozedur bei ihr anwenden. Eine neue Erinnerung, eine neue Identität. Es ist mir möglich, die Dinge so zu arrangieren, dass Sie sich beide wieder begegnen, falls Ihnen daran etwas liegen sollte“, sagte der Fremde.

Philip nickte kraftlos. „Wenn Sie meine Erinnerungen manipulieren können, sagen Sie mir, welche Erinnerungen sind echt?“

„Immer diese Fragen! Es spielt keine Rolle, alles wird gut“, sprach es aus dem Mann, der jetzt seine Hände ausstreckte und sie Philip auf den Kopf legte.

„Sie sind nicht von der Erde, nicht wahr?“


Philip lief am Strand entlang, die Möwen sahen aus wie bewegliche Zeichen einer fremden Schrift auf blauem Pergament. Das Meer rauschte. Er liebte es, Spuren in den Sand zu setzen. Er ging zum Wagen, wollte zurück in die Stadt, zu seiner kleinen Detektei.

Um die Mittagszeit erreichte er sein Büro. Eine Kundin hatte sich angemeldet. Er räumte flüchtig den Schreibtisch auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Es läutete. Die Klientin betrat das Büro. Sie beide hatten schon miteinander telefoniert. Ihr Mann war verschwunden oder so. Er bat ihr einen Platz an, dann musterte er sie sorgfältig, wobei er ihr ein wenig zu lange ins Gesicht schaute.

„Stimmt etwas nicht, oder warum gucken sie so?“, fragte die Klientin.

„Nein, nein, ist alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich wäre Ihnen schon mal begegnet.“

Sie lachte auf. „Hätten sie mir das auf der Straße gesagt, würde ich es für eine ziemlich fantasielose Art ansehen, mit mir ins Gespräch zu kommen. Aber Sie sind mit mir ja schon im Gespräch. Sie wissen ja, wie das ist mit den Gesichtern. Man sieht zu viele davon. Etliche ähneln sich. Ich glaube kaum, dass wir uns je begegnet sind.“

„Gewiss, Sie haben recht. Frau Karen Durga, nicht wahr? Ich habe mir Ihren Namen notiert. Seltsamer Nachname: Durga. Ist das der Name ihres Mannes?“

„Ich mag den Namen auch nicht, es ist mein Mädchenname. Wir lebten getrennt. Er hat sich eine mickrige Wohnung genommen. Schriftsteller ist er. Zumindest hat er das von sich geglaubt. Ich habe ihn nie etwas schreiben sehen. Vielleicht war er auch ein Maler, der nie ein Bild zustande bekommt. Wissen Sie, er gehört zu den Künstlern, die kein Werk hervorbringen. Wer weiß, ob das nicht die Besten sind? Geld springt dabei allerdings nicht raus. Erst gab es da noch seine Erbschaft. Irgendwann wurde die natürlich weniger. Ich habe allerdings einen Job. Wenigstens einer, der was verdient in der Familie. Ich arbeite als Krankenschwester. Bin in der Psychiatrie tätig. Ich kann Sie bezahlen, kann mir aber nicht leisten, dass Sie monatelang herumsuchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir redeten immer vorbei aneinander, er und ich. Wir liebten uns, gewiss, ja – wir liebten uns. Aber das bedeutet ja nicht, dass man miteinander leben kann. Deswegen unsere kleine Trennung, auch um unsere Liebe nicht zu töten. Sie mögen das seltsam finden. Wir fanden das nicht seltsam. Er heißt Philip, genau wie Sie. Ist das Leben nicht voller Zufälle? Er hauste in dieser mickrigen Wohnung. Er nahm so ein Zeug ein, so was wie Opium, Kratom oder so. Wahrscheinlich hat er nicht mehr getan als das. Eben ein Künstler, einer, der sein Werk nicht beginnen kann, weil sein Werk einfach nichts ist. Verstehen Sie? Ich habe das auch lange nicht begriffen. Als ich ihn nach einiger Zeit wiedergesehen habe, hat er mich nicht mehr erkannt. Er hatte Probleme mit dem Gedächtnis. Mag sein, dass es an den Drogen lag. Aber das wollen Sie bestimmt nicht wissen.“

„Doch reden sie nur. Jede Nebensächlichkeit kann bedeutsam sein“, ermunterte Philip.

„Er lebte so vor sich hin und wurde seltsam. Er musste zur Therapie. Oft erkannte er nicht einmal mehr mich. Irgendwie erkannte er mich, wusste aber nicht recht, wer ich bin. Er hatte unsere Vergangenheit vergessen, erinnerte sich aber an die letzten Wochen. Ich drängte ihn, mit Professor Pull zu sprechen. Der war mein Chef in der Klinik, damals. Er sagte, er sei verrückt. Nicht der Professor sagte das über Philip, sondern Philip über Professor Pull. Ich glaube, mein Mann hat Dinge gesehen, die es nicht gab. Er hat sich verfolgt gefühlt, verfolgt von Agenten des Staates. Jedenfalls ist er jetzt fort, hat seine Wohnung verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt.“

Philip machte Notizen und blickte auf. „Irgendwelche Verwandten?“

„Er hat von seiner Schwester erzählt, Alice. Ich habe sie aber niemals kennengelernt. Es könnte sein, dass es sie nicht gibt. Er hatte viel Fantasie. In der Raumfahrttechnik arbeitet sie wohl. Er sagte, sie hat eine Tochter. Geschieden soll sie auch sein. Mehr weiß ich darüber nicht.“

„Gut, die Adresse Ihres Mannes brauche ich auch noch.“

Sie überreichte ihm einen Zettel. „Alles schon vorbereitet, bitte sehr!“

„Dann werde ich sehen, wie weit ich komme. Ich melde mich dann bei Ihnen“, sagte Philip und verabschiedete Karen Durga.

Sicherlich hatte sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben, sagte er sich, aber das würde zu nichts führen. Die Polizei hatte genug mit den vielen Unruhen zu tun und den Protesten gegen die Regierung. Also blieben Fälle wie dieser für kleine Schnüffler übrig, wie er einer war. Somit konnte er wenigstens seine Miete bezahlen.