Montag, 24. Januar 2022

                                     TEIL 14



Die Pläne für den Rover lagen fertig in der Schublade. Dieses kältefeste Fahrzeug bedeutete viel für die Mission der ESA, mit ihm könnte man den Mond Europa genauer untersuchen, als es bisher möglich gewesen war. Philip bekam eine Assistentin zur Seite gestellt. Sie hieß Karen. Obwohl sie ein Mensch war und wie alle ihrer Art einen gewissen Wahnsinn in sich trug, erschien sie ihm sehr umgänglich. Als er sie eines Tages ansah, empfand er eine tiefe Zuneigung zu ihr. Er wusste nicht, inwieweit seine implantierten Erinnerungen daran beteiligt waren; jedenfalls kam er ihr einmal sehr nahe, und er hätte sie beinahe geküsst. Er stoppte aber seine Bewegung, da ein Impuls in ihm sagte, dass der Ort an dem sie sich befanden, nicht der geeignetste dafür sei, denn sie waren im Labor bei der Arbeit. Bald holte er den aufgeschobenen Kuss nach. Sie schmeckte nach Weibchen, obwohl sie ein Mensch war. Die in der Tiefseekolonie eingepflanzten Erinnerungen und sein humanoider Körper hatten ihn menschlicher werden lassen als geplant. Sie sollte die Erste sein! Er wusste dank seiner angeborenen Fähigkeiten, dass Professor Pull im Kellergeschoss einen Raum für sich reserviert hielt, in dem er private Bastelarbeiten durchführte. Ein Umstand, den Philip nutzen wollte, um eine besonders schöne Form der Infektion für Karen zu kreieren. Gewiss, er hätte einfach ein Leuchten aus seinem Herzen aussenden können. Es wäre sanft in ihren Geist eingesickert, hätte dort alle Irrtümer hinweggeschwemmt, bis genug Raum entstanden wäre, damit das Licht der Erkenntnis sich in ihrer Seele hätte ausbreiten können. Aber sie war die Erste auf dieser Welt, die er infizieren würde, die dem Irrsinn entkäme, unter dem hier alle litten. So führte Philip Karen in den Kellerraum, in dem Professor Pull für gewöhnlich mit leidenschaftlich Holzspielzeug für seine Enkel zusammenschraubte. Philip musste sich konzentrieren. Es funktionierte alles recht gut. So baute er im geheimen Raum des Professors für Karen ein Szenario auf, das ihr suggerierte, es würde sich dort ein feinstoffliches Raumschiff befinden, mit dem man quer durch den Weltenraum reisen könnte. Natürlich wäre keine Kreatur fähig gewesen, dergleichen zu erschaffen, wenn sie nicht rippen konnte. Aber das wusste Karen nicht. Er wollte, dass sie sich ein wenig so fühlen würde, wie bei den großen Festen auf dem Mond Europa, bei denen man ins Herz des Universums reiste. Bald saßen sie in einem Raumschiff. Und damit sausten sie bis zum Zentrum des Universums. So erlebte es Karen zumindest. Philip hatte einfach ihren Geist mit sich gezogen, als er immer tiefer in das Zentrum hineinschaute, das in ihm leuchtete und den süßen Duft von Zeit- und Raumlosigkeit verströmte. Als die Reise, die in Wahrheit nicht durch das Universum, sondern nach innen geführt hatte, zu Ende war, verankerte sich die Infektion tief in Karens Geist. Von diesem Augenblick an nannte sich jeder ihrer Atemzüge Freiheit.

Sie lächelte. Er wollte von ihr wissen, warum sie so fröhlich aussah. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie, „aber es ist mir so, als würde Großartiges geschehen.“

„Das mag sein“, stimmte er ihr zu, „es ist möglich, dass etwas Wunderbares passieren wird. Nein, es ist nicht nur möglich, es ist sehr wahrscheinlich!“

Und so kam es auch, Schritt für Schritt durchbrach Karens Geist seine Begrenzungen. Sie löste sich immer mehr von Meinungen und Vorurteilen; sie verzichtete auf Rechthaberei; sie hörte damit auf, in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu leben. Sie lebte einfach. Alles begann zu fließen, durfte kommen und gehen, ohne dass sie etwas festhalten oder wegdrücken musste. Ihr Körper bewegte sich geschmeidiger als zuvor und ihr Lächeln wandelte sich von einer Höflichkeitsform zum Lächeln derer, die das Meer der Seligkeit kennen.

„Du wirkst in letzter Zeit recht zufrieden“, bemerkte er wie nebenbei, als sie an der Kamera des Europarover arbeiteten.

„Es ist seltsam“, sagte sie, „etwas hat sich verändert: Es ist so, als sei ich geboren worden, und wäre zuvor tot gewesen. Ich meine: Als hätte ich nur geglaubt zu leben. Erst habe ich kein Ich mehr in mir gefunden, dann kam es mir vor, als hätte ich keinen Körper, sondern als befände sich alles, auch der Körper, in mir. Die Grenzen, sie sind geschmolzen. Aber das ist nicht mehr wichtig. Das ist tot, weil ich darüber reden kann. Alles, was man benennen kann, ist Staub im Wind.“

Sie stand vor ihm und füllte den Augenblick mit Schönheit aus. Die Welt waberte wie eine zarte Energiewelle. Er liebte diese Erdbewohnerin. Sie war kein gewöhnlicher Mensch mehr, keine von den bedauernswerten Kreaturen, die sich in ewigen Fragen und Kämpfen wanden, angetrieben von Gier, von Angst. „Karen“, sprach er und umfasste mit seinen Händen ihre Schultern, „du hast einige Irrtümer losgelassen, dennoch warten noch viele Wunder auf dich. Nach und nach wirst du verstehen – nach und nach.“

Einmal ließ er absichtlich einen Teller fallen. Sie sah erschrocken, wie der Teller mitten in der Luft stehen blieb. Einige Sekunden später fiel er, der Schwerkraft nachgebend, zu Boden und zerbrach.

„Du hast grade das erste Mal gerippt“, sagte Philip, „instinktiv gerippt. Bald wirst du lernen, es bewusst zu tun.“

Mit Philips Hilfe hatte sie bald raus, wie man wirklich gut rippt. Auch konnte sie andere infizieren. Das größte Wunder aber war und blieb ihre Liebe. Es kam Philip vor, als wäre sein ganzes Leben auf dem Mond Europa ein Traum gewesen, und die Gegenwart, Karen, er und die Erde, würden die einzige Realität sein. Aber er wusste auch, dass dieses Gefühl daher rührte, weil seine Pseudoerinnerungen sich mit den echten Erfahrungen vermengten.

Die Monate vergingen, seine Schwester Alice gebar eine Tochter. Ein Menschenkind. Zuvor hatte man ihren Körper noch einmal auf der Zellebene nachbessern müssen, damit auch alles klappte. Sie hatte sogar geheiratet, einen von der Erde. Inzwischen wurden immer mehr Menschen infiziert und eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Niemand vermochte aufzuhalten, was geschah. So konnten immer mehr Erdenbewohner ihre Verblendung abschütteln und als freie Wesen ihrer Bestimmung folgen.

Philip schaute tief in den Raum hinein, in dem die Fäden des Schicksals sich verflochten, und er erkannte, wie der Widerstand auf der Erde wuchs. Viele sträubten sich gegen ein Leben in Wahrheit und im Glück. Dieser Widerstand bezog seine Kraft aus den Ideologien, welche die Regierungen und die Konzerne den Völkern verordnet hatten, per Gesetz oder indem man sie manipulativ einlullte. Man könnte, sagte sich Philip, den Fortschritt beschleunigen und die Machtstrukturen verändern. Selbstverständlich wollten die Mächtigen an ihrer Kontrollgewalt festhalten, wobei so getan wurde, als wäre es das Beste für alle. Es stand Angst dahinter, die entsetzliche Angst, die hehren Werte der Gesellschaft, zum Beispiel die Gier und der Egoismus, könnten bald nicht mehr bestehen. Mit dem Druck, der auf die Menschen ausgeübt wurde, könnte man arbeiten. Druck erzeugt Gegendruck. Der Widerstand würde wachsen. Das fehlende Vertrauen in die bestehende Ordnung würde den Geist der Menschen in einen labilen Zustand versetzen. Damit wären viele offen für die Infektion. Es galt das Misstrauen zu schüren, zugunsten einer besseren Zukunft.

Hinter verschlossenen Augenlidern sah er, worauf er gehofft hatte: die Lösung – ein achtbeiniges Ding – einen modifizierten Arbeitsroboter, wie man ihn auf dem Meeresgrund von Europa einsetzte. Er würde ihn bauen und dann … Als Philip darüber nachsann, drang ein gelblicher Nebel in seinen Geist ein. Alles verwischte, Gedankenketten zerrissen und die einzelnen Gedanken zerstreuten sich wie Perlen, die auf einem Parkettboden fielen.

„Chrochro, bist du das?“, rief Philip.

„Alter Freund. Wir haben uns verändert. Sieh nur, wie wir aussehen: Wir sind Landtiere geworden und bewegen uns träge ohne Flossen fort. Ich habe diese Form kurzfristig angenommen. Es musste sein, zum Wohle Europas und seiner Kolonien. Dir schwirren mittlerweile viele Menschengedanken im Kopf herum, dazu gesellen sich die Erinnerungen, die man dir zur besseren Anpassung eingepflanzt hat. Du scheinst zu wenig auf die Fäden des Schicksals zu achten; du hättest ansonsten gesehen, dass sich unsere Wege hier kreuzen. Du bist unachtsam geworden. Bald wirst du diese Begegnung vergessen haben. Ich manipuliere grade deine Erinnerungen. Du wirst das, was ich dir in deinen Kopf einsetze, für real halten und demnächst meinen, du wärst immer ein Mensch gewesen, wirst deine Ziele aus den Augen verlieren. Selbst die Erkenntnis der Wahrheit ist bald nicht mehr für dich als ein ferner Traum. Auch das Rippen wirst du vergessen. Deine richtige Erinnerung schmilzt dahin.“

„Seit wann manipulieren wir die Erinnerungen anderer gegen ihren Willen?“, fragte Philip.

Auf Chrochros Gesicht, blass und hager, zeigten sich keine Emotionen. „Manches Mal steht das Wohl vieler über den Rechten einzelner. Gewisse Kreise der Regierung Europas betrachten die Entwicklung auf der Erde kritisch. Die Kolonie in der Tiefsee beansprucht immer mehr Unabhängigkeit. Sie verbitte sich sogar die Einmischung von oben, also von den Mitgliedern des obersten Rates auf Europa, heißt es. Natürlich bekennt sich die Kolonie weiterhin zur Kooperation bereit und sieht sich als Teil unseres Volkes. Der Rat der Kolonie deutet allerdings die Schicksalsfäden der Erde anders als die Regierung Europas. So weit, so gut. Wir sind bekannt für Toleranz und diplomatisches Feingefühl. Dein Vorhaben aber erscheint nicht unbedenklich. Anders gesagt, ich erkenne darin eine gewisse Gefahr. Würde es allein der Erforschung der Menschheit dienen, fände niemand ein Problem darin. Allerdings bist du dafür eingetreten, aktiv Veränderungen herbeizuführen. Das bedeutet nichts anderes, als diesen Wesen eine Macht zu geben, die sienur schwer kontrollieren können. Mit anderen Worten: Auf Europa sehen gewisse Kreise in der Erde eine künftige Bedrohung. Ich habe die nicht einfache Aufgabe übernommen, diese Bedrohung abzuwenden, bevor sie ihre volle Kraft entfalten kann.“

Philip blickte Chrochro fest in die Augen. „Wir geben ihnen keine Macht, sie ist bereits in ihnen, wie sie in allem ist. Ich habe nur geholfen, den Schleier zu lüften, der ihnen den Blick auf ihr Erbe verhüllt. Irgendwann würden sie es auch aus eigener Kraft schaffen. Es ist der Faden ihres Schicksals, dass es gerade jetzt geschieht.“

„Ach, komm mir doch nicht mit philosophischen Allgemeinplätzen. Gewiss, alles folgt seiner Schicksalslinie, aber verschiedene Linien befinden sich nicht immer in einer harmonischen Beziehung; sie überkreuzen und verheddern sich, bis daraus eine weitere Linie entsteht, die der großen Harmonie des Universums folgt.“

„Du glaubst, du hast eine Mission“, stellte Philip verständnisvoll fest.

„Vielleicht, eine Mission, die Europa schützt und einiges an Unglück verhindern kann.“

Philip meinte, er könne keinen gefährlichen Faden erkennen.

„Es ist einer dieser spontanen Fäden. Ohne Vorwarnung kriechen sie aus dem Zentrum wie Würmer heraus“, entgegnete Chrochro.

„Spontane Linien – eine Theorie längst überholter quantenmechanischer Modelle!“

„Wie dem auch sein mag“, fuhr Chrochro fort, „alles wird gut mein Freund. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen. Wir alle spielen unsere Rollen im kosmischen Drama.“

„Ich weiß, was du sagen willst: Wir haben Krieg. Europa befindet sich im Kampf mit seiner Kolonie auf der Erde. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen. Es wird gewiss keine Toten geben. Nur die Erinnerungen sterben, das innere Auge wird sich trüben, man lebt als Blinder unter Blinden.“

Chrochro versuchte, seine Stimme sanft klingen zu lassen: „So ist es üblich auf diesem Planeten: Man lebt vor sich hin und er kennt das Licht nicht. Alles wird gut. Es kommt kein wirklicher Krieg. Ich beende die Anfänge der Zwietracht. Du schläfst gleich ein und erinnerst dich nicht mehr an dieses Gespräch. Dein Leben sinkt Stück für Stück auf den Grund des Vergessens. Es wird nicht wehtun. Lebe wohl mein Freund!“

„Lebe auch du wohl“, sprach Philip, schloss die Lider und fiel in einen tiefen Schlaf.


Als Philip erwachte, wusste er noch, dass es wichtig war, andere zu infizieren; er wusste noch, woran er arbeitete und dass sein Name Philip lautete; auch spürte er das Zentrum des Universums in seinem Herzen; er spürte die Schicksalslinie weiterhin, nur sein Leben auf Europa verblasste immer mehr.

Bald hielt er sich für einen Menschen, für einen, der zwar klar sehen und rippen konnte, aber ansonsten ganz normal war. Als Karen eine Anspielung darauf machte, dass er ein Außerirdischer sei, hielt er das für einen Witz. Ob es Außerirdische überhaupt gab, sollte ja erst untersucht werden. Dazu diente das Europaprojekt der ESA.

Einige Tage später meldeten sie sich dann – die Außerirdischen. Diese Wesen waren von weit hergekommen. Er konnte sie innerlich sehen, spürte, dass sie ihn unterstützen würden. Sie stammten vom Jupitermond Europa. Er blickte tief in den Raum hinein, in dem diese komischen Linien zitterten, und dort erkannte er, was zu tun war. Eine der Linien gehörte zur Erde. Es war die Lebenslinie des Planeten. Und zwischen all dem zitterte ein unscheinbarer Faden. Das war sein Schicksal, sein kleines zerbrechliches Leben. So nichtig es schien, so ahnte er doch: Es würde eine wesentliche Rolle im Geschick der Welt spielen. Er konstruierte in einem geheimen Raum des Institutes eine achtbeinige Erkundungssonde. Karen und Alice halfen dabei. Dieses Gerät, das wusste er, würde ein wichtiges Teil in einem kosmischen Puzzle sein. Nachdem sie die Spinne gebaut hatten, schwand sein Gedächtnis weiter, bis er nichts mehr vom Zentrum des Universums ahnte, auch nichts vom Rippen. Immer größere Erinnerungslücken klafften in ihm. Verwirrung fraß sich durch seinen Geist. Bald war er nicht mehr fähig, am Institut zu arbeiten. In der Folge zeigten sich bei ihm psychische Auffälligkeiten, Panikattacken und Unfähigkeit, sich an die wesentlichsten Dinge zu erinnern.

Jetzt sah er auch noch den Rest vor seinem inneren Auge: Sich selbst als Kratomabhängigen, der nicht mehr wusste, wer er war; er sah, wie er seine verschollene Schwester suchte, wie er Karen begegnete, aber sie nicht erkannte. Dann kam der böse Schluss mit Chrochro, der, bevor die Erinnerung wiederkommen konnte, löschte, was zu löschen noch übrig geblieben war.


Während Philip dalag und sich all dessen besann, sagte Karen zu Alice: „Er hätte es gewiss geschafft. Ich habe versucht, ihn vorsichtig an seine Erinnerungen heranzuführen. Sogar einen kleinen Bericht habe ich für ihn geschrieben, über seine Arbeit am Institut. Natürlich ohne zu erwähnen, dass er kein Mensch ist. Andeutungen habe ich gemacht, feine Andeutungen, damit Erinnerungen aufsteigen können, ohne dass er davon einen Schock bekommt. Aber dann wurde alles zunichtegemacht.“

Alice nickte. „Ja, alles wurde von Chrochro boykottiert, angeblich im Dienste der Regierung von Europa. Damals, als du mich angerufen hast, mir gesagt hast, wie es Philip geht, war ich schon gewarnt. Wenn jemand, der von Europa kommt, sich für einen Menschen hält, ist das wirklich alarmierend! Ich habe in den Raum mit den Schicksalsfäden hineingeschaut, da wurde mir die Gefahr bewusst. Als Chrochro mich angriff, war ich vorbereitet. Ich hatte mir einen Schutz gerippt, eine geistige Mauer, die sich um meine Erinnerungen zog. Aber Chrochro ist stark. Auch ich wurde geschwächt, konnte nicht mehr rippen. Ab und an hielt ich mich für einen Menschen. Philip hat im Gegensatz zu mir die volle Dosis abgekriegt. Ich weiß nicht, wie gut er das überstehen kann.“

„Wir können nur hoffen, obwohl die Hoffnung die Schicksalsfäden nicht neu ordnen wird. Ich war voller Zuversicht, als ich Philip die Adresse von einem deiner Kollegen per Mail habe zukommen lassen, damit er eine Spur finden konnte, einen Weg zu dir. Ich habe geglaubt, ihr hättet noch eine innere Verbindung. Du warst verschwunden, Philip wusste nicht mehr, wer er ist. Ich hatte Angst. Dich konnte ich nicht orten in meinem Geist. Chrochro hat das wohl abgeblockt.“

„Gewiss“, sagte Alice, „gewiss hat er das. Nach seinem Angriff auf mich war ich wehrlos, als sie unser Team entsorgten. War nur noch ein schwacher Mensch. Chrochro hatte vorübergehend Teile meiner Pseudoerinnerung derart verstärkt, dass ich sie für meine wirkliche Vergangenheit hielt. Meine Rolle als Wissenschaftlerin funktionierte somit weiterhin reibungslos.“

„Ja, deine Rolle funktionierte noch Alice. Bei Philip ist alles zusammengebrochen, selbst seine Erdenidentität zerbröckelte nach und nach. Als ich merkte, dass es dich erwischt hatte, mit was auch immer, denn ich wusste ja nichts von diesen Chrochro, habe ich dich sogleich infiziert. Ihr hattet gesagt, auf Europa benutzt man das Infizieren als Medizin. Aber du wurdest nicht wieder gesund. Bei Philip hat es auch nicht gewirkt. Das heißt, es hat nicht wirklich versagt, zumindest nicht bei dir, es brauchte allerdings einiges an Zeit, um zu wirken. Dann wurdest du auch noch zu allem Überfluss entführt.“

„So war es“, bestätigte Alice. „Wir hatten im Auftrag der ESA die Spinne untersucht, die Batterie isoliert und sie als außerirdisches Objekt erkannt. Das hätte die Propaganda gut benutzen können. Endlich ein Beweis für exoteristisches Leben, für eine Gefahr, gegen die man sich mit allen Mitteln rüsten muss. Das aber wurde von unserer zweiten Entdeckung zunichtegemacht. Die Kamera des außerirdischen Fundes besaß optische Linsen aus irdischer Produktion. Somit würde immer der Verdacht bestehen bleiben, dass es sich bei der Spinne um kein außerirdisches Objekt handelte. Offenbar waren die verantwortlichen Regierungsstellen nicht kreativ genug, um unser Werk als gemeinsame Produktion von irdischen Terroristen und außerirdischen Aggressoren zu verkaufen. Jedenfalls passte ihnen unsere Entdeckung nicht in den Kram. Wissenschaftler gelten als unzuverlässig, was ihre Eigenschaft als Geheimnisträger betrifft. Nicht immer gelingt es, aus ihnen gehorsame Roboter zu machen. Man wollte die Spinne als zweifelsfrei außerirdisches Produkt darstellen und als Beweis für eine fremde Intelligenz nutzen, der freilich nicht zu trauen ist. Darauf gründeten sie ihre Propaganda. Sie mussten nur noch die Aliens als gefährlich darstellen, schon konnten sie den Überwachungsstaat guten Gewissens weiter ausbauen. Man sehnte sich nach den Aliens, nach der ultimativen Rechtfertigung, die Bevölkerung mit allen Mitteln unter Kontrolle zu halten, damit diese sich nicht irgendwann dreist gegen ihre Führer erhebt. Jede Kritik an den Verhältnissen ließe sich als von Aliens inszeniert darstellen. Um das nicht zu gefährden, hat man das Forschungsteam, also uns, entsorgt. Wir, die wir an dem Projekt gearbeitet haben, verschwanden einfach. Man hat uns an einen ablegenden Ort gebracht und eingesperrt. Gefangen von Menschen, die nicht ahnten, wer ich wirklich bin, erinnerte ich mich schemenhaft an ein anderes Leben, eines, das ich auf Europa geführt hatte. Es war wie ein Traum, was mir da in den Kopf kam, nichts Reales. Dann tauchte ein Polizeikommissar auf, Hans Lehmann – ein Infizierter, der gerade zu seiner Kraft gefunden hatte. Seine Gegenwart vollendete meine Genesung. Ich konnte mich wieder erinnern, wer ich war: ein Kind Europas. So bin ich ausgebrochen. Keine Mauern und keine Gitter können einen freien Geist aufhalten.“

„Dieser Chrochro hat also nachlässig gearbeitet?“

„Was dich betrifft Karen, so hat er dich nicht als große Gefahr gesehen. Du bist nur ein Mensch für ihn gewesen, wenn auch ein infizierter. In meinem Fall hatte er mit dem Faktor Hans Lehmann nicht gerechnet. Manches Mal entgehen einem Schicksalsfäden. Das wahre Sehen ist nicht so einfach. Je tiefer man blickt, umso unschärfer werden die Konturen. Letztlich müssen wir so oder so dem großen Schicksalsfaden folgen, der aus unzähligen winzigen Fäden geflochten ist.“

„Das müssen wir wohl“, stimmte Karen zu. Sie sah Alice nachdenklich an.


Philip, der eigentlich Philphil war, ein Sohn Europas, schwebte in einem uferlosen Raum. Unter sich erblickte er seine Vergangenheit. Würfel sah er aufgetürmt, sie bestanden aus einzelnen Erinnerungen. Es waren Datenblöcke, leblose Informationen. Er blickte auf und erkannte über sich die tausend Fäden des Schicksals, rasend verflochten sie sich miteinander und trennten sich wieder. Weiter und weiter schaute er in die kommende Zeit hinein.

„Die Zeit ist eine Illusion, eine trügerische Tänzerin. Sie bewegt mit ihrer Hand unzählige Schleier, ihre Flossenarme verrenkt sie derart, dass niemand wissen kann, wohin sie genau schwimmt“, hörte er es telepathisch sprechen.

Er schaute sich um: Neben ihn schwebte Chrochro. „Da magst du recht haben“, sagte Philphil. „Weißt du noch, als wir jung waren und uns die Zukunft wie ein endloses Wunder erschien?“

„Ja, ich weiß mein Freund, aber nun ist uns beiden klar, dass die Zukunft nichts weiter als ein Traum ist, ein Spiel für Toren“, sprach Chrochro.

„Der Traum gehört zum Ganzen dazu, sonst wäre es nicht das Ganze. Wir können keinen Flossenschlag auslassen, doch gleichzeitig rühren wir uns nie von der Stelle. Das ist paradox. Du weißt, was wahr ist: Wir sind unendlicher Raum, strahlendes Licht und eine Freude, die immerfort in ihr eigenes Herz hineinfließt.“

„Das ist wohl wahr Philphil. Wenn der Geist nicht dumme Spiele spielt, ist er frei und in sich selbst daheim. Immer wieder aber drängt es ihn, zu spielen, so entzweit er sich und erschafft die Zeit und mit ihr die Gegensätze. Es entstehen daraus Ideen und Meinungen. Beispielsweise darüber, ob man der Menschheit Wissen zukommen lässt und sie mit jener Macht beschenkt, über die wir verfügen. Manche mögen darin eine Gefahr erkennen. Wie einer der Dichter der Menschheit sagte:
Weh denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt' und Länder ein.“

„Und nun sind wir in diesem Raum, schauen auf das Schicksal, während es sich erfüllt.“

Sie flogen dem Zentrum des Universums entgegen. Ihre Schicksalsfäden verflochten sich und es schien, als würden sie miteinander kämpfen. Das Zentrum wartete geduldig, dann verschluckte es die beiden. Stille.

Eine Kugel formte sich und zerfiel in zwei Hälften: Quellen, aus denen Licht strömte. Das eine Licht aber war das Gegenteil des anderen. Wie das eine heiß war, war das andere kalt; das eine leuchtete hell, das andere glimmte dunkel und voller Geheimnis. Als die Quellen der Lichter zerbrachen, zersplitterten sie zu unzähligen Teilen, sodass sie den ganzen Raum ausfüllten. Diese Teile waren gleich Spiegeln, sie warfen das Licht, das sie ausgesandt hatten, als sie eines gewesen waren – und das immer noch im Raum funkelte – hin und her, das helle ebenso wie das geheimnisvolle. Diese Spiegelungen erschufen die Dinge. Die Dinge bildeten die Welt.

Als einst aus den Dingen Wesen hervorkamen, wussten diese alles über das Zentrum, über die Kugel, die zerbrochen war, über die Quellen und die Lichter. Als die Wesen sich aber zu viel mit den Dingen beschäftigten, vergaßen sie, was sie gewusst hatten. Erst als einige von ihnen unbequeme Fragen stellten und ihren Blick ins Innere der Welt versenkten, erwachte die alte Erinnerung aufs Neue.

Sonntag, 16. Januar 2022

                                                Teil       13

Jetzt blätterte sich im Buch der Erinnerung eine neue Seite auf, eine farbige, wunderschöne. Er sah ein Fest vor sich, es war eines der großen Feste auf Europa. Millionen Körper formten eine Spirale, die sich wild durchs Meer schraubte. Ein Spektakel aus Licht und Mustern. Gleichsam glühten unzählige Punkte auf, sie verbanden sich zu einem Netz, zu einem einzigen Geist, zum Geist von Europa. Der kollektive Wille schuf ein gigantisches Raumschiff, das bis zum Zentrum des Universums reiste, wo es sich freudig in das Nichtseiende-Sein stürzte, und tief ins Zentrum des Himmels eindrang. Dort verschmolz das Bewusstseinsschiff mit dem Weltherzen. Zeitlos ruhte es in ewiger Stille, heller strahlend als alle Sonnen.

Eine andere Erinnerung stieg auf: Fern der heißen Quellen schwebten die Weltendenker, dort wo die Kühle des Waassers einem aufs Gemüt schlug, dennoch den Geist erfrischte; dort wo kleine silberne Tiere mit durchsichtigen Flossen zitterten und in Schwärmen durch eine von Leuchtalgen bestrahlte bläulich grüne Dunkelheit tanzten. Philphil und sein Freund Chrochro hatten sich an diesem Tag zu einem Abenteuer aufgemacht, sie wollten die Weltendenker besuchen. Es gab an diesem Ort nicht viel zu sehen, außer etliche Nebelschwaden aus flimmerndem Plankton, der von der Strömung zu immer neuen Gebilden geformt und geknetet wurde. Die beiden Freunde blickten mit Ehrfurcht auf die Weltendenker. Diese alten Wesen trieben reglos in den tiefen Spalten des Ozeans dahin, während sie ihren Geist auf den inneren schöpferischen Prozess gerichtet hielten.

Das sind sie also, die Weltendenker, von denen es heißt, sie sind so weise, dass sie die Fäden des Schicksals weiter verfolgen können als jeder andere“, bemerkte Chrochro.

Hoffen wir, dass einer von ihnen zu uns spricht.“

Sie sind da äußerst eigen, heißt es, sie reden, wenn sie es für angemessen halten, und das ist selten.“

Ich frage mich, wie das geht, dieses erdenken von Welten. Was weißt du darüber Chrochro?“

Es soll wohl mehr ein Träumen sein als ein Denken. Wenn wir träumen, so wirkt das sich nicht direkt auf die Materie aus. Unsere Traumwelten bleiben hypothetisch. Ihre Welten aber realisieren sich. Auf fernen Planeten und Monden wird Wirklichkeit, was ihr Geist sich erspinnt. So sagt man zumindest.“

Philphil zappelte mit den Flossenarmen. „Aber es ist und bleibt doch ein Traum, der Traum der Weltendenker. Sicherlich, über einen geträumten Stein kann man stolpern, eine Traumgestalt kann man sehen. Hat diese Gestalt eine unabhängige Wirklichkeit, fühlt und denkt sie wie wir?“

Eine wirklich tiefe Frage! Alles ist Teil des jeweiligen Weltendenkers. Die erträumten Wesen sind nichts Eigenständiges. Sie sind nur die Masken des Träumers. Wenn sich aber der Träumer in seiner Traumwelt verliert, so erscheint ihm diese als einzige Realität. Ein geträumtes Wesen mag durchaus, wenn es sich verletzt, Schmerz empfinden, einen Schmerz, der immer schon im Träumer gesteckt hat, der sich ausdrücken und befreien will.“

Gut, aber wer spürt den Schmerz?“, fragte Philphil. „Wer hat den Schmerz in den Träumer gesetzt, wer träumt den Träumer?“

Chrochro pendelte im Wasser hin und her. „Der Träumer folgt dem Faden des Schicksals. Niemand träumt den Träumer. Die Weltendenker werden nicht von einem weiteren Weltendenker erdacht. Wir kämen dann ja zu einer endlosen Kette von Träumern, die Träumer träumen. Die Fäden des Schicksals bestehen einfach auch einer Energie, die vom Zentrum des Universums ausströmt, wie du ja weißt.“

Was ist dieses Zentrum wirklich?“, fragte Philphil, mit unermesslichen Wissenshunger.

Das Zentrum ist das, woraus die Fäden des Schicksals kommen“, erklärte Chrochro kurz und bündig.

Gut, lass uns nicht weiter grübeln, lass uns lieber einen der Weltendenker befragen, was die Zukunft uns bringt“, drängte Philphil.

Chrochro näherte sich vorsichtig einem der Weltendenker, der in sich versunken vor ihnen schwamm, und berührte scheu einen seiner Flossenarme. Langsam wandte der Weltendenker seinen Kopf den beiden Jungs zu. Eindringlich prüfend schaute er sie an. „Aha, wieder welche, die es nicht erwarten können, zu erfahren, wie die Zukunft aussieht! Es leben im Universum Wesen, die können nicht einmal ein wenig in die Zukunft schauen, wie es hier auf unserer Welt üblich ist. Ihr seid begnadet, aber das reicht euch nicht, ihr wollt mehr wissen, getrieben von unbändiger Neugier. Warum? Weil es euch an Vertrauen fehlt. Damit beginnt der Irrtum. Ihr seid noch jung, darum ist eure Schwäche geduldet. Wir Weltendenker setzen unendliches Vertrauen in allen unserem Geist entsprungenen Welten. Und auch die geschaffenen Welten können uns vertrauen; denn wir folgen den Fäden des Schicksals, nur sie bestimmen unsere Handlungen. Alle Fäden wurden von der Allmacht geknüpft. Das reicht, um zu vertrauen. Deshalb muss man auch nichts wissen; es reicht, zu sein. Für so manche wird das Wissen zum Gift, das Zwietracht bringt, wo Frieden herrschte. Unzählige Welten habe ich erträumt. Ich erblickte aufstrebende Planeten, deren Bewohner die besten Anlagen zeigten; oft aber blieben ihre Seelen blind, da ein jeder nur sich sah und seinen engeren Kreis. Man kämpfte und gewann dadurch an Stärke, die Kriege aber wollten nicht enden. Es blieben nur Trümmer übrig und trauernde Herzen. So erträumte ich sehende Seelen, sie sprachen die Wahrheit zu den ewig Kämpfenden. Manches Mal schlug man diese Mahner tot, oft hörte man auch auf ihre Worte, wenn man müde geworden war von all den Kämpfen und es allen zu ekeln begann, wegen des vielen Blutes und des Fleisches, das sinnlos verweste. Darum wisst: Kraft ohne Weisheit führt zum Untergang. Wahre Weisheit blickt über die Grenzen bis hin zum Herzen des großen Ozeans, in dem die Sterne schwimmen.

Noch seid ihr jung an Körper und Geist, das Leben ist euch ein leichter Rausch, auch ohne Weisheit. Bald schon wird der Ehrgeiz an euch nagen, er kommt nicht allein, sondern wird seine Gesellen mitbringen: das Wissen und die Macht. Mit solchen Gaben ist sorgsam umzugehen. Oft schadet die edelste Absicht und die Fäden des Schicksals verheddern sich. In der alten Zeit waren die Fäden harmonisch zu einem Seil geflochten. Alle Schicksale erfüllten sich, indem jedes Wesen zur Musik des Lebens tanzte, ein jegliches nach seiner Art. irgendwann kam der Gedanke in den Tanzenden auf, dass der Schicksalsfaden, an dem sie hingen, ihr Eigentum sei, mit dem sie machen konnten, was immer sie wollten. Jetzt begannen sie nach dem Faden zu greifen, zu ziehen und daran zu zerren, damit ihr eigener Wille sich durchsetze. Ja selbst nach den Fäden anderer Wesen langten sie aus, nach solchen, die ihnen im Wege schienen. Sie schoben sie frech beiseite, damit ihr eigener Faden mehr Platz bekäme für seine wirren Verwicklungen. Da alle so handelten, begann die große Verknotung. Je mehr Knoten entstanden, umso heftiger wurde gekämpft, damit man seinen Faden wieder entknoten konnte. Aber es funktionierte nicht. Das Gegenteil geschah: Die Fäden gerieten in ein größeres Durcheinander und daraus wuchsen Leid und Vernichtung. Bald wusste man nichts mehr von dem Seil, das aus all den Schicksalsfäden gebunden war. Man sah nur noch Fäden und kannte deren Bedeutung nicht mehr. Dennoch tauchten immer wieder Einzelne auf, die erkannten, dass alle Fäden der Welt Teil eines einzigen Seiles bildeten, des großen Fadens, der im Herzen des Sternenozeans begann und endete.

Haltet diese Weisheit in Ehren. Mehr müsst ihr nicht wissen. Und vertraut dem Unbekannten!“, so sprach der alte Weltendenker und schwieg. Gewiss hatte er begonnen, eine neue Welt zu träumen.

Nachdenklich verließen die beiden Freunde diesen Ort.


Eine weitere Erinnerung: Er sah Chrochro vor sich. Die Jugendzeit war vergangen. Sein Freund hatte eine vielversprechende Karriere bei der Regierung begonnen.

Lieber Philphil“, sagte Chrochro, „wir leben in aufregenden Zeiten. Man will wieder Neues entdecken. Ich habe gehört, dass du uns verlassen möchtest, um die Erdkolonie mit aufzubauen. Gern würde ich mit dir kommen, aber meine Schicksalslinie verläuft anders. Ich diene Europa besser, wenn ich hierbleibe und für die Regierung arbeite, die uns bisher so weise geleitet hat.“

Philphil dunkelte seine Farbe etwas ab und bewegte seinen rechten Flossenarm in Richtung Kopf. „So gerne ich dich bei mir hätte, dort in der Fremde, auf der Erde, so verstehe ich, dass du deinem Ruf folgen musst, der dir sagt: Dein Platz ist auf Europa.“

Wenn du dort bist, da unten in der Tiefe, im fernen Meer der Erde, gib auf dich acht. Die Schwingungen, die wir von der Erde aufnehmen, sprechen von Kampf und Lüge.“

Gewiss Chrochro, ich werde aufpassen und den seltsamen Wesen dort aus dem Weg gehen, soweit es sich machen lässt“, versprach Philphil.


Es sollte nicht mehr lange dauern, und eine Gruppe von Europabewohnern rippte sich zur Erde, suchte sich einen Platz in der Tiefsee und baute dort eine kleine Stadt. Philphil war einer von ihnen. Auch seine Schwester war mitgekommen. Sie zeigte sich von Anfang an fasziniert vom Planeten Erde und dessen Bewohnern. Man wusste einiges über diese fremdartigen Wesen, aber immer noch zu wenig. Sie waren schwer zu verstehen, niemand konnte begreifen, was sie dazu brachte, so zu handeln, wie sie es taten.

Stell dir vor Alal“, sprach Philphil eines Tages zu seiner Schwester, „sie bringen sich immer noch gegenseitig um, massenhaft. Und das wegen Kleinigkeiten. Welcher Europäer würde das tun? Sie müssen alle krank sein. Gewiss gibt es auch bei uns Konflikte, aber wir töten uns doch nicht einfach deswegen!“

Du hast recht, es ist schrecklich, aber auch wir mussten schon Dinge tun, die nicht ruhmreich waren“, sagte Alal und empfand Mitleid mit den Menschen. „Wir sollten noch besser verstehen, was mit ihnen los ist. Gewiss können wir ihnen helfen.“

Vielleicht, falls ihre Schicksalslinie es zulässt. Wir haben oft versucht, sie zu begreifen“, bemerkte Philphil.


Bald beantragte Alal ein Forschungsprojekt beim Rat der Erdkolonie. Philphil, der Mitglied des Rates der Kolonialisten war, unterstützte ihr Anliegen. Auch wollte er mehr darüber erfahren, wie diese Wesen, diese Menschen, so werden konnten, wie sie waren: blind und fehlgeleitet in ihren Urteilen.

Bald schon durfte Alal ein Institut leiten, das sich mit Menschenforschung beschäftigte. Eines Tages kam Philphil zu Alal und sagte ihr, er habe tief in die Zeit geblickt und dabei die Verflechtungen der Schicksalsfäden gesehen. „Wir sollten die Menschen nicht nur erforschen“, bemerkte er, „wir sollten aktiv…“

Ich weiß, was du sagen willst. Wir könnten unter ihnen leben, wenn wir wollen“, entdeckte ihm Alal.

Ich denke, wir sind auf der richtigen Spur“, sagte Philphil.


Ein menschliches Erscheinungsbild zu bekommen, war nicht einfach und nur mit der Hilfe eines Teams von Experten möglich. Die genaue Kenntnis von Humanphysiologie und Genetik war dazu notwendig. Seltsam mutete es an, einen menschlichen Körper zu besitzen, die Schwerkraft zu spüren, gegen die sich die Bewohner des Landes permanent stemmen mussten, um sich fortzubewegen, oder einfach nur, um aufrecht zu stehen. Philphil konnte sich kaum rühren, nachdem er den neuen Körper bekommen hatte. Er war hauptsächlich Schwimmbewegungen gewohnt, nun schien ihm die geringste Veränderung seiner Körperhaltung wie ein Kampf um das notwendige Gleichgewicht. Zudem klebte er seltsam am Boden fest, als würden ihn unsichtbare Krallen abwärts ziehen. Und man konnte in einem Menschenkörper kuriose Laute von sich geben, indem man etwas von dem Gas, das die Atmosphäre der Erde bildete, durch den Hals presste, dabei den Mund verzerrte und die Zunge verdrehte. Er fühlte sich verloren in diesem Leib. Das änderte sich erst, als Philphil die für ihn erstellte Pseudoerinnerung implantiert bekam. Von da an konnte er mit dem neuen Körper umgehen. Man hatte einige Erinnerungen von Menschen kopiert, sie miteinander verbunden und versucht, etwas Sinnvolles daraus zu machen. Die Erfahrung des Laufens, die Regeln der Sprache und andere Gewohnheiten der Erdprimaten wurden ihm somit auf wunderbare Weise zugänglich. Auch besaß er von da an eine menschliche Geschichte, eine Vergangenheit. Sie glich einem Paket, angefüllt mit scheinbaren Erfahrungen, auf die er zurückgreifen können würde, sobald es notwendig schien. Natürlich wusste er, dass er diese Erfahrungen nie durchlebt hatte, aber für den Fall, dass er sie brauchen würde, kämen sie wie ein Tagtraum über ihn. Sie funktionierten dienten als Werkzeug. Bald fühlte er sich wohl in dem Menschenkörper, ja er freute sich darauf, einen richtigen Erdbewohner spielen zu dürfen. Es dauerte nicht lange, da schauten die anderen für ihn, die man ebenso äußerlich zu Menschen gemacht hatte, nicht mehr ganz so sonderbar aus. Er konnte bald ihre Gesichter unterscheiden und die Mimik darin lesen. Obwohl es nicht das erste Mal war, er hatte schon damals, vor langer Zeit, den Geschmack dieses zweifelhaften Vergnügens kosten dürfen. Jetzt erlebte er es wieder vollkommen neu. Ein seltsames Erlebnis war es, als Alal und er sich als Menschen gegenüberstanden. Sie schien ihm fremd und war gleichsam so vertraut. Sie stand vor ihm als seine Schwester und doch sah er eines dieser Erdenwesen, die ihm ein ewiges Rätsel bleiben würden. Irgendetwas konnte mit den Menschen nicht stimmen, das merkte er an den eigenen Pseudoerinnerungen: Im menschlichen Geist machte sich eine gewisse Art der Verwirrung breit!


Es waren einhundertzwanzig von ihnen, die man paarweise über einige der wichtigsten Länder des Planeten verteilen wollte. Sie standen in einem Raum tief unter der Meeresoberfläche. Um sie herum: Die ungewohnte Luft – sie atmeten sie mechanisch ein und aus. Man hatte ihnen Hosen, Röcke, T-Shirts und Jacken ganz nach dem Geschmack der Erdbewohner auf den Leib gerippt. Sie trugen ihre gefälschten Ausweise und Papiere bei sich. Die neuen Wohnungen – man hatte sie über das Internet angemietet – mussten nur noch bezogen werden. An Bewerbungsunterlagen für spezielle Jobs war gedacht. Man hatte alles vorbereitet. Ihnen würde man über eine Scheinfirma genügend Geld zukommen lassen, zur Überbrückung, bis das eigene Einkommen ausreichte, die Kosten zu decken.

Der Raum um Philphil löste sich auf und er fand sich unversehens in einer Wohnung wieder. Er schaute sich um. Hier also müsste er eine gewisse Zeit verbringen. Er würde sich daran gewöhnen, so seltsam die Menschenbehausung auch anmuten mochte. Nach kurzer Zeit vermittelte ihm die Wohnung eine Art von Wohlgefühl, selbst sein jetziger Körper, gebaut sich behäbig am Lande zu bewegen, wurde immer mehr zu einem Teil seiner selbst.

Philphil trieb sich in Universitätsseminaren herum, las Fachbücher, knüpfte Kontakte zu Menschen und sammelte ohne Unterlass Fakten über die aktuelle Situation auf der Erde. Dank ihrer guten Zeugnisse bekamen Alice und er eine Arbeit bei einem Institut der ESA, der europäischen Weltraumbehörde. Die wichtigste Aufgabe des Institutes bestand darin, die technischen Voraussetzungen für die Erforschung der Eismonde im Sonnensystem zu entwickeln. Auch begriff er immer mehr die Seele und die Kultur der Menschen. „Sie haben dieses Ding im Kopf“, sagte er eines Tages zu Alal, die sich mittlerweile Alice nannte, „es besteht aus Krampf und Kampf. Sie versuchen ständig zu sein, etwas, jemand, irgendwie zu sein. Ich finde das seltsam. Als müsse man sich anstrengen, um zu sein. Auch scheinen sie, sich nicht genug zu sein, immer wollen sie besser sein, als sie glauben, dass sie es sind. Vor allem wollen sie besser als die anderen sein, wodurch sie sich oft viel schlechter fühlen“, erklärte Philphil, der in menschlicher Form Philip genannt wurde. „Sie spalten sich ab, halten sich für eine isolierte Einheit, glauben, sie seien unabhängig und könnten den Linien des Schicksals entgehen. Sie betrachten hauptsächlich ihre eigene Welt, die deshalb so klein scheint, weil sie sie so klein sehen. Die Menschen meinen, es existiere in ihnen ein sogenanntes Ich, das der Welt gegenübersteht. Ich und die Welt. Sie glauben an Grenzen, die in Wahrheit ausgedacht sind. Es sind Gedanken, nichts als Gedanken. Daran muss man sich erst gewöhnen, dass sie Vorstellungen und Realität verwechseln. Manche töten sogar für ihren Glauben. Das ist unglaublich. Sie töten für nichts, töten, weil andere nicht die gleichen Vorurteile wie sie selbst bevorzugen. Das ist für uns unbegreiflich. Wir glauben nichts, wir wissen.“

Das bedeutet ja nur, Sie nehmen das Zentrum des Universums nicht wahr!“, stellte Alice fest. „Aber das haben wir schon immer gewusst.“

Philip nickte traurig. „Sie haben keine Ahnung, woher sie kommen, wohin sie gehen, wer sie sind. Sie denken und denken und erfinden immer neue Träume, aber sie können nicht wirklich Sehen. Selbst das Rippen ist ihnen unbekannt. Leidtun sie mir, wirklich leid. Sie leben eingepfercht in ihren Vorstellungen, sie verzweifeln, wenn die Wirklichkeit davon abweicht. Deswegen verlangen sie immerzu etwas und stellen einander Bedingungen. Daraus kann nur Elend entstehen. Für jedes Kind auf Europa wäre das klar ersichtlich. Es ist eine sonderbare Welt, auf der wir jetzt leben. Eine Krankheit, ein düsteres Erbe hat sich in die Menschheit hineingefressen. Sie trägt ihren Untergang schon in sich. Sie spüren das Herz des Universums nicht schlagen. Das ist das Traurigste. So glauben sie, dass sie ein Leben haben. Sie wissen nicht, dass sie das Leben sind. Wir müssen dieses Grauen beenden, so schnell, wie es geht, bevor sie sich alle gegenseitig abschlachten. Wir dürfen nicht zusehen, wie die Erde vor die Hunde geht, wie man hierzulande sagt. Wir sind fähig, ihren Geist zu beeinflussen, und das sollten wir tun.“

Gewiss, dann werden auch sie klar Sehen und schließlich rippen können“, ergänzte Alice.

Philip schaute sie lächelnd an. „Sie werden sehen und rippen, den Fäden des Schicksals folgen. So wird eine heilende Kraft heranwachsen, bis eines Tages der gesamte Planet von der Plage der Unwissenheit befreit sein wird. Dieser Linie des Schicksals muss ich folgen.“

In Alices Augen leuchteten Sterne. „Diese Linie wird auch die Meinige sein – oder meine sein, oder wie immer das heißt in dieser schrecklichen deutschen Sprache!“


Dienstag, 11. Januar 2022

                                                Teil  12

 

Das Haus machte einen schäbigen Eindruck. Hier hatte dieser andere Philip gewohnt. Matte Farbschichten blätterten im Treppenhaus ab, als wollten sich die Wände häuten. Er blieb vor einer verstaubten Tür stehen. Er klingelte. Wie erwartet öffnete niemand. Das Schloss schien nicht sehr stabil und er überlegte, ob er es knacken könnte. Jemand kam die Treppe heruntergehumpelt. Es war ein älterer Herr, dessen fleckiges T-Shirt sich über den Bauch spannte. Der Geruch von Bier strömte ihm aus den Poren. „Ich habe Ihren Bruder eine Weile nicht mehr gesehen“, krächzte er.

Philip nutzte den Irrtum des Mannes aus und tat so, als sei er wirklich der Bruder des Vermissten. „Ich habe ihn, auch eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Leider scheint er ja nicht da zu sein. Er hat sich ewig nicht mehr gemeldet. Die ganze Familie macht sich Sorgen.“

Sie sehen ihm schon recht ähnlich. Ich habe Sie ja gleich erkannt, ohne Sie zu kennen. Er ist natürlich ein wenig älter und auch nicht so in Form wie Sie“, bemerkte der Nachbar und ging weiter treppab.

Als alles ruhig im Treppenhaus war, zog Philip ein Bündel Dietriche hervor. Nachdem er einige Minuten am Schloss herumgefummelt hatte, sprang die Tür auf und er konnte die Wohnung betreten. Viel fand er nicht vor, es war, als hätte jemand gründlich aufgeräumt, vielleicht sogar, um Spuren zu vernichten. Er untersuchte den verstaubten Schrank. In den Schubfächern befand sich wenig Brauchbares, kein Zettel mit Notizen, keine Papiere, nichts. Nirgends war ein Computer zu sehen, auf dem interessante Daten hätten gefunden werden können. Nichts Persönliches lag herum, kein Foto, kein Brief. Enttäuscht verließ er die Wohnung. Vor dem Haus kam ein Mann auf ihn zu und sprach ihn an. „Ich habe gehört, dass Sie der Bruder sind, von dem im zweiten Stock.“

Hier sprechen sich die Dinge ja schnell rum“, meinte Philip.

Der Mann kräuselte seine Oberlippe. „Tja, ist hier so üblich. Ich möchte Sie ja nicht beunruhigen, aber ich habe so einen Verdacht, was Ihren Bruder betrifft. Ich denke, er kommt nicht wieder. Ich habe ihn gekannt, nicht sehr gut, aber ich habe ihn gekannt. Er war depressiv, wie Sie ja bestimmt wissen. Er hat mir gesagt, dass er geht und dass er nicht mehr wiederkommt. Was immer das auch bedeuten mag. Am besten wir nehmen an, dass er in ein anderes Land gegangen ist. Asien vielleicht. So manch einer hat dort sein Glück gefunden!“

Mag wohl das Beste sein“, stimmte Philip zu.

Der Fremde wischte sich einen Fussel vom Ärmel seines schwarzen Anzuges ab und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, drehte er sich um und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Philip überlegte: Die Wohnung war leer geräumt. Vielleicht wollte der Gesuchte einfach nur vergessen werden. Die dramatischste Version wäre, wenn jemand diesen Philip beseitigt hätte. Im Moment gab´s keine Spuren, nichts Sinnvolles. Seine Klientin musste sich mit der Tatsache abfinden, dass ihr Mann auf und davon war, oder sich sogar von einer Brücke gestürzt hatte. Aber nein, er würde ihr sagen, ihr Mann sei möglicherweise in Asien. Das klang besser. Oder war er sogar einer dieser Staatsfeinde? Der Staat hatte keine andere Wahl in solchen Fällen und musste hart durchgreifen, wenn er die Bürger vor den Aliens schützen wollte. Diese außerirdischen Aggressoren, so hieß es, bekämen immer mehr Sympathisanten. Wenn die Sache einen politischen Hintergrund haben sollte, wäre es gut, sich da herauszuhalten. Er würde bestimmt nicht seine Lizenz aufs Spiel setzen.

Als seine Klientin wieder bei ihm auftauchte, riet er ihr, die Sache auf sich beruhen zu lassen; denn es weise alles darauf hin, dass der Gesuchte untergetaucht sei. Spuren, die verraten könnten, wo er sich befände, habe ihr Bruder scheinbar verwischt. Er wolle offenbar nicht gefunden werden. Philip verschwieg ihr seine Theorien, die mit Selbsttötung und Staatsfeindlichkeit zu tun hatten.

Sie war verzweifelt, sie weinte. „Er braucht mich, hören Sie? Er weiß gar nicht, wie sehr er mich braucht! Er ist zuweilen ein wenig verwirrt, aber hinter seiner Verwirrung steckt etwas Geniales. Außerdem fehlt er mir.“

Philip nickte professionell. „Er hatte kaum Kontakt. Einige Mieter im Haus haben ihn ab und zu mal kurz gesehen. Das ist alles. Immerhin weiß ich in etwa, wie er aussieht: so ähnlich wie ich. Zumindest hat man mir das gesagt. Ich habe dummerweise vergessen, Sie nach einem Foto von ihm zu fragen. Tragen Sie eines bei sich?“

Also ich sehe da nicht viel Ähnlichkeit zwischen Ihnen und ihm. Die Augenpartie vielleicht. Jetzt, wo Sie es sagen. Aber der Mund … nein, doch nicht, der ist schon ziemlich anders“, sagte sie und zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche hervor. Sie tippte auf den Touchscreen. Ein Ausdruck des Entsetzens husche über ihr Gesicht. „Die Fotos, sie sind weg!“

Gewiss haben Sie noch welche auf ihrem PC oder im Internet“, merkte Philip an, um sie zu beruhigen.

Den PC hat er ja mitgenommen, als er ausgezogen ist. Ich mag keine Computer. Ich hasse auch die sozialen Medien. Alle Fotos, die ich von ihm hatte, waren hier gespeichert. Nun ist alles fort. Die ganze Vergangenheit wurde gelöscht!“

Ich habe keinen PC in seiner Wohnung gesehen“, stellte Philip sachlich fest. „Vielleicht ist das ein Zeichen, das mit den Bildern. Sie sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Machen Sie besser einen Schnitt, fangen Sie ein neues Leben an.“

Tränen liefen ihr über die Wangen. „Helfen Sie mir; Sie dürfen nicht aufgeben!“, beschwor sie ihn.

Philip blickte sie nachdenklich an. „Es gibt da eine Möglichkeit, eine Quelle, die ich anzapfen könnte. Es ist ein korrupter Polizist – verkauft Informationen aus dem Polizeicomputer.“

Ich zahle alles“, sagte sie erleichtert und wischte sich die Tränen ab.


Am Nachmittag nahm Philip Kontakt zu seiner Quelle auf. Der Informant meldete sich eine Stunde später. Er hatte etwas gefunden. Die offiziellen Akten seien geschlossen worden und man habe sie gelöscht. Eine Anweisung von höherer Stelle. Wohl etwas Politisches. Auch Drogen spielten eine Rolle, plauderte der Informant aus. So stehe es zumindest in einer Notiz, die sich ein Beamter zu dem Fall gemacht habe. Solche inoffiziellen Gedächtnisstützen seien zumeist aufschlussreich. Auch habe er einen Eintrag über eine Wissenschaftlerin gesehen – wohl die Schwester von diesem Philip. Ihr Name laute Alice, sie gelte als vermisst. Am Rand habe jemand notiert: Fall geschlossen? Dickes Fragezeichen.

Philip wollte wissen, wer das notiert hatte.

Hören sie“, sagte der Informant, „meine Dienste sind begrenzt. Der Name würde Ihnen auch nichts nutzen.“

Meine Klientin wäre bereit, eine entsprechende Summe aufzutreiben“, versprach Philip.

Na gut. Löschen sie meine Telefonnummer. Was auch geschieht: Sie haben nie mit mir gesprochen! Es war Kommissar Hans Lehmann, der diese Notizen gemacht hat!“

Danke, Sie werden Ihr Geld bekommen, wie immer in Bitcoins eingezahlt“, versprach Philip und beendete das Gespräch. Er rief daraufhin seine Klientin an. „Er hat wohl doch eine Schwester, es gibt sie wirklich. Es scheint, sie ist verschwunden. Zumindest hat sie jemand als vermisst gemeldet. Sie soll eine Wissenschaftlerin sein.“

Er hat nur ihren Namen erwähnt, sonst nichts. Er hat wenig über seine Familie geredet. Ich habe nie weiter nachgebohrt.“

Meine Quelle ist nicht billig.“

Schon in Ordnung. Ich werde das Geld zusammenkratzen. Tun Sie, was getan werden muss!“

Philip schwieg einen Moment, kratzte sich am Kopf und fuhr fort: „Wenn wir jetzt weiter forschen, könnte der Fall für uns gefährlich werden. Ich halte es immer noch für das Beste, alles auf sich beruhen zu lassen. Mache ich jetzt weiter, werde ich eventuell in ein Wespennest herumstochern. Der Fall seiner Schwester wurde zu den Akten gelegt. Die Akten hat man gelöscht. Das geschah auf Befehl einer Stelle, die über der Polizei steht. Kann sein, der Geheimdienst steckt mit drin. Eventuell waren Ihr Mann und seine Schwester Terroristen!“

Machen sie weiter“, flehte Karen, „jetzt, wo Sie eine neue Spur haben. Sie sind meine letzte Hoffnung. Sie sind der Beste, ich habe es gleich gewusst!“

Gut, ich werde weitermachen“, versprach Philip, legte das Telefon aus der Hand und flüsterte: „Das Schicksal sei uns gnädig.“


Kommissar Lehmanns Frau öffnete die Tür. „Hier ist Besuch für dich!“

Hans Lehmann kam aus dem Wohnzimmer. „Gottverdammt!“, rief er erschrocken aus. „Schatz, lass uns doch bitte kurz allein. Ist dienstlich.“

Seine Frau nickte und zog sich zurück. "Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sie gefährden meine Familie. Ich sagte Ihnen doch: Tauchen Sie unter", zische Lehmann.

Tut mir leid, aber ich habe Sie noch nie zuvor gesehen“, beteuerte Philip.

"Wie immer Sie meinen. Wenn Sie aus der Haustür herauskommen, gehen Sie rechts die Straße entlang. Hinter der nächsten Ecke finden Sie ein Café – Café Maximus heißt es. Warten Sie dort auf mich. Und geben Sie nur acht, dass Sie niemand hier im Haus sieht. Ist Ihre Freundin auch hier?"

Äh, welche Freundin?“

Na die Sie immer verfolgt. Ich habe mich geirrt: Sie können ihr vertrauen.“

Mich verfolgt niemand. Aber vielleicht reden Sie von meiner Klientin, Frau Karen Durga.“

Hans Lehmann nickte. „Das hört sich nach ihr an. Telefonieren Sie mit ihr. Sie soll auch in das Café kommen. Sagen Sie ihr, es sei wichtig!“

Philip nickte. „In Ordnung! Ich bin gekommen, weil ihr Mann verschwunden ist. Hoffentlich können Sie mir weiterhelfen.“

Nachdem Philip gegangen war, atmete Hans Lehmann tief durch, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und ging zum Telefon. „Hallo!“, rief er aufgeregt in den Apparat, „hallo Alice, er war gerade hier, ja, bei mir. Etwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Er tat so, als hätte er mich noch nie gesehen. Er wartet in Café Maximus in der Hauptstraße. Ja, es ist gut, wenn du kommst.“

Er rief seiner Frau zu: „Ich muss dringend weg Schatz. Kann länger dauern!“


Das Café Maximus war fast leer. In der der hinteren Ecken hatte Philip an einen Tisch Platz genommen. Hans Lehmann lief auf ihn zu und setzte sich zu ihm.

Hören Sie“, sagte Philip, „ich kenne Sie persönlich gar nicht. Ich denke, Sie verwechseln mich mit dem Mann meiner Klientin. Er soll mir ähnlich sehen.“

Unsinn, Sie sind es!“

Was, ich soll ihr Mann sein?“

Nicht, dass ich wüsste. Sie sind aber der Mann, den ich kenne.“

Ich weiß nicht, wovon Sie reden, ich bin zu Ihnen gekommen, da Sie eventuell etwas über eine gewisse Alice wissen. Sie ist die Schwester des Mannes meiner Klientin.“

Da ist sie!“, rief Lehmann.

Alice kam auf den Tisch zugestürmt, an dem sie saßen. Sie umarmte Philip so fest, dass ihm die Luft wegblieb.

Es tut mir leid, aber Sie verwechseln mich offenbar. Ich bin nicht der, den Sie glauben, vor sich zu haben!“

Ich bin Alice, glaube mir, ich würde dich immer erkennen“, sagte sie.

In diesem Moment sprang die Tür zum Café auf und Karen kam herein. Sie entdeckte sogleich Philip und lief außer Puste zu seinem Tisch.

Was ist so wichtig? Warum haben Sie mich angerufen? Können diese Leute uns weiterhelfen, wissen sie, wo mein Mann abgeblieben ist?“

Setz dich, Karen“, bat Alice, dann wandte sie sich an Kommissar Lehmann. „Es ist etwas passiert, was gar nicht gut ist: Man hat das Gedächtnis der beiden manipuliert. Ebenso, wie man meines manipuliert hatte. Ich rede von der zweiten, der ungewollten Manipulation. Der erste Eingriff war geplant. Wir nennen es das Pseudogedächtnis. Es besteht aus künstlichen Erinnerungen, sollen helfen, sich in eine fremde Umgebung einzuleben. Man weiß aber gleichzeitig immer, dass diese Erinnerungen nicht die eigenen sind. Es hilft uns, die Rolle zu spielen, die wir benötigen, um unter Menschen zu leben. Wir haben somit einen menschlichen Charakter, eine Vorgeschichte und hilfreiche Erfahrungen, kurz: Eine Art von innerem Drehbuch, das uns aber auch genügend Raum zum Improvisieren lässt. Ein relativ harmloser Eingriff in den Geist. Es ist so, als käme man aus dem Kino und stünde noch unter dem Eindruck eines Films.“

Was soll das?“, fragte Karen und schaute Philip entgeistert an. „Ist diese Frau verrückt?“

Bei dir Karen“, fuhr Alice fort, „war es anders. Du bist ein Mensch, eine Infizierte. Du hast das Geschenk, die Fähigkeit erhalten. Die Infektion hat die Einheit offenbart. Mit Philip und mir verhält es sich aber anders. Was für dich wie eine Offenbarung schien, ist für uns unsere Natur.“

Philip schüttelte verständnislos den Kopf. „Soll das jetzt heißen, ich bin kein Mensch oder was?“

Alice erläuterte weiter: „Eigentlich sollte man langsam vorgehen in einem solchen Fall. Ich muss aber schnell zur Sache kommen, um eure Erinnerungen zu aktivieren. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir sind im Krieg, wir haben einen Feind. Wir brauchen dich jetzt Philip!“

Moment, also der Reihe nach. Ihr seid angeblich außerirdisch. Ist das so?“

Nein Philip, der Herr Kommissar hier ist menschlich, ebenso wie Karen. Sie wurden infiziert. Das Alien bist du! Wir beide sind Außerirdische.“

Philip schüttelte ungläubig den Kopf und fragte höhnisch: „Und der Feind sind wohl die Menschen, die noch nicht infiziert wurden, nehme ich an!“

Alice verneinte. Die Menschen seien keine Bedrohung, die Gefahr komme vom Mond Europa.

Moment, es wird immer wirrer. Laut dieser Story, die wir hier aufgetischt bekommen, sind wir die Aliens. Wir müssten also vom Eismond Europa stammen. Unsere Feinde kommen auch von Europa. Habe ich das jetzt richtig verstanden?“

Du reagierst momentan wie ein Mensch, deshalb ist die Kommunikation mit dir nicht einfach. Du willst alle Ereignisse wie Perlen auf eine Kette ziehen. Das Universum aber ist keine Perlenschnur, sondern es gleicht mehr einem Netz, das sich ständig verzweigt. Wir kommen von Europa, lebten aber kurzfristig noch in der Erdkolonie. Sie befindet sich in der Tiefsee. Aber zurück zum Gedächtnis“, sagte Alice und zeigte dann auf Karen. „Ihr Gedächtnis ist leicht zu reparieren und es werden keine Schäden zurückbleiben. Sie hatte zuvor auch kein Pseudogedächtnis erhalten.“

Wenn das alles stimmen sollte, dann könnte man es ja bei ihr gleich reparieren“, sagte Philip und sah Alice herausfordernd an.

Wir werden jetzt woanders hingehen. Es wird eine Stunde dauern, bis ihr Geist das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Die Infizierung wird dann wieder wirken und dabei helfen, alles zu integrieren.“ Alice wandte sich an Karen. „Du musst verstehen, dass es ein kleiner Schock sein wird. Ein wenig wie Sterben. Du wirst verteidigen wollen, was du jetzt glaubst zu sein. Aber es ist nicht wahr, das bist nicht du. Kommt mit, wir sollten aufbrechen!“

Ja wohin denn nur?“

Bis zum nächsten Treppenhaus Karen. Du kannst wieder nach Hause“, sagte Alice zu Kommissar Lehmann gewandt, „aber warte, ich habe noch etwas für dich. Ich sehe, du leidest an Krebs, Streukrebs. Wir können die Schicksalslinien nicht beliebig ändern. Manches Mal aber sind wir, die es scheinbar können, Teil des Schicksals, das einen unvorhersehbaren Haken schlägt. Eines Tages wirst du sterben, aber der Tag wird nicht so bald sein. Deine eigene Kraft ist noch nicht so stark, um das zu tun, was ich tun kann. Heute werde ich dein Engel sein, morgen wirst du der Engel von jemand anderen sein; dann wirst du sehen, dass das Universum nichts anderes als Liebe ist.“ Alice öffnete die Hände und pustete, als wolle sie etwas wegblasen, was darinnen lag. Ein kleiner Lichtstern flog zu Hans Lehmann und Zerplatzte über seinem Kopf. Tausend Funken prasselten auf ihn herab. „Deine Aufgabe ist noch nicht zu Ende, wir brauchen dich, die Menschen brauchen dich. Ich weiß, du wirst deine Fähigkeiten zum Besten nutzen, zur Befreiung der Erde.“ Alice erhob sich. „Es ist Zeit zu gehen.“

Philip schaute sie an, neugierig und zweifelnd. Sie folgten ihr, als sie das Café verließ. Hans Lehmann blieb schweigend zurück.

Gleich neben dem Café Maximus hielten sie vor einem Wohnhaus. Alice klingelte irgendwo und die Haustür öffnete sich. Sie traten ein. Verwirrt blickte Philip sich um. Eine Berglandschaft lag vor ihnen. Sie standen auf einer Almwiese.

Hier sind wir ungestört. Da hinten ist eine Hütte. Kommt mit“, sagte Alice. „Ach so, was da soeben passiert ist, das nennen wir Rippen. Ich habe einen Tunnel gebaut.“

Das ist Zauberei, oder ich träume jetzt nur. Sie ist wohl tatsächlich eine Außerirdische“, meinte Karen.

Sie ist gefährlich“, warnte Philip.

Alice griff sich ans Herz und atmete tief ein und aus. Frieden lag über allem. Ein Strom von Vertrauen durchdrang ihn. So gingen sie zu der kleinen Almhütte und traten ein. An der Wand hing ein Hirschgeweih. Der Boden knarrte unter den Schritten. Es roch nach Fichtenholz und Bergwiese.

Liebe Karen, liebe Freundin“, sagte Alice, wobei ein Licht aus ihrer Brust strahlte. Karens Atemzüge beschleunigten sich, bald weinte sie und bald lachte sie, bis abermals Tränen aus ihren Augen flossen. „Im Nebenzimmer steht ein Bett, dort kannst du dich hinlegen“, bot Alice an und begleitete Karen dorthin.

Philip sah, wie Karen die Augen schloss und sich hin und her wälzte, bis sie in einen scheinbar tiefen Schlaf fiel.

Was ist mit ihr passiert?“, fragte er.

Alice sagte: „Sie ist den Prozess des doppelten Erinnerns durchgegangen. Sie erlangte ihr Gedächtnis zurück und spürte erneut die Macht der Infektion, der Urerinnerung, die ihr offenbart wurde. Nach einem kurzen Todeskampf fiel die falsche Persönlichkeit ab. Sie hat sie als das erkannt, was sie war: ein Traum. Ihre Ehe, ihre Kindheit, ihr ganzes Leben, das weiß sie nun, war nicht mehr gewesen als Einbildung. Unter der Schlacke der Illusion hat sie eine andere Erinnerung gefunden, eine andere Kindheit, das Leben, das wirklich ihres war. Und wieder fühlte es für sie an wie Sterben, schmerzhaft und süß. Nach einer Stunde wusste sie alles: Woher sie gekommen war, wohin sie gehen würde. Sie konnte wieder SEHEN! Sie lebt nicht mehr in der Illusion, getrennt zu sein vom großen Fluss, vom Wasser des Lebens, vom Zentrum der Welt, diesem Herzen aus Licht.“

Als Karen sich erhob, sagte sie: „Die Irrtümer sind verschwunden, ich weiß, was wahr ist!“

Alice lächelte. „Schön, dass deine Augen offen sind.“

Die Regierung hatte recht: Es gibt Aliens auf der Erde“, sagte Karen zu Philip, der immer noch grübelte, was hier vor sich gehen mochte.

Alice erklärte: „Ja, es gibt nicht nur Aliens, es existiert auch ein böses Wesen, dieses ist körperlos. Es hat sich im Geist der Menschen festgefressen. Es zeigt sich als menschliche Ignoranz. Es hat allen die Unschuld geraubt, hat die Gedanken der Menschen verdreht. Je höher die Menschheit glaubte zu steigen, umso tiefer ist sie gefallen. Man hat begonnen, sich gegenseitig abzuschlachten, und die größten Schlächter als Helden zu feiern. Man gründete Religionen und glaubte an Ideologien. So baute man eine Mauer zwischen sich und der Wahrheit. Die Menschen verteidigten ihren Glauben mit dem Schwert, kämpften für ihre Freiheit, die nichts anderes als Gefangenschaft ist. Sie klammern sich leidend an ein Leben, das sich nicht vom Tod unterscheidet. Sie haben sich vom Herzen des Universums abgewendet. Aber es hilft ja nicht, man kann es nicht übersehen, das Feuer der Wahrheit brennt in ihnen. Ja, die Wahrheit macht Angst, sie zerstört jede Illusion. Als das Leiden groß genug war, haben wir eingegriffen.“

Philip sah Alice eine Weile schweigend an, dann sagte er: „Und nun kommt der Satz: Irgendetwas ist schiefgelaufen?“

Sagen wir mal: Etwas ist quer gelaufen. Manches Mal kreuzen sich zwei Schicksalslinien. Unser Gegner bewegt sich auf einer anderen Linie.“

Du musst dich erinnern!“, beschwor Karen Philip.

Alice sprach: „Einer kann das Unheil abwenden. Das bist du Philip. Dazu müsstest du dich allerdings erinnern. Es ist gefährlich, denn deine Erinnerungen wurden zu oft verändert. Wir müssten viel Zeit haben. Aber die Zeit ist knapp. Die ersten eingepflanzten Erinnerungen sind harmlos, sie sollten nur die Anpassung an die Erdengesellschaft begünstigen. Sie wurden als künstliche Erinnerungen durchschaut. Als ein Angriff auf deinen Geist stattfand, ist dein Bewusstsein vollkommen mit diesen Pseudoerinnerungen verschmolzen, sodass sie für dich zur Wirklichkeit geworden sind. Sie überlagerten deine wahre Identität. Später erfolgte ein weiterer Angriff auf dein Gedächtnis. Als du dich zu verändern begannst, hat Karen dich infiziert, in der Hoffnung, sie könne dich damit heilen. Und ja, das kann durchaus funktionieren, um die Selbstheilung in Gang zu setzen. Eine Infektion ist nichts anderes als eine Erinnerung daran, was das eigene Wesen im Grunde genommen ist. Sie konnte dir nie die ganze Wahrheit erzählen, das hätte zu einem Schock geführt. Deshalb hat sie nur vorsichtige Andeutungen machen können, um deinem Gedächtnis auf die Spur zu helfen. Na ja, dann wurde auch sie ausgeschaltet. Zweimal warst du bis jetzt in der Enge gefangen, jeweils in einem eingebildeten Ich. In Wahrheit war da nichts, nur eine Vorstellung, ein Glaube. Dein ursprüngliches Sein und deine echten Erinnerungen wieder freizulegen, ist ein riskanter Eingriff. Man hat dir die schlimmste Verletzung zugefügt, die man sich denken kann: Du lebst subjektiv gesehen in einer Isolationshaft innerhalb einer falschen Persönlichkeit. Du gaukelst dir ein Universum ohne Türen vor, in dem es vor Wänden nur so wimmelt. Wir haben keine Wahl, du musst dich erinnern. Das ist deine Schicksalslinie.“ Sie berührte seine Stirn mit ihren Lippen und sagte dann: „So mag geschehen, was zu geschehen hat.“

Auf Philips Stirn flimmerte ein winziges Licht. Es drang in seinen Kopf ein und lockte ein anderes Licht an, das in der Tiefe ruhte. Das eine Licht glühte warm und angenehm; das andere aber war grausam. Das eine Licht hieß Leben; das andere nannte man den Tod. Bald erloschen die zwei Lichter und es blieb nichts als Finsternis. Und doch war darin ein Tunnel zu erkennen, wie ein Loch in der Erde, das in einen Abgrund von Schwärze hinabführte. Ich bin Philip, dachte es in ihm, und ich muss jetzt sterben. Er fiel tief, sehr tief. Von unten flammte ihm Licht entgegen, und er wusste nicht, ob es das kalte Flimmern des Todes, oder die warme Flamme des Lebens war. Als er mit dem Licht zusammenstieß, wurde es dunkel und still, wie noch nie eine Stille still war. Eine sternlose Nacht lag wie ein flaumiges Tuch über allem. Funken flogen auf, sie malten Bilder auf eine unendliche Leinwand. Zuerst erschienen einfache abstrakte Formen, Kreise, Rechtecke, Linien, dann wurde alles komplexer, füllte sich mit Leben, bewegte sich. Es hüpfte, sprang, schwamm, pulsierte, bis sich eine Welt voller Eindrücke offenbarte. Anfangs wirkten die Bilder und Empfindungen schemenhaft; bald aber wurde alles deutlicher, bis er klar erkannte, was vor ihm lag: Seine eigene Kindheit, er sah das Leben auf Europa, auf der fernen Heimat unterhalb der Eisschicht. Er entdeckte seine Eltern und andere leuchtende Wesen, schwerelos glitten sie durch das Wasser. Er nahm sich selbst wahr inmitten einer Schar von Kindern. Sie berührten sich an den Flossen und spielten damit, immer neue Gefühle und Gedanken im Kreis herumwandern zu lassen. Er erinnerte sich daran, wie er staunte, als er zum ersten Mal eine Gruppe Arbeitsroboter auf dem Meeresboden entlangmarschieren sah. Jeder von ihnen lief auf acht Beinen und verfügte über zwei beeindruckende Greifarme. Eines Tages, das versprach er sich, würde er auch so ein Ding bauen.

Vielleicht wirst du ja Ingenieur, oder du verfügst über eine andere Begabung. Unsere Herzen sind groß, wir nehmen immer das mit Begeisterung auf, was die Linie des Schicksals bringt“, sagte sein Vater.

In diesem Augenblick hatte Philip begriffen, wie das Leben funktionierte. Die Eltern lehrten ihm, die Welt mit dem Herzen zu sehen und wie man kraftvoll rippt. Das waren wesentliche Fertigkeiten, besonders wenn man einem Blug begegnete. Der erste Blug, der ihm über den Weg schwamm, sah scheußlich aus. Es war ein fettes Tier, das gierig sein Maul aufriss und seine acht Zahnreihen zeigte. Seinerzeit war ein Gedicht sehr beliebt:


Der Blug hat scharfe Zähne,
Die bringen viel an Leid.
Mehr noch an Schmerzen fasst die Schale,
Die Schale, die ich bin;
Während ich trage
Mein zerrissenes Kind
Auf der Leichenbahre
Meiner Erinnerung!


Er füllte keine Schale mit Schmerzen; denn er konnte gut genug rippen, um den Blug umzulenken. Das Tier spreizte seine fünf Flossen und zog ab, ohne zurückzuschauen. Auch erinnerte er sich an die großen Städte, hell flimmernd trieben sie durch das Wasser. Er sah seine Schwester Alal vor sich, dieses kleine leuchtende Wesen. Sie tanzte verspielt, schaute bewundernd zu ihm auf und sagte ihm, dass er immer bei ihr bleiben müsse und sie nie verlassen dürfe. Er versprach es und wechselte dabei zur Unterstreichung seiner Absicht die Hautfarbe. Auch legte er ihr liebevoll einen seiner Handarme und einen Flossenarm auf den Kopf, wobei sie zufrieden Wasser aus dem Mund blies.

Er dachte an die Schule, an all die klugen Lehrer, daran, wie sie kleine Lichtschimmer aus ihren Herzen aussandten, die sanft in die Kinder hineinstrahlten. So wurde Wissen vermittelt. Die neue Information breitete sich langsam in einem aus und verknüpfte sich als kunstvolles Geflecht mit dem Wissen, über das man schon verfügte.