Freitag, 11. März 2022


                                          20



Andy schlief kaum noch. Seine Nervosität nahm zu. Der Tag des Schicksals dreier Welten kam unaufhaltsam näher, drohend wie ein Ungeheuer. Er hatte Angst, Angst vor seinem Versagen, das gleichbedeutend mit dem Ende der Welt sein würde.

„Du bist in letzter Zeit recht abwesend“, sagte Beate. Er sah sie an, sie schien ihm fremd. Ihre Züge vereisten, ihre Bewegungen erstarrten. Der Mund allein lebte träge und brachte Worte hervor, die er nicht fassen konnte. „Irgendwann musst du es erfahren Andy. Jetzt musst du es erfahren. Es fällt mir schwer, aber es muss heraus. Also die Sache ist die: Ich bin schwanger.“

Es durchfuhr ihn ein Schock. Nicht das, was sie ihm mitgeteilt hatte, verstörte ihn, sondern, dass sie es ihm mitgeteilt hatte. Das war in der anderen Zeitlinie nicht vorgekommen. Auch dort musste sie schwanger gewesen sein. Er konnte ja erst alles verändern, seitdem er zum zweiten Male aus dem Gefängnis gekommen war. Er musste das Kind vor seiner Haft gezeugt haben. Sie hatte es ihm, das war die einzige Erklärung, in der anderen Zeitlinie verschwiegen. Aber warum? Es kam vor, dass Leute Eltern wurden. Er musste sich der Situation fügen. Er hoffte, dass nicht irgendetwas wegen seiner Zeitreise durcheinandergekommen war. „Ein Kind. Gut, warum sagst du es erst jetzt? Du hättest es früher sagen müssen. Du bist doch schon länger schwanger, oder nicht? Ich dachte erst, du hast vom Essen zugenommen. Ja, gut, es ist, wenn ich es recht überlege, toll. Ich muss mich nur noch einen Augenblick daran gewöhnen, dass ich Vater werde.“

„Du wirst nicht Vater. Ich werde Mutter!“

„Ich verstehe nicht, ich meine, wenn du Mutter wirst, dann müsste ich doch Vater ...“

„Das wirst du nicht“, sagte sie und senkte ihren Blick.

„Soll das heißen …“

Beate nickte wie in Zeitlupe. „Ja, das Kind, mein Kind, es ist nicht von dir. Es hat sich vieles geändert, während der Zeit, als du im Gefängnis warst.“

Andy fühlte einen imaginären Schlag in der Magengrube. War das alles noch real? „Moment mal, ich war keine Jahre fort, wenige Monate nur. Wer ist der Vater? Mit wem … Ich meine, du hast, du hast einfach ...“

„Ja, ich habe. Es ist unwesentlich, wer es ist. Ein Name für dich, ohne Bedeutung. Es war nicht das Ergebnis eines Ausrutschers. Ich liebe dich nicht mehr. Vielleicht habe ich das nie getan. Du weißt, wie das ist: Erst ist man einsam, dann trifft man jemanden, man ist froh, bald wird es zur Gewohnheit, dann kommt die Gleichgültigkeit. Ich hatte Mitleid mit dir. Du hast immerhin im Knast gesessen. So konnte ich es dir nicht gleich sagen. Du warst in einer Scheißsituation. Nun ists raus.“

Er schwieg. Es war nicht allein das Kind. Auch liebte sie ihn nicht mehr. Er fühlte sich winzig, ein Wurm, gerade noch etwas mehr als ein Nichts, ein sinnlos zappelndes Etwas. Diese Zeit, in der jetzt festsaß, gefiel im absolut nicht. Wahrscheinlich wäre die alte Zeit besser gewesen, obwohl am Ende alle hätten sterben müssen. Am besten wäre eine dritte Zeit, eine ohne schlechte Nachrichten und bitterem Ende. Aber er befand sich nun mal hier, gefangen in dieser schrecklichen Realität. Es hing alles von ihm ab. Er war die letzte Chance. Offenbar konnte man die Zeitlinie nicht endlos überschreiben. Er musste sich zusammenreißen. Es ging ja nicht um ihn und sein beschissenes Leben, sondern an erste Stelle stand, dass der Krieg verhindert werden musste. Er konnte nichts mehr zu Beate sagen. Er ging fort, blickte sich nicht um. Er hatte nicht den Wunsch, sie jemals wiederzusehen. Leider würde das nicht funktionieren, denn er musste zu den Treffen mit Min-Jee gehen, dort könnte immer wieder Beate auftauchen. Egal, Privates durfte keine Rolle spielen. So viele Leben hingen von seinen Entscheidungen ab. Diese Leben zu retten, das war der einzige Grund seiner Existenz. Min-Jee musste ausgeschaltet werden. Nur so würde der Krieg nicht so weit gehen, dass die Ozeane der Erde kochten und verdampften. Er hatte zu funktionieren, er würde alle seine Gefühle unterdrücken und zu einer Maschine werden. Das Schicksal war herzlos.


„Anschließend, wenn alles erledigt ist, wenn Min-Jee ihre Fähigkeiten eingebüßt hat, werden wir es ihm sagen müssen. Er hat ein Recht darauf“, meinte Alice.

„Gewiss“, stimmte Karen zu, „ dann wird ihm klar werden, wie er von uns manipuliert wurde.“

Christian mischte sich in das Gespräch ein. „Mehr oder weniger ist alles eine Form der Manipulation, egal was man sagt oder tut. Leben heißt: Manipulieren.“

„Du weißt, was ich meine Christian. Das, was wir getan haben, ging über das normale Maß hinaus.“

„Wir mussten uns über die Loyalität dieses Andys sicher sein. Ihr wisst ja, was davon abhängt.“

„Diesmal war ich es, die in die Erinnerung von jemandem eingegriffen hat, ungebeten. Und er wird es irgendwann wissen und mich dafür verachten.“

Christian sah Alice fest an. „Du machst dir zu viele Gedanken über das, was jemand irgendwann denken könnte. Ein menschlicher Fehler. Du bist keiner von ihnen. Du solltest die Dinge in größeren Zusammenhängen sehen. Es scheint, as ob es eine Gegeninfektion gibt. Wahrscheinlich wurden einige von uns von dem Zeug infiziert, das sie hier seit Urzeiten in sich tragen.“

„Soll ich wirklich nicht mitkommen?“, fragte Karen.

Christian winkte ab. Er und Alice seien vollkommen ausreichend. „Wir wollen doch keinen Aufmarsch im Büro von Doktor Alchinger veranstalten, oder? Es soll ja nur ein kleiner vertraulicher Plausch werden.“


Als sie den Tunnel verließen, saß Doktor Alchinger an seinem Schreibtisch und blätterte einige Papiere durch. Er schreckte auf.

„Keine Panik“, beruhigte Alice ihn.

„Ich bin bereits in Panik“, antwortete er.

Christian sagte: „Verzeihen Sie unseren ungewöhnlichen Auftritt, aber das schien uns der sicherste Weg, um mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Sie werden gewiss beobachtet. Immerhin sind sie einer der führenden Köpfe der Opposition.“

„Mann hat sich schon daran gewöhnt, dass sie einen bespitzeln. Und Sie, wer sind Sie? Gehören Sie zu den Infizierten oder zum Diplomatischen Korps der Außerirdischen?“

„Wir kommen von da oben, Europa“ sagte Alice den Zeigefinger hebend, „Wir zeigen Interesse daran, dass sobald wie möglich ein Regierungswechsel stattfindet.“

Christian setzte sich auf einen freien Sessel und schlug die Beine übereinander. „Unsere Regierung sieht es mit Besorgnis, dass die Opposition in Deutschland so zögerlich agiert.“

Doktor Alchinger setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Man könnte ihre Worte so interpretieren, als wollten sich die Bewohner des Mondes Europa in die Politik der Erde einmischen.“

„Aber Doktor Alchinger, höre ich da ein gewisses Misstrauen aus ihren Worten heraus? Wahrscheinlich habe ich mich in dieser mir fremden Sprache ein wenig unglücklich ausgedrückt.“ Christian wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Das sollte nicht der Versuch einer Beeinflussung sein, sondern ein kleines informelles Gespräch. In der Zukunft werden Botschafter ausgetauscht und es wird zwischen den Menschen und uns interplanetare Verträge geben. Aber ihre Bedenken sind nicht gänzlich unbegründet, leider. In der Vergangenheit, so muss ich zugeben, hat eine gewisse Einmischung unsererseits stattgefunden, besonders vonseiten der hier stationierten Kolonie. Das war sicherlich – nein, nicht nur sicherlich – ganz zweifelsfrei war es ein Fehler. Ich gehöre zu denen, die sich von vornherein dagegen ausgesprochen haben. Wir sind nicht hier, um uns bevormundend einzumischen, vielmehr wollen wir den Menschen helfen.“

Alice übernahm das Wort. „Wie Sie wissen, werden staatliche Organe seit einiger Zeit von Leuten mit gewissen Fähigkeiten unterstützt. Sie machen auf Infizierte Jagd. Das Geheimnis dieser Subjekte ist, dass sie ihre Kräfte von bösartigen Außerirdischen beziehen, den Enceladusanern.“

„Enceladusaner?“, fragte Doktor Alchinger erstaunt.

„Eine interessante Spezies, sie hat sich bis dato aus allen politischen Geschehnissen auf der Erde herausgehalten“, erläuterte Christian. „Die Art des Infizierens, die unsere Leute angewendet haben, sollte die Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen. Die Infizierung, die die Enceladusaner bevorzugen, weckt zerstörerische Fähigkeiten. Scheinbar wollen sie unsere künftige Kooperation boykottieren. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem alles eskalieren kann. Darum lautet unser Ratschlag: Übernehmen Sie die Regierungsgewalt möglichst schnell und mit allen Mitteln. Deutschland ist neben China das mächtigste Land der Welt, seit sich die USA nicht mehr von der letzten Krise erholen konnten. Ihr Handeln Doktor Alchinger wäre ein Signal für den ganzen Erdball. Die Regierung agiert aus dem Exil heraus und hält sich mehr schlecht als recht an der Macht, mithilfe erweiterter Notstandsgesetze, womit die Demokratie faktisch abgeschafft wurde. Warten Sie nicht bis zu den nächsten Wahlen, vielleicht gibt es die nicht mehr.“

Doktor Alchinger wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. „Sie reden also von einem Putsch?“

Christian beugte sich vor. „Das Recht muss wiederhergestellt werden. Niemand sollte eine Exilregierung anerkennen, die sich nicht an die Spielregeln hält. Erheben Sie sich endlich! Die Mehrheit des Volkes wird auf ihrer Seite stehen.“

„Nun, die Polizei und die Geheimdienste sind gegen mich“, gab Doktor Alchinger zu bedenken.

„Doktor, ein Teil des Militärs ist nicht mehr regierungstreu. Viele Offiziere verweigern die Befehle. Die Masse hat keine Meinung, wartet aber auf eine neue Führung. Sie müssen auf das Militär setzen. Sobald Sie die Regierungsgewalt haben, werden wir Ihnen einen Vertrag anbieten. Dort wird die friedliche Koexistenz unserer beider Welten geregelt. Sie können den ganzen absurden Überwachungswahnsinn beenden, die korrupten Geheimdienste auflösen und die Polizei von undemokratischen Kräften reinigen. Auf unsere Unterstützung werden Sie rechnen können.“

„Sie haben recht. Der Wahnsinn muss enden. Ich werde sofort Kontakt zum Militär aufnehmen.“

„Wir wünschen Ihnen viel Erfolg“, sagte Alice. Schon öffnete sich ein Tunnel, der sie einsog. Sekunden später erschien sie neben Karen.

„Wo ist Christian?“

„Weiß nicht, er müsste bald kommen“, sagte Alice.


Christian erschien einige Minuten später.

„Wo warst du denn so lange?“, wollte Alice wissen.

„Ich habe ihm noch einmal erklärt, wie gefährlich die Enceladusaner sind.“


Lichtpunkte wandelten sich zu Linien, so schnell flogen sie dahin. Rote, grüne und gelbe Nebel leuchteten von fernher, verbargen kristallene Welten in ihrem Inneren. War man ganz leise und spitzte die Ohren, so erklang in einem die Musik der großen Kristalle, welche Sonnen waren, die in den Nebeln glühten. Überallhin konnte der gedankenschnelle Flug führen. Sie badeten in Meeren aus Licht, schwebten als silberne Insekten über die Blumensteppen eines Honigplaneten. Über reichgemusterte Landschaften, in denen süße Flüsse plätscherten, zogen sie ihre Bahn. Mit ihren silbernen Insektenleibern tauchten sie pfeilschnell in bis auf den Grund des lieblichen Wassers hinab. Sie schwammen vorbei an flimmernden Fischen, deren Schwärme sich kreisförmig durch die Tiefsee schraubten. Betäubende Süße drang ihnen durch die Poren, bis sie vom Nektar des Alls durchdrungen waren. So schwebten sie durch eine Welt, die keine Minuten kannte und keine Stunden. Sie wurden ergriffen von einem beständigen Glück, ein Glück, das nichts mehr wollte. Es war sich selbst genug.

„Kommen Sie, kommen Sie!“, rief eine Stimme ihm zu.

Kwang öffnete die Augen und wusste wieder, wer er war. Neben sich erblickte er Xellox, oder besser die metallische Libelle, deren Form Xellox angenommen hatte. Die Regenbogenflügel des Tieres leuchteten wie verrückt.

„Wir sollten los!“, rief Xellox und schoss nach oben. Kwang folgte ihm bis zur Oberfläche des Wassers und weiter, bis hinein in den Himmel, wo rote und türkisfarbene Wolken flatterten. Er sah gewaltige Vögel, sie bestanden aus unzähligen winzigen Wesen, die sich zu einem Körper vereint hatten, der erhaben durch die Stille segelte.

Xellox erklärte: „Diese Welten, durch die wir uns bewegen, bilden die Samen für alles, was im Universum der festen Materie entstehen wird. Hier werden Informationen ausgesendet und eingesammelt.“

Sie flogen weiter, vorbei an denkenden Sternen und traumverlorenen Planeten. Wurden Strukturen immer komplexer, so entwickelten sie ein Bewusstsein. Ja, auch Sonnen waren Wesen mit einer Seele. Im Raum zwischen zwei Sternensystemen zog strahlend ein Komet seine Bahn.

Xellox zeigte auf den Kometen und sagte: „Du solltest hindurchfliegen. Es ist gut, zu lernen, dass dich Körper wie dieser nicht aufhalten können. Noch existiert die Idee in dir, ein Komet oder etwas anderes, könnte dich taktieren. Sobald du nicht mehr daran glaubst, dass Erscheinungen eine Substanz besitzen, bist du frei. Alle Erscheinungen sind formlos, leer.“

Dieses nahm Kwang sich zu Herzen, er sauste auf den Kometen zu. Dabei sprang ihn die Angst wie ein Raubtier an. Möglicherweise könnte er ja wirklich mit dem Ding zusammenstoßen. Andererseits fühlte er sich seltsam weit, so erlaubte er der Angst, in ihm zu sein, worauf diese, da sie auf keinen Widerstand traf, einfach verschwand. Freudig durchflog Kwang den Kometen.

„Schön, dass du Vertrauen hattest“, lobte Xellox und lächelte dabei.

„Und was wäre passiert, wenn ich nicht so viel Vertrauen gehabt hätte?“, fragte Kwang.

„Dann wäre es wohl eine weniger angenehme Erfahrung geworden“, meinte Xellox, „denn unsere Befürchtungen haben die Eigenschaft, wahr zu werden.“

„Na ja, manche Sachen fühlen sich sehr präsent an und man wird leicht von ihnen gefangen.“

Xellox nickte. „Ja, manche Dinge wirken erschreckend. Bevor wir uns aber gänzlich ins Philosophieren verwickeln, solltest du zu Min-Jee gehen. Sie braucht gewiss neue Energie.“

Kwang verstand und beschleunigte seinen Flug. Er raste auf die Erde zu.


Xellox trennte sich von kwang und besuchte einen rötlichen Mond, der seine Bahn um einen smaragdfarbenen Planeten zog. Hier sollte das geheime Treffen stattfinden.

Xellox blickte sich um. Noch war niemand zu sehen. Felsen warfen lange Schatten über den bemoosten Boden. Gelbliche Staubschwaden stiegen am nahen Horizont auf. Bald trat eine Gestalt hinter einem Hügel hervor. Er war es! Xellox gab einige Höflichkeitsfloskeln von sich und sah sein Gegenüber erwartungsvoll an.

„Seien Sie gegrüßt Xellox. Vor Kurzem noch hätte ich nicht gedacht, dass wir uns je treffen würden, aber die Situation ist kritisch, wie Sie ja wissen“, sagte Chrochro.

Xellox sprach: „Gewiss, die Situation ist bedenklich, sie könnte durchaus eskalieren. Momentan würde unser Treffen von unseren Regierungen als Verrat bezeichnet werden.“

„Der Verrat ist schon längst passiert. Wir haben unsere Ideale verkauft. Beide Seiten. Eine Katastrophe steht uns bevor, wenn nicht gehandelt wird. Wir sehen nicht klar genug, was kommt. Unser Blick ins Gewebe der Schicksalsfäden ist trübe geworden. Langsam legt sich ein Schleier über unser gemeinsames Bewusstsein. Vielleicht eine Nebenwirkung des Kontaktes mit der Erde. Mag auch sein, es liegt an unserer Arroganz, in das Schicksal der Menschen einzugreifen zu wollen. Ich war immer dagegen. Nun ist es zu spät.“

„Ich verstehe“, sagte Xellox, „und jetzt tastet ihr wie Blinde unsicher nach dem Weg. Aber auch unser Geist ist getrübt. Wir haben uns in einen Widerspruch verwickelt. Wir greifen in die Angelegenheiten der Erde ein, damit wir euer Eingreifen unterbinden können und die alten Verträge wieder erfüllt werden. Diese besagen, wie Sie ja wissen, dass niemand von außen in das Schicksal der Erde eingreifen darf.“

„Ich habe etwas getan verehrter Xellox. Was es war, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin mit jemand anderen irgendwo gewesen. Dann war ich allein. Nein, nicht ganz. Ich legte jemanden die Hände auf dem Kopf und löschte seine Erinnerungen. Ich entsinne mich schwach daran, warum ich es tat. Es sollte wohl unseren eigenen Einfluss abschwächen, damit Enceladus nicht zu radikalen Mitteln greift und die Situation sich entspannen kann. Soweit ich mich entsinne. Etwas scheint uns zu verwirren. Wir werden langsam allesamt wahnsinnig.“

„Vielleicht haben ja einige von euch in letzter Zeit zu sehr mit Erinnerungsmanipulation herumgespielt, sodass sich Störungen im kollektiven Bewusstsein ausbreiten konnten. Aber sei es drum. Die wesentliche Frage ist: Was können wir tun, um Schlimmeres zu verhindern?“, sagte Xellox und musterte Chrochro erwartungsvoll.

„Wir wollen eure Energiequelle auf der Erde entleeren – Min-Jee.“

Xellox verstand. „Min-Jee ist unser energetischer Kontakt. Es ist taktisch das Beste, was ihr tun könntet. Allerdings wäre da die Frage, wie wir darauf reagieren würden. Unsere subatomaren Raketen stehen bereit.“

„Unsere Flotte befindet sich seit ewigen Zeiten in Stellung, ursprünglich der Abschreckung wegen“, ergänzte Chrochro.

„Eure Flotte ist größer als die unsrige“, gab Xellox zu. „Wenn aber unsere Raketen erst einmal gestartet sind, bringen sie die gesamte Schleifenquantengravitation durcheinander. Alles wird zerfallen, von innen heraus. Die Zukunft wird ein einziges Chaos. Dazu braucht es nicht einmal die Fähigkeit, die Fäden des Schicksals zu deuten. Um Min-Jee auszuschalten, müsstet ihr sie töten oder auf ewig ins Koma versetzen. Min-Jee würde auch vorübergehendd ihre Fähigkeiten verlieren, wenn sie von uns keine Unterstützung mehr bekäme. Es ist ihr eigener Mann, der als Verbindungsglied zwischen unserer Energie und ihrem Körper dient. Er lädt Min-Jee in diesem Moment auf. Ich bin sein Mentor, sozusagen. Man übertrug mir diese Aufgabe. Ich befinde mich somit am Hebel, mit dem man die Energie abstellen könnte. Damit wäre Zeit zu gewinnen. Das Problem ist: Man nennt so etwas Sabotage. Es hätte recht unerfreuliche Konsequenzen für mich.“ Xellox hielt inne. Ihm wurde klar, dass er alles alleine entscheiden musste. Chrochro zeigte Schwierigkeiten, sich an wesentliche Dinge zu erinnern. Mit anderen Worten: Sein Gesprächspartner war unzurechnungsfähig.

Chrochro unterbrach Xellox´ Gedanken. „Das Schlimme ist, dass sich der Schleier über uns legt. Verstehen Sie? Man fühlt sich einsam, obwohl man weiß, dass man es nicht ist. Niemand kann der Illusion entkommen, letztlich, selbst wenn man es glaubt. Sie liegt auf der Lauer. Man durchschaut sie, dennoch bleibt sie real. Es ist wirr, real und nicht real. Das ist doch kein Leben, das ist eine Lüge. Vielleicht erlöst uns ja der Krieg und er wäscht alles rein, quält uns so sehr, dass wir Erlösung finden und der Schleier der Illusion von uns abfällt.“

Xellox fühlte sich in seiner Meinung bestätigt: Chrochro war verrückt geworden! Wahrscheinlich ging es den anderen Europabewohnern ebenso. Der Wahnsinn hatte Wellen geschlagen, Wellen, die sich bis nach Enceladus ausbreiteten, wo die Verblendung ebenfalls die Geister umklammert hielt. Er verspürte den unbändigen Impuls, loszulachen. Alle waren durchgedreht. Er bemerkte, wie seine Gedanken zitterten ­­– in Schwingung versetzte Stahlstangen. Auch in ihm tanzte der Irrsinn, der wie eine Fratze vor ihm auftauchte, ihm die Zunge höhnisch entgegenstreckte und dabei kicherte. Trotz des inneren Aufruhrs, sprach er so ruhig, wie er nur konnte weiter. „Hören sie, er ist jetzt dort, Kwang, ihr Mann, er gibt ihr Energie.“

Chrochro nickte. „Gewiss, er ist die Quelle für sie. Es ist zu spät. Unsere Regierungen werden endgültig durchdrehen. Wobei das Schlimme nicht einmal die Vernichtung ist. Es ist die Tatsache, dass der Krieg gedacht werden kann und befohlen wird. Das Räderwerk ist in Gang gesetzt. Schon vor langer Zeit hat man unser Todesurteil gesprochen. Das macht mir Angst, das Urteil – nicht die Vollstreckung.“


 

Sonntag, 27. Februar 2022

                                             19

Rat Zarzar schaute Alice an, blickte zu Christian hinüber, dann nickte er. „Ich denke, sie sollte es erfahren.“

Alice atmete tief durch und begann: „Wir sind keine Aliens, die sich in die Angelegenheit einer anderen Spezies einmischen. Es ist vielmehr so: Wir regeln Familienangelegenheiten.“

Karen verstand nicht: „Was bedeutet das – Familienangelegenheiten?“

Alice erklärte: „Wir kümmern uns um euch, weil – also: Ihr seid wir und wir sind ihr. Man hilft sich eben untereinander. Kurz: Wir gehören zu ein und derselben Gattung.“

Karen glotzte verständnislos. „Wie jetzt? Ihr habt euch doch auf Europa entwickelt und lebt normalerweise unter Wasser, wir dagegen stammen von primitiven Primaten ab.“

„Das stimmt nicht“, behauptete Alice, „und die von Enceladus gehören auch dazu. Es gibt nur eine Spezies. Wir kamen von Spirichotos, einem Sonnensystem mit achtzehn Planeten und neun Eismonden. Wir bewohnten alle Eismonde unseres Systems. Im Laufe der Jahrmillionen zeigte unsere Sonne deutliche Spuren ihres Alterungsprozesses. Sie starb. So traten wir eine weite Reise an. Die Raumschiffe teilten sich auf, jede Flotte nahm eine andere Richtung. Unsere Vorfahren gehörten zu denen, die auf dieses Sonnensystem stießen. Europa, Enceladus und die Erde sahen vielversprechend aus. Die Erde zeigte sich bereits bewohnt. Eine biologische Evolution fand auf ihr statt. Man stieß dort auf Pflanzen und allerlei Getier. Ein Teil von uns scherte sich nicht darum und fand es spannend, sich in ein bestehendes ökologisches System einzubinden. Jene, die auf Europa siedelten, erschufen etliche Lebewesen, die das Meer unter der Eisschicht besiedelten, somit konnten optimale Voraussetzungen für eine Zivilisation entstehen. Der Teil von uns, der nach Enceladus zog, bevorzugte die Askese und wurde in Höhlen unterhalb des Eismeeres glücklich. Diejenigen nun, welche auf der Erde eine neue Heimat finden wollten, benötigten besondere Körper. Sie konnten sich ihre Umwelt nur bedingt gestalten, ihr Ziel war es ja, sich in diese neue Welt so einzubringen, als wären sie deren Kinder, wie all die Tiere der Luft, des Wassers und der Erde. Sie setzen auf das Bestehende und veränderten es geringfügig. So orientierten sie sich an den Genen der Vorfahren jener Affen, die man heute Schimpansen nennt. Damit stellten sie die Matrix für ihre neuen Körper her“.

„Deshalb sind die Schimpansen uns genetisch so ähnlich“, bemerkte Karen.

Alice nickte. „Aber sie brauchten mehr als nur einen vielversprechenden Körper, um in der neuen Umwelt zu überleben: nämlich Instinkte. Auch diese übernahmen sie von den Halbaffen. Die Primatengene sind und waren ihr Problem. Sie konnten sich mit ihnen gut anpassen und durchsetzen, aber die tierischen Instinkte führten zur Verwilderung. Wir, die wir auf Europa und Enceladus lebten, beschworen sie, dem entgegenzuwirken. Das aber lehnten sie ab. Sie wollten etwas Neues aus sich machen, es sollte unvorhersehbar sein, indem sie der Evolution auf diesem Planeten Macht über sich gaben. Diesen Weg schlugen sie ein, bereit, ihn bis zum Ende gehen, koste es, was es wolle. Sie setzten einen Nichteinmischungsvertrag auf, den Europa und Enceladus unterschrieben. Sie wollten in Ruhe gelassen werden. Wir anderen kamen ihrem Wunsch nach.

In der Zeit, die folgte, gaben sich die Erdbewohner immer mehr ihren tierischen Trieben hin, bis jede Spur von Zivilisation abhandenkam, ja – bis sie vergessen hatten, wer sie waren und woher sie gekommen sind. Nach einer langen Zeit besuchten wir sie wieder, um nachzusehen, wie es ihnen geht. Sie hatten unterdessen primitive Kulturen geschaffen, waren aber auch in etlichen Streitereien und Kriegen verzettelt. Das Gift der Dummheit und Kleinlichkeit floss in ihrem Blut, ihr Leben war mühselig, ein feierliches Strahlen über ihnen lauerte ständig der Schatten der Angst. Sie entsannen sich weder an ihre Geschwister auf Europa, noch an jene, die auf Enceladus lebten. Ja selbst den Vertrag, in dem festgelegt wurde, dass wir sie in Ruhe lassen sollten, hatten sie vergessen. Also fragen wir uns, ob der Vertrag unter diesen Umständen noch gültig war. Wir kamen zum Schluss, dass er seine Gültigkeit verloren hatte. Somit nahmen wir uns das Recht, uns wieder einzumischen. Wir wollten ihnen das Elend ersparen, in das sie, angefüllt mit unberechenbaren Trieben, hineingeraten waren, wollten ihr Bewusstsein anheben, ihnen helfen, eine höhere Stufe kultureller Entwicklung zu erreichen. Wir unterstützten sie beispielsweise bei technischen Neuerungen.“

Hier unterbrach Christian: „Und es ging schief.“

Alice presste die Lippen zusammen, sie nickte zögerlich. Manches Mal habe man auf der Erde falsche Schlüsse aus gut gemeinten Eingriffen gezogen. Auch seien große Religionen entstanden, Geschichten von Göttern, Zauberern und Engeln machten die Runde und bildeten das kulturelle Erbe künftiger Epochen.

„Verdammt, ihr seid Engel!“, rief Karen aus.

„Nun, in den Augen einiger Menschen waren wir das. Auch nannte man uns Propheten, Wundertäter, sogar als Hexen mussten wir uns beschimpfen lassen. Man dichtete Legenden, Priester sahen in uns etwas, was wir nicht sein wollten. Du kennst die Geschichte ja. Und ...“

„Ideologien machte man aus allem, Dogmen“, ergänzte Christian Alice´ Ausführungen.

„Und dann?“, fragte Karen.

Alice vollzog eine Bewegung, als wolle sie etwas aus der Luft pflücken. „Die Enceladusaner haben sich gemeldet. Sie meinten, man müsse die alten Verträge weiterhin anerkennen, und dass es ein Fehler gewesen sei, in das Geschick der Erde einzugreifen. So ganz unrecht hatten sie ja nicht damit. Erst kamen die Religionen, dann die Intoleranz, der folgten die Kriege auf wie Schmeißfliegen dem Gestank. Und vieles, was wir gelehrt hatten, wurde verdreht. Es gibt nur eine Wahrheit, wurde zu: Es gibt allein unsere Wahrheit. Aus der Maxime: Euer Herz wird umso froher sein, je mehr ihr mit dem Strom des Lebens fließt, machte man: Wenn ihr sündigt, sollt ihr in der Hölle schmoren, oder auch: Im nächsten Leben wird es euch übel ergehen, wenn ihr nicht dreimal täglich den Kopf in die heilige Jauche des Ganges steckt.“

Christian erzählte weiter: „Wir haben nicht aufgegeben, obwohl wenig Gutes aus der besten Absicht kam. Die Bewohner von Enceladus, die sich vor Eingriffe, wie wir sie ausübten, scheuten, sahen unser Treiben mit Unmut. Ihrer Meinung nach sollten wir die alten Verträge wieder anerkennen. Immerhin wollten die Menschen ihren Weg ohne Hilfe gehen. Man fand auf Enceladus keinen Grund dafür, es ihnen zu verweigern. Wir haben das natürlich anders gesehen. Unser Mitleid trieb uns weiter an. Wir wollten diese Wesen, stammten sie doch aus der gleichen Quelle wie wir, immer wieder neu erwecken, sie aus dem Schlaf reißen, in den sie gefallen waren. Wodurch die Konflikte zwischen uns und Enceladus allerdings weiter anwuchsen. Dort kapselte man sich mehr und mehr von uns ab. Immerhin waren wir die bösen Vertragsbrecher. Selbstverständlich wollten wir auch künftig die Situation auf der Erde verbessern. Wer schaut schon zu, wenn ein Kranker um sich schlägt und sich dabei selbst verletzt? Es war wie verhext, die ganze Erde schien immun gegen die Vernunft zu sein. Weisheiten verwandelten sich zu Dogmen, technische Errungenschaften nutzte man als Waffen. Fast hätten wir unser Unterfangen aufgegeben, aber einen Versuch wollte man noch wagen. Vielleicht, so sagte man sich, sei die Menschheit endlich reif für die Segnungen, die wir ihnen offerieren könnten. Diesmal wollten wir ein großes Geschenk überreichen. Leider sind dabei, wie man auf Europa bemerkte, einige Kolonisten zu weit gegangen. So geschah es: das innere Sehen und das Rippen wurden zur Erde gebracht. Ich hielt das von vornherein für eine gefährliche Angelegenheit, wenn man eine derartige Macht unreifen Wesen überlässt..“

„Ob du mit dieser Macht immer in einer reifen Art und Weise umgegangen bist, möchte ich anzweifeln, ohne dich dafür verurteilen zu wollen“, zischte Alice und bohrte ihren Blick in Christian hinein, als wolle sie ihn damit aufspießen.

Rat Zarzar nahm das Wort an sich. „Als die Leute, die Min-Jee rekrutiert hat, immer dreister agierten und immer brutaler gegen die Infizierten und gegen uns vorgingen, ist die Sache eskaliert. Und das, ich möchte das ausdrücklich betonen, aufgrund jener indirekten Einmischung der Enceladusaner, die ihre eigenen Taten nicht als Einmischung wahrnehmen wollen oder können. Der Rat auf Europa sah sich gezwungen, eine Nachricht an die Regierung von Enceladus zu senden. Ein Versuch, die diplomatischen Beziehungen aufleben zu lassen.“

„Es war weniger eine Nachricht, mehr eine Drohung“, korrigierte Christian.

Rat Zarzar nickte. „Es war ein Hinweis darauf, dass wir es nicht akzeptieren würden, wenn sie gewisse Grenzen übersähen. Ein kleines Manöver unserer Raumflotte sollte der Botschaft Nachdruck verleihen. Natürlich sahen sie sich dadurch behindert, ihre Absichten zu verwirklichen. Wir vermuten, sie schmieden einen finsteren Plan. Sie halten sich gerne an einem Ort auf, den man sich als eine energetische Vorstufe der materiellen Welt vorstellen kann. Von dort aus können sie allerhand gegen uns unternehmen. Die Situation zwischen uns und Enceladus ist verwickelt und wir müssen sehen, dass wir da heil herauskommen. Zumal Europas Bewohner in letzter Zeit von einer gewissen Schwächung heimgesucht werden, die ihre seherischen Fähigkeiten beeinträchtigt.“

„Also, ich fasse zusammen, nicht, dass ich was versäumt habe“, sagte Karen. „Es gibt keine Außerirdischen im eigentlichen Sinne, weil wir Menschen selbst die Außerirdischen sind. Die anderen sind auch wir, nur sie haben sich woanders weiterentwickelt. Um den Erdenbewohnern zu helfen, haben die Bewohner Europas in unser Schicksal eingegriffen. Das gefiel den Schwestern und Brüdern auf Enceladus nicht, weil sie die Verträge über die Nichteinmischung in die Angelegenheiten der Erde, die man einst abgeschlossen hatte, immer noch für gültig hielten. Außerdem ging einiges schief. Aus dem, was als Hilfe gedacht war, ist oft nichts Gutes entstanden. Und aus dem allen entwickelten sich die Spannungen, die in einer Katastrophe enden könnten. Ist das so?“

„Genauso ist es“, bestätigte der Rat unterstrichen von einem unbeholfenen Nicken seines Kopfes. „Wir können die Katastrophe abwenden. Wir kennen die Quelle der enceladusischen Energie auf der Erde. Wir werden und müssen mit allen Mitteln …“

„Wir wissen, was Sie meinen Rat Zarzar. Wir werden der Herausforderung begegnen, mit allen Mitteln, wie Sie es sagten“, versprach Alice und bemühte sich dabei, mehr Zuversicht auszustrahlen, als sie hatte.


Das Tor schloss sich hinter ihm. Die Sonne durchwärmte die Luft. Vogelgesänge gaben dem Augenblick, der Freiheit hieß, ein feierliches Strahlen. Er blickte sich nicht um. Die Gefangenschaft lag blass wie eine öde Landschaft in seiner Erinnerung. Er hatte die Strafe dafür, dass er seine Meinung gesagt hatte, redlich abgesessen. Leo kam auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Andy hatte das schon einmal erlebt. Die Zeit begann, eine neue Schleife zu ziehen. Aber die Geschehnisse mussten diesmal anders ablaufen, oder die Erde wäre demnächst nicht einmal mehr eine Erinnerung.

„Beate muss wohl noch arbeiten“, sagte Andy.

„Ja, du weißt ja, sie hat diesen Job. Sie ist immer bis zum Abend beschäftigt.“

„Gewiss, ich weiß. Zur Feier des Tages sollten wir erst mal was kiffen.“

Leo nickte. „Mann, da hast du direkt meine Gedanken gelesen. Habe astreinen Stoff. Am besten, wir gehen gleich zu mir. Beate wird später nachkommen.“


Der Stoff war wirklich astrein. Leo kaufte immer das beste Dope. Nach der Legalisierung war die Qualität nicht schlechter geworden, man zahlte nur mehr dafür. Zweifellos, das gleiche starke Cannabis, sativalastig, genau wie schon einmal, wie in der ersten Realität, als das alles so ähnlich passiert war. Jetzt lief die zweite Realität ab, dank der Macht der Aliens. Er konnte es nicht recht fassen, er war wirklich mittendrin, lebte sein zweites Leben, hatte eine Möglichkeit, von der viele träumten: Er könnte alles anders machen, besser machen als beim ersten Durchlauf. Aber er war nicht froh darüber. Ein immenses Gewicht lastete ihm auf den Schultern: die Verantwortung für die Zukunft des Planeten. Er hatte nicht um diese Verantwortung gebettelt. Was sollte er machen? Nun war die Situation, wie sie war. Er hatte seine Rolle zu spielen, so gut, wir er konnte, oder bumm! Erde Ade. Er blickte nach innen. Musik wogte durch den Raum. Er spürte Vertrauen in sich. Vielleicht hatten die Außerirdischen diese Empfindung in seinen Geist eingepflanzt, oder es war der Stoff, der eine Tür in ihm geöffnet hatte, hinter der dieses Vertrauen wohnte, oder beides war nicht voneinander zu trennen, oder nichts war voneinander zu trennen und eines floss ins andere – wie zwei Tropfen, die sich treffen und – Blub – ein Tropfen bleibt übrig, ein verdammter Tropfen, der alles und nichts ist, oder der Atemzug, den er jetzt tat, der geschah, wie ein Tanz, wie es auch ein Tanz sein musste, der den Mond in seiner Umlaufbahn hielt. Es klingelte. Beate kam, trat ins Zimmer. Er und Beate umarmten sich. Es war wie beim ersten Mal. Nein, doch nicht. In der Erinnerung war ihm die Umarmung länger vorgekommen, heftiger. Aber die Erinnerung ist eine Betrügerin. Es musste ja eine andere Umarmung sein. Er war nicht mehr derselbe, seit ihm klar geworden ist, was kommen würde. Die Menschen konnten nicht anders, sie würden auf ihn nicht genauso reagieren wie im ersten Durchlauf. „Was gibt es Neues?“, fragte er Beate, denn ihm war klar, dass ihr die Geschichte von Min-Jee auf der Zunge brannte. Seine Frage zeigte nicht die Wirkung, die er beabsichtigt hatte, nämlich, dass sie so rasch wie möglich von Min-Jee erzählte. Sie sagte ihm, er solle sich erst einmal ausruhen. So dauerte es eine Weile, bis sie ihre Geschichte zum Besten gab. Auch hörte sich alles ein wenig anders an, als er es in Erinnerung hatte. Die alte Zeit wurde überschrieben von der neuen Zeit, von ihm und von seinen Handlungen, die auf seine Umgebung wirkten. Er tat überrascht und ungläubig, als er von Min-Jee und deren Fähigkeiten hörte. Natürlich durften Beate und Leo nichts von der Sache erfahren, von der Zeit und wie sie manipuliert wurde, davon, dass er den gleichen Zeitraum zum zweiten Mal durchschritt. Auch würden sie ihm nicht glauben. Es war zu absurd. Wer würde ihn für voll nehmen, wenn er erzählte, er sei dazu bestimmt, die Welt zu retten? Es war Wahnsinn, gewiss. Dieser Wahnsinn aber bestand nicht darin, dass er sich etwas Absurdes einbildete, sondern, dass es Real war.

Es kam der Moment, in dem Beate Leo und ihn mit der Kraft Min-Jees infizierte, mit jener Kraft, die in Wirklichkeit, wie er wusste, von den Enceladusanern stammte. Das wichtigste Ziel für ihn hieß, Min-Jee zu stoppen. Wenn sie nicht mehr weiter immer neue Kampfgefährten produzieren könnte, würden die Angriffe auf die Europa-Aliens und ihre Verbündeten, den sogenannten Infizierten, nachlassen und bald gänzlich enden. Somit könnte die Regierung des Europamondes eine diplomatische Lösung für die Streitigkeiten mit den Enceladusaner finden. Der Krieg, der die Erde verdampfen ließe, würde nie stattfinden. Soweit die Theorie. Aber welche Folgen hätte der Angriff auf Min-Jee? Andy begann, sich vor der Zukunft zu fürchten. Sie war und blieb ein unberechenbares Etwas. Drohend warf sie ihre Schatten in das Jetzt.


Nachdem Beate Andy mit der Energie, deren Quelle Min-Jee war, infiziert hatte, war er ein Anhänger der Bewegung geworden, die sich für den Kampf gegen die Außerirdischen rüstete. Zumindest tat er so. Er lebte ständig im Zustand einer leichten Paranoia. Es war ihm klar, dass Min-Jees Bewegung beobachtet wurde, dass auch er im Fokus der Aufmerksamkeit stand. Sie hatten es ihm ja gesagt, die Bewohner von Europa, unten am Meeresgrund, bevor alles Wasser verdampfte. Sie selbst konnten davon nichts mehr wissen. Er allein wusste es, alles wusste er. Man hatte ihn ausgewählt, er durfte nicht versagen. Langsam wurde es Zeit, mit ihnen in Kontakt zu treten, ihnen zu sagen, was ihr eigener Plan gewesen war, welches Grauen die Zukunft bereithielt, wenn man die Geschichte nicht ändern würde.

Andy pirschte wachsam um den Häuserblock. Seit die Energie der Enceladusaner in ihm floss, schien es ihm ein Leichtes, die Wesen vom Europamond oder ihre Infizierten aufzuspüren. Er besaß dafür eine innere Antenne, die sofort auf die Energie des vermeintlichen Feindes anschlug. Und dann war es soweit, sein Körper reagierte wie auf eine Gefahr, die ihn für Flucht oder Angriff bereit machte. Er ignoriere diese Signale und ging auf zwei Infizierte zu. Er blieb vor ihnen stehen und sagte: „Ich muss Alice sprechen.“

Sie schauten ihn verwundert an und gingen weiter. Offenbar hatten sie keine Gefahr in ihm gesehen. In der Folge wiederholte Andy dieses Spiel mit anderen Infizierten, an anderen Orten, solange, bis seine Versuche eines Tages Früchte trugen. Langersehnt und unverhofft stand sie in einer glückseligen Sekunde vor ihm.

„Mir kam zu Ohren, Sie suchen mich. Es ist die Frage zu klären, woher Sie meinen Namen wissen“, sagte sie mit warmer Stimme.

„Wir kennen uns“, sprach Andy erregt, „Sie haben mir alles erzählt, Sie und die andere Frau, unten, unter Wasser, wo es diese Stadt gibt, die Kolonie. Hören Sie, es war damals, es war in der Zukunft. Nein, ich bin nicht irre. Sie haben mich losgeschickt, Ihnen eine Botschaft zu bringen. Es ist wichtig, es hängt vieles davon ab! Ach, was sage ich! Alles hängt davon ab, das Leben von drei Welten hängt davon ab. Wir sterben, verstehen Sie. Ich sterbe, Sie sterben, alle gehen drauf. Es ist der Krieg, der Kampf zwischen Europa und Enceladus. Die Erde wird unter Beschuss genommen, das Meer verdampft. Es war in der Zukunft. Ich war dabei.“

„In der Zukunft?“, fragte Alice.

„Ja, diese Zukunft ist meine Vergangenheit. Ich weiß nicht, warum Sie es nicht selbst sehen können, ich meine bei Ihren Fähigkeiten, vielleicht wurden sie geschwächt oder so. Sie und Ihre Leute haben alles zurückgedreht, ich meine die Zeit, wie eine Uhr, einfach so. Jetzt fängt es wieder von vorne an, mit dem Unterschied, dass ich alles weiß und dass ich es verändern kann. Ich erlebe noch einmal, was gewesen ist, nur ein wenig anders. Die alte Zeit wird überschrieben. Wir müssen nicht im Krieg sterben. Wie das genau funktioniert, weiß ich nicht. Mir ist nur klar, dass die Welt untergehen wird, wenn ich die Dinge nicht ändere, wenn wir die Dinge nicht ändern. Und nun versuche ich, Ihnen zu sagen, was Sie mir aufgetragen haben in jener anderen Zeit, in der möglichen Zukunft, die nicht kommen soll und hoffentlich nie kommen wird.“

„Gut“, sagte Alice, „weiter.“

Andy erzählte alles, was sie wissen musste – von dem Konflikt zwischen Europa und Enceladus, und wie alles in einer Katastrophe endete.

„Ich spüre, dass es die Wahrheit ist. Wir sollten umsichtig handeln. Wahrscheinlich bietet sich nicht noch einmal die Möglichkeit, die Zeit auf diese Art und Weise zurückzuspulen. Fehler können wir uns nicht leisten. Es steht viel auf dem Spiel. Alles.“

Stumm nickte Andy und er spürte, wie dabei eine gewaltige Last auf ihn niedersank. Er könnte von ihr zerquetscht werden, jederzeit.

„Min-Jee“, sagte Alice, „wir müssen ihre Energie entladen und sie vom Nachschub abschneiden; erst dann ist die Gefahr vorüber. Die Enceladusaner brauchen Min-Jee, denn sie selbst betreten die Erde nicht. Es sind seltsame Wesen, sie haben da so alte Verträge aufbewahrt, sie werden sich daran halten, beziehungsweise an ihre eigene Auslegung der Verträge. Und das besagt nichts Gutes. Also, wir sollten folgendermaßen vorgehen …“


Dienstag, 22. Februar 2022

                                               18

 

 

Das Zimmer war von mittlerer Größe und nobel eingerichtet.

„Nicht so toll wie die Zimmer auf Europa, aber recht ansehnlich“, sagte Alice.

„Ich bin zufrieden, äußerer Komfort bedeutet mir nichts.“

„Du solltest menschlicher reagieren, du fällst sonst noch auf. Du solltest sagen: Prima, danke für das Zimmer, wäre doch nicht nötig gewesen! – Schon damals warst du immer ein wenig steif und reserviert, was dich schließlich wohl starrsinnig hat werden lassen. Du warst einer der Klügsten, aber deine Klugheit wirkte kalt und gnadenlos. Wie gesagt, wir sind nicht der Feind, also werde locker. Wir bilden ab jetzt ein Team. Probiere mal das! Sie verkaufen es heutzutage an jeder Ecke, vor einigen Jahren war es sogar verboten. Stattdessen haben die Leute ätzende Flüssigkeiten getrunken, die ihre Gehirnzellen abtöteten und ihnen die Leber auflöste. Jetzt verdampfen sie lieber dieses Gras; es beseitigt den Cannabinoidmangel im menschlichen Gehirn.“

Alice stopfte das Kraut in die Öffnung ihres Vaporizers und schaltete ihn ein. Zehn Minuten später schien der Hanf bei Christian anzuschlagen. Er sah entspannt aus.

Karen wandte sich an ihn: „Ich kann nichts dafür, dass Sie mich nicht mögen. Aber vielleicht haben Sie recht damit: Ich mag Sie ja auch nicht sonderlich. Schon wegen Philip.“

„Das war nichts Persönliches“, sagte Christian, „ich halte nur die Menschheit für gefährlich. Sie kennen ja die Geschichte Ihrer Spezies. Ein einziges Wort kommt immer vor: Krieg. Der Kampf ist hier das Mittel der Politik. Und was haben die großen Führer angerichtet? Denken Sie an Stalin, Hitler, Mao. Die Menschheit läuft immer wieder über Leichenberge, hält dabei die Siegesfahne jubelnd hoch. Sie haben nichts gelernt aus ihren Kriegen. Während man schöne Worte macht, Worte von Freiheit und Gerechtigkeit, ist schon wieder einen neuer Feind geortet, den man mit gutem Recht ausrotten kann. Trotz Ihres erweiterten Bewusstseins, das Sie als Infizierte haben, ruhen die alten Gewohnheiten Ihrer Art auch in Ihnen. Was, wenn diese wieder Oberhand gewinnen, wenn der Blutdurst erwacht? Jetzt, wo Sie über eine gewaltige Kraft verfügen?

Auch unsere Art trägt Regungen aus alten Zeiten in sich, Regungen, die nicht immer friedfertig sind. Zumeist können wir sie anschauen, ohne ihnen folgen zu müssen. Es gibt aber auch Situationen, da erfordert es Kraft, diese Verblendungen von der Wahrheit zu trennen. Werden Sie stark genug sein, wenn Ihre finstere Stunde kommt?“

„Ich hoffe es, mehr kann ich nicht tun“, antwortete Karen.

Christian setzte nach: „Die Menschen sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sagen Sie mir, wenn die Hoffnung gestorben ist, werden Sie dann noch stark genug sein?“

Karen schwieg. Alice ergriff das Wort: „Was du da von dir gegeben hast, mag zutreffen oder nicht, deine Formulierung war dabei allerdings so gewählt, dass du Karen damit in die Ecke gedrängt hast. Du musst viel über die menschliche Kommunikation lernen. Es gibt dabei immer einen inhaltlichen Aspekt, der das ausmacht, über was man redet, und einen Aspekt, der die Beziehung betrifft, die zwischen denen, die sich austauschen, besteht. Also zusammengefasst: Alles, was man sagt, betrifft nicht nur den Inhalt dessen, worüber gesprochen wird, sondern definiert ebenso die Beziehung zwischen denen, die am Gespräch teilhaben. Das lernt hier jeder Psychologiestudent im ersten Semester. Man sollte immer das Tier im Menschen berücksichtigen.“

„Ich glaube, ich muss mich entschuldigen, dass ich nicht optimal darauf vorbereitet war, mit Menschen zu reden“, sagte Christian förmlich.

„O Mann,“, stöhnte Alice, „ich denke, es wird eine Weile dauern, bis wir einen Menschen aus dir gemacht haben!“ Dann musste sie lachen, und ein eigentümlicher Klang, der heimtückisch am Grunde dieses Augenblicks lauerte, erinnerte daran, dass dem Universum absolut zu trauen war.


Der Vollmond hing wie eine zu helle Lampe am Himmel. Sein Licht fiel blass auf das Haus. Christian presste eine Hand gegen den hohen Zaun und schloss kurz die Augen. Ein Teil des Eisengitters zerbröselte zu Staub. Der Weg war frei.

„Das will ich auch mal machen“, flüsterte Karen.

„Das ist nicht schwer: Man lockert die Metallmoleküle und lässt sie schwingen. Mit ein wenig Übung müsste es funktionieren.“

Alice rief: „Jetzt schnell zum Gebäude! Es sind keine Wachen in der Nähe. Die Kameras habe ich bereits zerstört. Gleich werden sie alle rauskommen, um zu sehen, was los ist. Also rasch!“ Sie rannte voran. Karen und Christian folgten ihr wie Schatten.

An der Hauswand hielten sie inne. Dank ihrer erweiterten Wahrnehmung wusste Alice, was die Wächter vorhatten; gleich würden sie aus der Tür stürmen, da etwas mit den Kameras nicht in Ordnung war. Das bedeutete, sie mussten einen Augenblick warten, sonst könnte man sie entdecken während sie zum Eingang liefen.

„Das Schloss ist kaputt, dafür habe ich grade gesorgt“, sagte Karen nicht ohne Stolz in der Stimme.

„Gut gemacht“, lobte Alice, dann hielt sie kurz inne. „O nein, ich spüre etwas. Die Schicksalsfäden, sie verlaufen jetzt anders. Eine energetische Präsenz befindet sich in der Nähe. Wir werden sie wahrscheinlich nicht umgehen können. Zuerst müssen wir hoch bis zum Flur, zum Zimmer, in dem der Infizierte liegt. Das Pflegepersonal des Gefängniskrankenhauses wird keine Herausforderung darstellen. Halt, jetzt bekomme ich ein klareres Bild: Ein Wachmann, er ist hier im Haus, nicht draußen wegen der defekten Kameras, wie seine Kollegen. Er zeigt hohe, äußerst hohe Energiewerte.“

„Dann los!“, rief Christian und stürmte die Treppe hinauf. Alice und Karen konnten kaum folgen.

„Jetzt kriegen wir es auch noch, mit diesem komischen energetischen Wachmann zu tun, bevor wir den armen Infizierten, den sie im künstlichen Koma halten, rausholen können“, fluchte Alice, als sie sich ihrem Ziel näherten.

Lange ließ der Wachmann nicht auf sich warten. Als sie oben angekommen waren, sprang er, die Brust imponierend aufgebläht, hinter einer Ecke hervor und positionierte sich direkt vor ihnen. Mit einer geübten Bewegung entsicherte er die Pistole. Alice sah, wie die Fäden des Schicksals vor ihren Augen verschwammen. Sie konnte kein klares Bild erkennen; der Blick auf die künftigen Ereignisse wurde ihr versperrt. Es war ihr unmöglich voraussehen, was der Wachmann als Nächstes tun würde, sie fühlte sich blind. Etwas schien die Zeit zu beschleunigen. Wenn ihre Sinne die Welt nicht anhalten konnten, war sie machtlos. Ihr Bewusstsein musste sich außerhalb der Zeit begeben, dann stünde das Bild einer ausgedehnten Gegenwart vor ihr und es wäre möglich, die nächsten Schritte des Wachmannes vorauszuahnen. Aber genau das funktionierte nicht. Es war für sie immer normal gewesen, für eine kurze Zeitspanne in die Zukunft zu blicken. Nun fühlte sie sich, als müsste sie durch einen finsteren Raum stolpern, die Augen verklebt, die Hände tastend ausgestreckt. Diese Störung der Sinne ging von dem Mann vor ihr aus. Er beschleunigte alles, was um ihn herum existierte.

Christian schien die Situation zu begreifen. Ihm wurde klar, dass er rippen musste, damit er die Waffe des Mannes blockieren konnte, und zwar schnell. Es gelang aber nicht. Mit dem Rippen verhielt es sich ähnlich wie mit dem Blick in die Zukunft: Der Lauf der Welt, der im zeitlosen Bewusstsein erschien, musste einen Moment lang angehalten werden. Der Tanz der Energie stoppte für gewöhnlich, wenn man ihn mit den Augen des reinen Sehens fixierte. Man sah dann eine Blaupause vor sich, ein Datenabbild des Augenblicks, den man verändern wollte. Es war unmöglich, die Realität zu manipulieren, wenn sie sich schlichtweg weigerte, stillzustehen. Genau das tat sie aber. Der Wachmann verstärkte den Energiestrom, der alles in der Umgebung durchzog. Es war kein klares Bild zu bekommen, somit, so erkannte Alice, konnte Christian die Daten, aus denen die Welt bestand, nicht austauschen.

Seiner Fähigkeiten beraubt, sprang er auf den Wachmann zu und umklammerte dessen Handgelenk, um einen gezielten Schuss aus der Pistole des Kerls zu verhindern. Mit rasender Geschwindigkeit wurde Christian herumgewirbelt. Er klatschte gegen die Flurwand. Im Moment seines Aufpralles zeigte die Wand die Struktur von Schaumstoff, weshalb er ohne Knochenbrüche davonkam. Alice hatte gerade noch rechtzeitig den Beton auf der Molekülebene verändern können. es dem Wachmann nicht möglich, auf sie Offenbar war alle drei gleichzeitig achten. Bevor Christian wieder zu sich kam, zischte ein Energieball durch die Luft. Alice duckte sich. Wie ein Blitz schlug er in eine der Türen hinter ihr ein Er hinterließ einen schwarzen Brandfleck. Karen schrie wie irre, ergriff einen von den Stühlen, die hier überall herumstanden, und drosch damit auf den Wachmann ein. Er sackte zu Boden. Christian beugte sich über ihn, streckte seine Hände vor, wie um etwas zu erspüren. „O je, das kann nicht wahr sein“, murmelte er. „Aber holen wir erst einmal den Infizierten.“

Der Infizierte lag in einem typischen Krankenbett. Drei Schläuche versorgten ihn mit dem Wesentlichsten. Man hatte ihn ins Koma versetzt, so konnte man ihn sicher festhalten. „Ich baue einen Tunnel“, sagte Christian. „Die anderen Wachleute werden bald zurück sein, nachdem sie die Kameras auf dem Hof untersucht haben.“

Christian öffnete den Tunnel. Es war, als würde ein Loch in der Welt entstehen. Sie traten ein und im Nu befanden sie sich bei Alice Zuhause.

„Du bist einer der wenigen, die das so perfekt beherrschen: Du hast ihn samt Bett mit in den Tunnel gezogen und mitgenommen“, sagte Alice anerkennend.

„Dennoch, der Wachmann hätte mich beinahe erledigt. Ohne euch wäre ich kaum so glimpflich davongekommen“, stellte Christian fest. „Unser Gegner ist gefährlicher, als ich vermutet habe. Die Kraft, der wir begegnet sind, stammt nicht von der Erde! Es ist die Kraft von Enceladus.“

„Enceladus?“, fragte Alice ungläubig.

„Zweifellos, als er bewusstlos dalag, habe ich in ihn hineingeschaut. Seine Energiebahnen waren nach der Methode von Enceladus geöffnet worden.“

„Könnt ihr mich bitte einmal aufklären, was das zu bedeuten hat?“, fragte Karen ungeduldig.

Alice erklärte: „Europa ist nicht der einzige bewohnte Mond im Sonnensystem. Enceladus besitzt wie Europa einen unterirdischen Ozean. Die Bewohner dieses Mondes hausen in Höhlen unter dem Meeresboden. Seit Langem ist der diplomatische Kontakt zu ihnen abgebrochen. Sie führen immer etwas im Schilde, niemand weiß genau, was. Die elektromagnetischen Eigenschaften von Enceladus haben dazu beigetragen, dass sich dort spezielle Nervensysteme herausbilden konnten. Sie sind fähig, jede Form von Energie zu produzieren und zu manipulieren. Ihre gesamte Wissenschaft basiert aufeine Technik, die feine Energieströme nutzt. Aber das geht weit über den momentanen Erkenntnisstand der Menschen hinaus. Offensichtlich haben sie Kontakt zu den Erdenbewohnern aufgenommen. Ein gefährliches Spiel, denn niemand kann sagen, wie sich die Veränderung des Energieniveaus im menschlichen Körper auswirkt. Sie haben, wie es aussieht, einen Weg gefunden, ihre Energie zu übertragen, um sich die Menschen nützlich zu machen. Die Bewohner von Enceladus verlassen ihren Mond ungern, deshalb brauchen sie die Menschen. Sie benutzen sie als Soldaten. Es hat ein Krieg begonnen,ein krieg gegen Europa.

„Das hört sich nicht gut an“, bemerkte Karen, „aber was sollen wir jetzt machen?“

„Vorerst abwarten, bis die Regierung auf Europa sich dazu äußert“, meinte Christian.

„Zuallererst müssen wir zusehen, dass dieser Infizierte hier aus dem Koma erwacht“, sagte Alice und wies auf den Mann, der vor ihnen wie eine Puppe vim Bett lag.


Dieses Universum schaute aus, als hätte jemand überall farbige Lichter entzündet. Einige Planeten leuchteten so hell, als wollten sie den Sonnen ihren Status streitig machen. Manche von ihnen bewegten sich rätselhaft rhythmisch, wie zu einer improvisierten Musik tanzend. In der Ferne pulsierten Sterne, als wären es brennende Herzen.

Xellox dozierte: „Es gibt Wesen, die diese Ebene des Universums nicht sehen können. Die betreffende Energiefrequenz entzieht sich ihnen gänzlich. Andere können davon etwas während sie schlafen wahrnehmen. Sie leben dann hier in dieser Welt wie die Tiere, da ihr Bewusstsein, ihres Schlafes wegen, sehr getrübt ist. Durchaus gibt es Wesen, die die Dinge klar erkennen und genau wissen, wer sie sind und wo sie sich befinden. In Wahrheit ist es so, dass die Welten sich durchdringen. Manche sind in dieser Welt hier wach, aber wenn sie schlafen, dann nimmt ihr Bewusstsein die andere Welt wahr, nämlich jene, aus der Sie kommen, mein Freund.“

Xellox geleitete Kwang durch bunte Sternennebel, vorbei an seifenblasenähnliche Sonnen, vorbei an Planeten, um die herum transparente Monde tanzten, oder die von Sphären aus Licht und Klängen eingehüllt waren. Vor einem gewaltigen Himmelskörper machte Xellox halt, wandte sich zu Kwang um und sagte: „Zuhause!“

„Aber das ist nicht Enceladus“, widersprach Kwang.

„Das ist Enceladus 2“, entgegnete Xellox. „Auf dem kleinen Saturnmond Enceladus leben nur wenige von uns, eben nur die, welche eine feste Form angenommen haben. Und selbst jene verbringen die meiste Zeit hier.“

„Wenn ihr eigentlich hier lebt, in dieser energetischen Welt, fernab der festen Planeten, warum ist euer Interesse an der Menschheit so groß, dass ihr uns vor diesen anderen Außerirdischen schützen wollt?“

„Nun, das werden Sie rasch begreifen“, sagte Xellox und bedeutete Kwang, ihm zu folgen.

Bald erreichten sie einen seltsamen Himmelskörper. Er bestand aus mehreren durchsichtigen Kugeln, die ineinandersteckten. Xellox behauptete, dass dieses die Erde sei.

„Unmöglich, die Erde schaut ganz anders aus!“, meinte Kwang.

Xellox blieb fest bei seiner Behauptung. Genauso sehe die Erde aus, wenn man ihre stoffliche Natur nicht mehr wahrnähme. Man könne sogar, ein wenig Übung vorausgesetzt, zwischen den Wahrnehmungen wechseln, und somit beide Seiten der Welt sehen. Ein Führer sei fähig, für jemanden, der die Sache noch nicht beherrscht, so etwas zu übernehmen. Wie er es getan habe, als sie Min-Jee besucht hatten. Und für einen Moment schimmerte das satte Blau der Erde durch die glasähnlichen Sphären hindurch. Einen Augenblick später waren nur wieder die durchscheinenden Weltenschalen zu erkennen.

Xellox erklärte: „In der untersten Sphäre existieren diejenigen, die sich kürzlich von ihrem Körper getrennt haben, weil sie schlafen. In der Regel bekommen sie nicht viel mit. Werden sie wach, entsinnen sich mit Mühe an einige Bruchstücke. Diese nennen sie Träume. Aber es gibt auch bewusste Träumer, die sich genauer erinnern. Manche Menschen lösen sich mittels bestimmter Techniken vom Körper. Sie können somit die etwas höheren Sphären besuchen.“

„Davon habe ich gehört, aber ich konnte es nicht glauben. Es werden immer wieder Geschichten von solchen außerkörperlichen Erlebnissen erzählt.“

Xellox nickte zustimmend. Kwang bemerkte, dass sein Begleiter transparent geworden war, ähnlich einem feinen Gewebe.

„Die äußere Form“, erklärte Xellox, „spielt hier keine Rolle. Man nimmt die Form an, die man glaubt, annehmen zu müssen, oder die Form, die man annehmen will.“

Kwang zeigte auf einen Bereich, der recht belebt schien. Er wollte wissen, was sich dort abspiele.

Xellox sagte ruhig zu ihm: „Einen Schritt nach dem anderen. Dieser Ort hat mit Tod und Sterben zu tun.“

Kwang begriff, dass es sich um das sogenannte Jenseits handeln musste. Es war also kein Mythos, es gab eine Existenz nach dem Tod. Sofort bildeten sich unzählige Fragen in seinem Kopf.

„Die Schwierigkeit für die Wesen der Erde, diesen Bereich zu begreifen, liegt an ihrem Zeitverständnis. Für primitive Lebensformen gibt es nur den Augenblick. Entwickelt sich schließlich die Vernunft, bekommt die Vorstellung von Zeit eine übergewichtige Bedeutung. Es werden allerhand Illusionen zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgespannt. Nur vorgeschrittene Wesen haben die Natur der Zeit begriffen, somit auch die Natur der Zeitlosigkeit. Es ist geradezu unmöglich, die Zeit zu begreifen, ohne die Zeitlosigkeit erforscht zu haben. Die wenigsten Menschen können etwas jenseits der Zeit wahrnehmen. Um zum Thema zurückzukommen: Ein Leben nach dem Tod, das ist ein törichter Gedanke und ein Widerspruch.“

„Aber wenn es das nicht geben würde, dann dürfte dieser Jenseitsbereich nicht existieren!“, widersprach Kwang erregt.

„Ein unvollständiges Verständnis der Realität sieht überall Widersprüche“, mahnte Xellox.

Kwang sah ihn scharf an. „Es kommt mir so vor, als wollten Sie mir ausweichen. Ich bin vielleicht nicht so weit entwickelt wie Sie, aber ich bin kein Kind.“

Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich über das durchsichtige Antlitz des Außerirdischen. „Sind Sie sich sicher, dass Sie die Wahrheit verkraften können?“

Kwang nickte.

„Wie Sie wollen. Haben Sie noch existiert, nachdem auf sie geschossen wurde?“

„Sie meinen mit der Betäubungsspritze, die den Stoffwechsel meines Körpers heruntergesetzt hat?“

„Ich meine, nachdem Sie mittels einer Giftspritze erschossen wurden. Erschossen – begreifen Sie Kwang? Ein Betäubungsmittel hat Sie zuerst empfindungslos gemacht, anschließend begann das Gift zu wirken, Ihr Herz hörte auf, zu schlagen, für immer.“

Kwang begriff nicht, wollte nicht begreifen. „Aber ich lebe doch!“, schrie er.

„Man muss nicht immer dort landen, in diesem Jenseits der verwirrten Neuankömmlinge. Für weise Menschen und für jene, die einen Führer haben, gelten andere Regeln.“

Kwang fühlte sich mehr als unbehaglich. „Moment“, sagte er, „Sie machen einen Witz. Das ist Ihre Art von Humor, oder?“

„Wir von Enceladus sind recht humorlos. Aber fahren wir fort, die Situation zu untersuchen! Ihr Herz steht still, Ihr Gehirn wird nicht mehr mit Blut versorgt. Der Körper verliert das Leben. In diesem Zustand befinden Sie sich jetzt. Sie sind nicht tot, Sie sterben gerade!“

„Ich verstehe nichts, gar nichts!“, schrie Kwang. Seine Stimme zitterte. „Wir waren auf der Erde, haben meine Frau besucht, wir sind herumgeflogen, das alles hat Stunden gedauert. Und selbst wenn ich jetzt sterbe, wie kommen Sie hier her? Ich würde, wenn überhaupt, nichts anderes wahrnehmen, als meine eigenen Illusionen.“

Xellox sah ihn mit großen unendlich tiefen Augen an. „Während Ihres Lebens zog das Denken viel Aufmerksamkeit an sich. Das Denken ist stark an die Zeit gebunden. Während des Sterbens verändert sich das herkömmliche Denken, es löst sich vom Zeitempfinden. Dass die Geschehnisse einer gewissen Abfolge von Ursache und Wirkung folgen, liegt allein daran, dass Ihr Geist an Gewohnheiten hängt. In Wahrheit gibt es das alles nicht. Die Wahrnehmung ist ein zeitloser Raum ohne Grenzen, in dem etwas erscheint, was man als Zeit oder Form bezeichnet.“

„Könnte man in dieser unbegrenzten Wahrnehmung alle Träume träumen und gleichsam in jeden Traum hineingehen und ihn für wahr halten?“, wollte Kwang wissen.

„Ja, im Prinzip ist es so. Jeder dieser Träume hätte seine eigene Dauer, Stunden, Monate, Jahre. Aber nur innerhalb der Traumwelt, in Wahrheit vergeht keine Zeit, da alles im endlosen Bewusstsein stattfindet, das zeitlos ist.“

„Wie dem auch sei, aber wie kommen Sie ins Spiel? Sind auch Sie nur ein Traumbild meines sterbenden Gehirns?“

„Noch ist Ihr Geist voller Unwissenheit, Kwang. Sie glauben, das Sterben endet mit dem Tod. Das ist eine Illusion. Sterben ist ein ständiger Prozess, ebenso wie die Geburt. Sterben und geboren werden – daraus formt sich das Leben. Jeder Augenblick wird geboren und stirbt. Nichts ist von Dauer. Auch denken Sie, Sie hätten ein Bewusstsein. Das haben Sie nicht! Derjenige, der Sie meinen zu sein, existiert innerhalb des Bewusstseins. Es ist nur ein Gedanke. Eine vorübergehende Entladung im Gehirn, sonst nichts. Sie haben nie existiert, sie werden niemals existieren! Alle Sterne und Welten befinden sich in einem Raum, der immer ist, war und sein wird, ebenso befinden Sie sich selbst darin. Es ist ein Tanz, der dort stattfindet. Sobald sich eine Tanzbewegung ändert, scheint etwas zu sterben und etwas anderes geboren zu werden. Die Bewegung hat keine unabhängige Existenz. In Wirklichkeit wird nie etwas geboren und nichts stirbt. Aber es sieht so aus, als ob es geschehen würde. Wir blicken wie gebannt auf den Tanz, wir halten die Geschichte, die getanzt wird, für wirklich. Wir mögen Dinge sehen, die wir begehren, Dinge, die wir fürchten, wichtige Dinge, Dinge, die wir hassen. Und wir sehen uns, sehen unsere Meinungen, unsere Vorstellungen, sehen, wie wichtig wir sind. Aber es gibt uns nicht. Nicht als das, was die meisten glauben, zu sein. Es existiert allein der Tanz, der die Tänzer tanzt. Auf der Erde sah ich Ozeane ohne Eisschicht darüber. Auf diesen Ozeanen tanzen Wellen. So sind wir. Wir sind Wellen. Die Wellen aber sind letztlich nur die Bewegung des Wassers. Der Sterbeprozess, den Sie durchmachen, hat die Identifikation mit den Erscheinungen der Materie etwas gelockert. So können Sie sich frei durch den Raum bewegen, ohne Körper. Was unsere Spezies betrifft: Wir müssen nicht erst auf den körperlichen Tod warten; wir können uns zu jeder Zeit vom Stofflichen lösen. Da wir auf mehreren Energieebenen leben, stellt es kein Problem für mich dar, Sie zu begleiten. Für die Menschen allerdings sind Sie nun so etwas wie ein Gespenst. Das reicht vorerst an Erklärungen.“

„Mir dreht sich schon alles. Ich werde nicht zur Erde zurückkommen? Also zumindest nicht körperlich … Ich werde … Meine Güte, Min-Jee, sie ist Witwe! Aber wir wollten ein Kind haben, Eltern sein. Mein Leben, es ist fort. Ein Toter bin ich, dazu verdammt, mich selbst zu überleben! Ich will zurück, ich will mein Leben zurück!“

Nach einem bedeutungsschweren Schweigen sagte Xellox: „Ich habe geahnt, dass Sie sich aufregen werden. Es ist nicht weise, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Aber lassen Sie es sich gesagt sein: Es ist ein guter Tod. Wir bewahrten Sie vor dem ersticken. Eine schreckliche Qual. Und Sie waren nicht allein. Ich bin Ihnen gleich zur Seite gewesen. Sie haben Min-Jee besuchen können. Jetzt können Sie sogar die Erde retten! O ja, ich verstehe die Trauer ihretwegen. Aber das, was an der Liebe egoistisch ist, wird früher oder später vergehen, was an ihr wahr ist, wird bleiben. Es ist eine physikalische Formel, die allerdings auf vielen Welten noch nicht entdeckt wurde. Kommen Sie mit mir, sehen wir uns die inneren Sphären der Erde an!“

Als Xellox den letzten Satz ausgesprochen hatte, fand sich Kwang in einer kuriosen Landschaft wieder. Über allem lag ein Schimmer von Rot und Violett. Er sah viele Menschen um sich herum, sie zankten sich und schlugen aufeinander ein. Sie versuchten, irgendwelche nutzlosen Dinge aufzuheben und in Sicherheit zu bringen. Aber immer wieder wurden ihnen diese Dinge von anderen fortgenommen, weswegen sie verzweifelt fluchten und schrien. Gelang es jemanden, einige sinnlose Sachen beiseitezuschaffen, zerfielen die vermeintlichen Schätze zu Staub. Diese Welt bestand aus Kämpfen und Jammern. Hier konnte niemand Frieden finden. Überall Schmerz und sinnlose Hoffnung.

Kwang bemerkte die schlanke Gestalt seines Führers neben sich. „Sehen Sie sich um“, sagte Xellox, „das ist der größte Bereich des Jenseits der Erde. Stirbt ein Wesen, so entfalten sich hier seine Anlagen ungehinderter als, sie es im stofflichen Körper getan haben. Viele sind angefüllt mit Hass und Gier, sie klammern sich an Dinge und widersetzen sich dem Fluss des Lebens. Ja, auch hier fließt der Fluss des Lebens, hier, im Reich der Toten. Jeder wird von dem Ort angezogen, der seinem Wesen entspricht. An diesem Platz hat man sich eine Art Hölle erschaffen. Alle spielen mit und sind geradezu begeistert, hofft doch ein jeder auf seinen Vorteil oder auf Vergeltung. Dabei ist alles umsonst. Loslassen wäre so einfach. Das Jenseits gleicht dem Diesseits, allerdings mit gesteigerten Begierden.“

„Und ich? Wäre ich dort auch gelandet, ohne Sie?“

„Nein, Sie wären in der Sphäre der depressiven Grübler gelandet und hätten sich heulend an die Ruinen der Vergangenheit geklammert. Dabei ist die Vergangenheit schon vorbei, wenn man sie als Vergangenheit bezeichnet. Aber nun sollten wir diesen Ort verlassen. Sehen Sie das dort, da hinten?“

Kwang nickte. Er erblickte etwas, es schaute aus wie ein metallener Delfin.

„Das ist unser Raumschiff“, erklärte Xellox.

„Wieso Raumschiff? Wir brauchen doch keines. Wir können doch fliegen. Wir sind wie diese gottverdammten Engel!“

„Es ist eine Frage des Ambiente“, entgegnete Xellox. Außerdem wolle er ihm etwas zeigen. Sie schwebten zum Raumschiff, dessen Tür sich von selbst öffnete und den Blick auf eine geräumige Steuerzentrale freigab. Kwang ließ sich auf einen der gelblichen gelatineartigen Sitze fallen, mit dem er fast zu verschmelzen schien. Xellox nahm neben ihm Platz und bediente einen Hebel, der wie ein Tentakel aus dem Sitz herausgewachsen kam. Ein Bildschirm vor ihnen zeigte das feinstoffliche Universum. „Wir müssen ordentlich vergrößern“, murmelte er, „wir werden zwar keine Details erkennen, aber es kommt auf das große Ganze an!“

„Ich sehe ein Spinnennetz aus Lichtfäden. Zwischen den Maschen des Netzes leuchten irgendwelche Punkte.“

„Nun, das sind sie, Kwang. Eure Aliens, die Bewohner von Europa. Das ist ihre bevorzugte Erscheinungsform. Es haben sich hier Tausende von Individuen zusammengeschlossen zu einem Geist. Und es findet mehr statt als nur der Austausch von Informationen. Jeder Einzelne ist auch das Ganze.“

„Und diese großen blauen Flecken, die das Netz umsäumen?“

„Diese Flecken sind ihre Flotte, ihre Kriegsflotte, es sind Waffen. Ihr Ziel sind die Bewohner von Enceladus. Wir befinden uns bereits im Krieg mit ihnen. Es wird nur noch nicht scharf geschossen. Auf der Erde nennt man das einen kalten Krieg.“

„Das heißt, dieser Krieg kann heiß werden“, ergänzte Kwang.

Xellox nickte. „Das ist das Wesen eines Kalten Krieges. Er ist die ständige Androhung von Gewalt.“

„Und jetzt ist der kritische Punkt erreicht?“

„Das stimmt.“

„Es hängt mit der Erde zusammen?“

„Sie sind sehr scharfsinnig Kwang.“

„Warum aber wollen Sie die Menschheit vom Einfluss der Europabewohner befreien? Das kann doch den Krieg auslösen.“

„Unsere Einmischung hat Gründe, wichtige Gründe. Aber alles zu seiner Zeit. Seien Sie versichert, dass Ihr Einsatz und Ihre Beziehung zu Min-Jee eine große Rolle spielen werden. Es geht um das Schicksal von drei Welten. Min-Jee ist der Schlüssel. Sie wird viel Kraft brauchen und viel Wissen.“


Andy war wie gebannt. Min-Jees Haare Standen empor, sie breitete ihre Arme aus, wie um alle zu umfangen, die vor ihr saßen. Funken flogen aus ihrem Kopf, zischten als schlanke Blitze aus ihren Fingern heraus. Energie floss durch den Boden und knisterte in der Luft. Es schien so, als täte sich der Himmel auf, obwohl oben ja die Zimmerdecke hing. Und es war, als regnete es Tropfen aus Licht. Sie gingen einem jeden unter die Haut und tiefer, bis hinein in die Seele. Was da niederregnete, waren die Worte Min-Jees, gleichsam aber auch etwas, was vom Himmel, von den Sternen kam. Min-Jee hob vom Boden ab und schwebte durch den Raum, während sich ein gewaltiger Strom der Gnade über die Anwesenden ergoss. Alle Zweifel wurden weggeschwemmt.

„O Mann, das ist ja geil!“, rief Leo aus.

Beate und Andy stimmten ihm zu, sie waren wie die anderen im Raum in einem himmlischen Zustand. Eine seltsame Energie brannte ihnen süß in den Adern.

Min-Jee sagte: „Einige arbeiten für die Polizei oder einen der Geheimdienste. Manche von denen, die sich hier versammelt haben, mögen das kritisch sehen, da diese Institutionen vom Staat missbraucht wurden. Die Regierung, die das Land seit Monaten aus dem Exil lenkt, konnte den Aliens und deren Agenten nichts entgegensetzen. Stattdessen bespitzelt der Staat die Bürger und missachtet ihre Rechte. Wobei einige das Tun der Regierung rechtfertigen, es als Versuch ansehen, die Welt zu schützen. Wir müssen uns über alle Unterschiede hinwegsetzen, wenn wir uns einig sind, können wir die Gefahr bekämpfen. Wir trinken aus einer Quelle und sollten handeln wie ein einziger Mensch. Viele wurden von den Außerirdischen mit ihrer Weltsicht infiziert. Sie haben gewisse Fähigkeiten von ihnen bekommen, sodass wir gegen sie machtlos waren. Nun wird das Blatt sich wenden. Wir haben ihnen etwas entgegenzusetzen.“

Beate rief: „Ja, und wir sind kurz vor dem Sieg!“

Min-Jee lächelte. „So ist es. Wir können große Erfolge verzeichnen. Wir haben die Invasoren in ihre Schranken verwiesen. Leider mussten wir in Kauf nehmen, dass unser Kampf immer härter wurde und es Opfer zu beklagen gab. Aber sie werden langsam begreifen: Sie können sich nicht so leicht auf unserer Heimatwelt festsetzen. Acht Monate haben wir Schulter an Schulter gekämpft. Bald werden wir die Früchte unserer Taten sehen.“

Min-Jee gab ein Zeichen. Die Versammelten erhoben sich und verließen den Raum glücklich, lächelnd und siegesgewiss.


Draußen erstrahlte die Welt im Sonnenlicht. Die Zeit sei so rasch vergangen, meinte Andy, und es käme ihm überhaupt nicht so vor, dass sie schon monatelang mit den himmlischen Energien gegen die Infizierten und die Außerirdischen kämpften.

„Bald werden sie am Ende sein. Sie werden aufgeben. Die Opfer auf beiden Seiten haben sich gelohnt“, meinte Beate.

In diesem Moment tauchten drei Gestalten vor ihnen auf, zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen stürzten sich auf Andy, indem sie nach seinem Kopf griffen. Er schrie panisch. Der Mann stellte sich ihnen und wollte Beate und Leo den Weg versperren.

„Zur Seite!“, schrie Leo und feuerte einen Energiestrahl von seinen Händen ab. Der Fremde verteidigte sich, er materialisierte blitzschnell einen Schild. Diese drei waren offenbar mächtiger als die meisten Infizierten. Leo feuerte einen weiteren Energiestrahl auf den Mann ab. Die Wucht des Strahles zerfetzte den Arm des Fremden. Es roch nach verbranntem Fleisch. Blut kleckerte aus dem Stumpf und bildete eine Pfütze auf dem Gehweg. Andy bekam mit, wie die beiden Frauen von ihm abließen. Ersah das viele Blut, es bildete eine Pfütze. Beate und Leo standen wie gelähmt herum. Eine der Frauen rief der anderen zu, indem sie auf den Verletzten zeigte, man müsse einen Tunnel bauen, sonst schaffe er es nicht. Ihre Komplizin versprach, dass sie ihr Bestes tun werde. Unversehens tat sich ein Loch auf. Es erinnerte an einen Wasserstrudel und gleichsam an ein gewaltiges Maul.


Grau war die Decke, grau die Wände. „Wo bin ich?“, hörte Andy sich fragen.

„Auf deiner Pritsche, wo sonst?“, murmelte sein Zellengenosse.

„Wieso bin ich wieder hier?“

„Mann, musst du wirre Träume haben!“

„Verdammt, das hat sich aber überhaupt nicht wie ein Traum angefühlt! Monatelang war ich draußen, ich wurde doch entlassen ...“

Sein Zellengenosse winkte ab. „Typisch Knastkoller. Glaube mir, du warst hier, die ganze elende Zeit. Morgen kommst du raus. Jetzt nur nicht noch am letzten Tag durchdrehen!“

„Aber ich war doch bei Min-Jee und dann …“

„War sie gut im Bett?“

„Sie verstärkt Energie“, erklärte Andy, „und dann kamen diese zwei Frauen und sie haben etwas mit meinem Kopf gemacht. Ich habe eine weite Ebene gesehen, darin klaffte ein Loch. Ich fiel hinein, tiefer und tiefer. Unten leuchtete es. Es war verdammt hell. Ich fiel mitten ins Licht hinein. Dann wurde es weit, grenzenlos. Nur noch reines Bewusstsein existierte. Ich verwandelte mich, spürte die Anwesenheit anderer, die mit mir verbunden waren, so als teilten wir einen einzigen Geist. In mir kreiste auch noch die Energie, die ich von Beate – ich glaube, ich habe schon von ihr erzählt, meine Freundin – und von Min-Jee erhalten habe. Min-Jee ist die Quelle der Kraft. Diese Energie vermengte sich mit dem Raum, der Bewusstsein war. Ich erinnerte mich an eine frühe Phase der Menschheit, an so etwas wie einen Ursprung. Aber alles ist wie verschleiert. Dann wurde ich wach.“

„O Mann, du bist echt weit weg gewesen. Das kommt vom Knast, glaube mir Bruder. Weil hier alles eintönig ist, weil du nicht wirklich weißt, warum du hier bist, wird dein Traumleben immer wilder. Ich kenne das, ich kenne das. Morgen bist du draußen Mann. Jetzt drehe nicht durch. Alles wird gut.“

„Du hast wahrscheinlich recht. Es war wohl ein Traum, ein verdammt echter Traum“, sagte Andy, während er genau wusste, dass es kein Traum war. Er hielt es aber für besser, nicht weiter darüber zu reden, zumal er sich immer genauer entsann, was wirklich passiert war: Er lag am Boden, sein Atem hatte angehalten. Seine Augen waren offen, er konnte sie aber nicht bewegen. Dennoch erkannte er, wie das seltsame Loch, durch das die Angreifer geflohen waren, nochmals auftauchte. Ein mächtiger Sog ergriff ihn und nahm ihn mit sich. Er fand sich in einem kargen Zimmer wieder – kahle Wände, einige schmucklose Stühle. Sein Hals weitete sich, Luft strömte in seine Lungen. Ihm wurde das Leben wiedergeschenkt. Er fühlte sich so, als würde etwas Ähnliches wie die Energie Min-Jees in ihn eindringen. Es schien nur stiller zu sein, ein bewegungsloses Fließen, ein Fluss von Anhalten. Es ergab keinen Sinn und konnte nicht erklärt werden. Wenn Min-Jees Energie eine bewegte Ekstase auslöste, einen Tanz mit den Formen der Welt, wurde er nun von einer seltsam stillen Gewalt ergriffen, die einen Teil von ihm in die Tiefe zog, während er gleichzeitig an der Oberfläche blieb, im gegenwärtigen Moment. Er sah, wie eine der Frauen, die seinen Kopf bearbeitet hatten, auf den Mann zuging, dessen Arm von Leos Energiestoß abgefetzt wurde. Sie blieb vor dem Verletzten stehen und breitete die Arme aus. Der Mann hörte abrupt auf zu bluten. Eine Wand öffnete sich und zwei Leute betraten den Raum. Ihre Gesichter wirkten ausdruckslos. Stumm gingen sie auf den Verletzten zu, musterten ihn und verließen mit ihm das Zimmer.

Nun war Andy mit den beiden Frauen alleine. Er verspürte eine unerklärliche Nähe zu ihnen. Der Mann, der soeben den Raum verlassen hatte, schien auch noch seltsam gegenwärtig. Ihm war zumute, als fühle er Tausende, ja Millionen Wesen in sich. Diese trieben auf einem bodenlosen Ozean. Das Universum mit all seinen Sonnenfunken schwamm auf der Oberfläche seines schwarzen Wassers, war nicht mehr als Spiegelung einer fernen Wirklichkeit. Es öffnete sich ein neues Auge, mit dem er besser sehen konnte, als er es jemals zuvor getan hatte.

„Wir besitzen alle dieses Auge“, sagte eine der Frauen, die genau verstand, was in ihm vorging.

„Ich hatte es früher schon gespürt. Hier sammelte sich Energie an. Nun ist es aufgegangen. Einfach aufgegangen.“

Die Frau nickte. „Es wäre irgendwann wieso passiert. Es wird von Energie geöffnet, oder vom Bewusstsein.“

Andy wunderte sich, dass er nicht das Bedürfnis hatte, Fragen zu stellen, Fragen, die angebracht wären, wie: Wo bin ich? Was hat das alles zu bedeuten? Aber ihm wurde klar, dass die Dinge geschahen, wie sie geschehen sollten.

„Ich bin Alice“, sagte eine der Frauen.

„Ich heiße Karen“, sagte die andere.

„Ich bin vom Mond Europa“, ergänzte Alice.

„Ich bin eine Infizierte“, sagte Karen. „Du bist in Sicherheit. Dir wird nichts geschehn.“

Alice nahm den Faden wieder auf, den sie fallen gelassen hatte. „Die beiden Augen, mit der wir die Welt betrachten, blicken nach außen, das dritte Auge schaut nach innen. Die Augen, die nach außen blicken, sehen die Gegensätze, das Auge aber, das nach innen schaut, sieht die Einheit.“

„Ach könnte ich doch immer so sehen, wie ich jetzt sehe“, schwärmte er.

„Es ist das ursprüngliche Sehen“, fuhr Alice fort, „es ist dein natürlicher Blick. Nichts Besonderes. Weil du gelernt hast, ständig nach außen auf die Dinge zu starren, hast du vergessen, dem zu vertrauen, was nach innen schaut. Deshalb erscheint dir der einheitliche Blick so außergewöhnlich. Im Moment siehst du, was sieht. Aber vorerst müssen wir einen Schleier über dieses Sehen legen, zu deiner Sicherheit. Du wurdest auserwählt für eine wichtige Aufgabe.“

Obwohl Andy ein nicht erklärbares Vertrauen zu den beiden Frauen verspürte und zu dem, was Alice gesagt hatte, schoss aus ihm die Frage heraus: „Und was, wenn ich mich weigere?“

„Das wirst du nicht tun“, behauptete Karen und sie schien dabei sehr von ihren Worten überzeugt.

„Das wäre das Ende“, fügte Alice hinzu.

„Das Ende wovon?“, wollte er wissen.

Alice blickte ihm ernst in die Augen. „Das Ende von allem.“

„Von allem?“

„Ja, von allem“, bestätigte Alice. „Das Ende vom Mond Europa und seinen Kolonien, das Ende der Erde und auch das Ende von Enceladus.“

„Enceladus?“

„Das ist die Macht, in deren Auftrag eure Führerin Min-Jee arbeitet“, erläuterte Alice.

„Also stecken auch da Außerirdische dahinter!“

Alice schwieg einen Moment lang, dann fuhr sie fort: „Ja, Außerirdische, die den Planeten Erde an den Abgrund gedrängt haben. Sie halten sich im Hintergrund auf und ziehen die Fäden. Min-Jees Leute wären weniger motiviert, wenn sie wüssten, in wessen Auftrag sie handelt. Aber so sieht es wie der Widerstand der Menschen gegen uns aus. Obwohl er in der Praxis sich gegen andere Menschen richtet.“

„Ja, gegen uns Infizierten“, sagte Karen, „Diese Infektion ist eine freiwillige Sache, sie funktioniert nur bei Menschen, die dazu bereit sind. Es setzt eine Resonanz voraus, ein inneres Einverständnis, um die Hilfe anzunehmen, mit der sich der Geist aus den Verstrickungen der Illusion befreien kann. Dem getrübten Menschengeist, der sich oft mit Gier und Hass vergiftet, musste etwas entgegengestellt werden: eine klare Sichtweise!

Es gibt eine Alternative. Wir müssen uns nicht länger ausrotten und quälen. Das ist es doch, was die Menschheit bisher getan hat, oder? Ja gewiss, es wird vertuscht, man nennt es gesundes Konkurrenzdenken, oder bezeichnet es als Kampf für die Freiheit und Demokratie. Am Ende ist es aber Krieg, natürlich für die gute, gerechte Sache.“

„Und nun hat sich gezeigt: Die Hilfe Außerirdischer, führt zu einer neuen Katastrophe“, unterbrach Andy.

Alice nickte. „Ja, so ist es. Wir rechneten nicht damit, dass die Enceladusaner eingreifen würden. Es hat immer diplomatische Spannungen zwischen uns gegeben, aber nie hätten wir gedacht, dass sie derart aggressiv vorgehen würden. Wir haben die Fäden des Schicksals beobachtet und eine glückliche Zukunft erblickt. Offenbar ist es ihnen gelungen, unsere Wahrnehmung der Schicksalsfäden zu trüben. Die Situation ist ernst. Dein Freund hätte beinahe einen der unsrigen getötet. Die Führung auf Europa muss auf solche Zwischenfälle reagieren. In diesem Moment, in dem wir hier reden, wird das Gleichgewicht der spannungsvollen Koexistenz zwischen Europa und Enceladus zusammenbrechen. Es ist zu spät. Der Krieg hat begonnen und hält die Erde umklammert. Die Menschheit ist bald nur noch Geschichte. Wir befinden uns momentan in unserer Kolonie auf dem Grund der Tiefsee. Selbst hier ist es nicht sicher. Um die Situation zu verändern, brauchen wir Zeit. Die rennt uns leider davon.“

„Bedeutet das, wir können nichts mehr machen, weil die Erde bereits in Flammen steht und jedes Leben ausgelöscht wird?“

„Es ist fünf nach zwölf, wie man auf der Erde sagt.“ Alice blickte in den Raum, wie um nach den richtigen Worten zu suchen. „Manches Mal entstehen Kriege nicht, wie meistens, aus Dummheit, Gier und Ignoranz, sondern dadurch, dass Konflikte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben. Bis zu einem Punkt kann man alles friedlich lösen, wenn die Streitigkeiten klein sind. Etwas später kann man die schlimmsten Folgen mit Mühe abwenden. Danach geht nichts mehr, dann bleibt einem nur noch zuzusehen, wie die Katastrophe sich ausbreitet und alles verschlingt. Bald ist der Punkt ohne Umkehr erreicht. Es gibt noch eine letzte Möglichkeit. Um diese zu nutzen, bist du hier!“

„Ich soll die letzte Chance sein? Der Weltenretter, wie in einem schlechten Roman?“

Karen ergriff das Wort. „Der Keim des Unglücks, das über uns kommt, war harmlos, bevor die Leute Min-Jees die staatlichen Behörden unterstützten. Sobald sie aufgetaucht war, beobachteten wir sie so gut, wie es ging. Außerirdische oder Infizierte konnten ihr aber nie nahekommen, sie hätte uns sofort entdeckt, wegen unserer energetischen Frequenz. Im Augenblick hast du an den Segnungen des Einheitsbewusstseins teil und alles Enge, was du zuvor Ich genannt hattest, ist fort. Wir werden dir dieses neue Sehen wieder nehmen. Eigentlich kann man es ja nicht einfach wegnehmen, aber deine Gedanken werden es überdecken. Somit wird deine Frequenz wieder die eines normalen Menschen werden, unverdächtig für Min-Jee.“

„Aber ihr habt gemeint, es ist schon zu spät. Fünf nach zwölf oder so.“

„Nun höre weiter“, sagte Alice und erklärte Folgendes: „Während unserer Beobachtungen haben wir in den letzten Monaten alle überprüft, die mit Min-Jee Kontakt hatten. Darunter war auch Beate, deine Freundin. Bei weiteren Nachforschungen stießen wir auf deine Geschichte. Du hast im Gefängnis gesessen wegen staatsfeindlicher Umtriebe. Leider beinhaltete deine Ideologie nicht nur eine Ablehnung der Methoden des Staates, sondern du hast auch unsere Politik missbilligt. Somit schien es vorerst so, als wärest du für unsere Zwecke nicht zu gebrauchen. Wir erfuhren, dass du nach deiner Entlassung einer von Min-Jees Anhänger geworden bist. In der verzweifelten Situation, in der wir uns befanden, kam uns die rettende Idee: Noch könnte alles gut werden. Es müsste uns nur gelingen, dich zu überzeugen. Du hast unwissentlich für eine außerirdische Macht gearbeitet, nachdem du zu Min-Jee gegangen bist. Hättest du das vorher gewusst, wären wahrscheinlich deine Handlungen anders gewesen. Jetzt hast du die Chance, es vorher zu wissen. Du kannst alle retten, uns, die Erde, dich und diese verfluchten Enceladusaner!“

„Ich verstehe nichts, gar nichts. Von welcher Chance sprecht ihr?“

Alice sah in fest an. „Es handelt sich um die Möglichkeit, in der Zeit zurückzugehen.“

„Moment mal reden wir hier von einer Zeitreise? So etwas gibt es nur in Filmen. Es ist in der Realität nicht möglich, zumindest nicht zurück in die Vergangenheit.“

Alice sagte: „Die Sache verhält sich so: Eine Reise in die Zukunft ist einfach. Euer Einstein hat die Grundlagen ja berechnet, nur wieder zurück ist schwierig. Nun zur Reise in die Vergangenheit. Sie ist nicht ungefährlich und kann nicht oft durchgeführt werden. In unserem Fall haben wir nichts zu verlieren. Du reist nicht mit dem Körper in die Vergangenheit, sondern deine Erinnerung, dein Geist geht zurück. Das heißt, du wirst nicht zweimal da sein, sondern dich in deinem alten Körper wiederfinden. Die technischen Details würden dich nur langweilen. Wichtig ist: Wir müssen Min-Jee entladen und ihre Energiequelle finden. Min-Jee ist der Schlüssel. Sie ist dazu gezwungen immer neue Energie auf ihre Anhänger übertragen, damit diese nicht ihre energetischen Fähigkeiten verlieren. Mich und Karen würde sie unter normalen Umständen sofort aufspüren, wenn wir ihr nahekämen. Sie besitzt einen starken inneren Radar. Aber du, du kannst dich ihr nähern und ihren Radar täuschen. Wir sagen dir, wie das zu bewerkstelligen ist und wann es passieren soll. Das ist unsere Hoffnung.“

Es wurde immer wärmer. Der Schweiß ließ sein Hemd am Leibe kleben. „Warum ist es so warm hier?“

„Das Meer, es beginnt zu verdampfen. Der Krieg ist im Gange“, sagte Alice ausdruckslos. Ein bläuliches Licht strahlte dabei aus ihrem Herzen und erfüllte den Raum mit seltsamen Glanz. Alles drehte sich um Andy und seine Sinne weigerten sich, irgendetwas wahrzunehmen.


Andy schüttelte die Erinnerung ab wie lästiges Insekt. Er fand sich im Gefängnis wieder. Sein Zellengenosse, ein Muslim, betete gerade. Es war wirklich passiert, sie hatten ihn zurückgeschickt, einfach so, durch die Zeit. Jetzt war wieder damals. Alles sollte noch einmal geschehen, nur ein wenig anders, zumindest was Min-Jee betraf. Jetzt wusste er, was die Zukunft bringen würde: das Ende der Erde. Sie hatten es geschafft, er konnte es nicht fassen, aber es war real. Nichts konnte realer sein wie eine Gefängniszelle. Er war in der Vergangenheit, nur ohne sein altes Selbst. Das existierte nur noch als Erinnerung in ihm. Konnte er die Vergangenheit wirklich verändern? Hatte man ihn zurückgeschickt, oder die gesamte Zeit zurückgedreht? Er hörte auf, darüber nachzudenken. Er würde, sagte er sich, wieso keine Antwort darauf finden. Vielleicht gab es mehrere Welten, verschiedene Zeitlinien. Wie auch immer, er hatte das Ende der Welt zu verhindern. Er hoffte, dass die Bewohner von Europa wussten, was sie taten, wenn sie mit der Zeit herumspielten. Sicher aber war das nicht, es könnte auch ein letzter Akt der Verzweiflung gewesen sein, der sie zu einer unbedachten Handlung getrieben hatte. Die einzige Möglichkeit seiner Aufgabe gerecht zu werden, war, bedingungslos daran zu glauben, dass die Aliens richtig entschieden hatten. Er schaute zu seinem Zellengenossen rüber, der sich auf den Boden niedergehockt hatte und sich inbrünstig seinem Gott unterwarf.


Ratsherr Zarzar trat ein. Er blickte sich mit strenger Miene um. „Recht ordentlich für die hiesigen Verhältnisse“, murmelte er. Man merkte es an seinen Bewegungen, dass er erst seit Kurzem diese Körperform besaß. Er kämpfte etwas unbeholfen gegen die Schwerkraft. Mit leichtem Humpeln ging er auf das Sofa zu und ließ sich darauf fallen. „Wirklich hübsch hier Alal“, lobte er. Es war klar, dass es sich hierbei um eine Höflichkeitsfloskel handelte. Sie gehörte auf Europa zum Standardrepertoire.

„Alice!“

„Wie bitte?“

„In dieser Form, die ich auf der Erde annehme, heiße ich Alice!“

„Gewiss doch, Ihre Tarnung muss ja stimmen“, bestätigte Rat Zarzar.

„Es ist mehr als eine Tarnung, es ist die Erweiterung meiner Identität“, stellte Alice klar.

Der Ratsherr fand sich gewiss in seiner Meinung bestätigt, dass diese Kolonisten auf der Erde, die eine menschliche Form angenommen hatten, äußerst eigenwillig waren, dachte Alice. Er blickte zu Chrochro hinüber, der im Prinzip als ein vorzüglicher Bürger Europas gelten könnte, wenn er nicht dazu neigen würde, seinen Patriotismus zu übertreiben. Seinetwegen musste ein Mann wie Philphil halb verblödet auf einem Acker herumbuddeln, irgendwo in der Einöde dieses verdammten Planeten. Das waren nicht ihre Gedanken, sie hatte sie von Rat aufgefangen, teilte sie aber durchaus, so dass es ihre hätten sein können. Der Rat richtete seinen Blick auf Karen. Er zwang sich dabei zu einem Lächeln – eine der wenigen örtlichen Verhaltensweisen, die man ihm in der Eile implantiert hatte.

Als sich alle gesetzt hatten, begann der Ratsherr seine Ansprache. „Die Situation ist ebenso verwickelt wie gefährlich. Die Analyse der Energie, die Chro ... oder besser Christian bei dem Wachmann vorgenommen hat, mit dem er, wie wir wissen, bei der Befreiung eines Infizierten zusammengestoßen ist, bestätigt unseren Verdacht. Aber das wurde Ihnen bereits mitgeteilt. Enceladus steckt dahinter. Jeder diplomatische Kontakt zu ihnen ist seit Langem eingestellt worden. Wir beobachten uns seit Jahrhunderten gegenseitig und halten die Drohung aufrecht, einen Krieg führen zu können, wenn wir es wollten. Alles in der Hoffnung, somit einen Krieg zu verhindern. Eine Strategie, die auch auf der Erde bekannt ist. Man nennt sie hier Abschreckung. Ein riskantes Spiel, gewiss, aber es hat bisher funktioniert, jedenfalls solange, bis die Erde ein Spielstein in diesem Spiel wurde. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Kolonie.“

„Der Rat von Europa hat die Kolonie gebilligt“, warf Alice ein.

„Das ist richtig“, bestätigte Rat Zarzar, „Allerdings als Kolonisten auf der Erde mit dem Infizieren begannen, beobachteten einige Mitglieder des Rates oben auf Europa das mit überaus kritischen Blicken. Aber letztlich vertraute man einem unserer Besten. Ich rede hier von Ihrem Bruder, Alice. Die Situation änderte sich. Als die Regierungen der Erde witterten, was los war und Angst bekamen, sie könnten die Kontrolle verlieren, griffen die Infizierten und die Kolonisten aktiv ins Geschehen ein. Eine Art Revolution wurde ausgelöst. Sie kennen die Geschichte so gut wie ich. Alles schaukelt sich hoch, Unterdrückung auf der einen Seite, Aufstände auf der anderen. Deutschlands Regierung, eine Mischung aus Korruption und Trägheit, agiert zurzeit aus dem Exil. Oppositionelle Kräfte sind bereit, die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Während dieses alles geschieht, sitzen die Enceladusaner auf ihrem blassen Mond und beobachten das Ganze missmutig. Sie blättern in Jahrtausende alten Verträgen, an die sich bei uns kaum jemand erinnert, welche die Enceladusaner aber noch für gültig halten. Sie blättern und blättern und finden natürlich auch eine Stelle, über die sie sich aufregen können. Man weiß, es sie sind Pedanten, für sie gelten Verträge für alle Ewigkeit. Diese Paragrafenreiter würden deshalb auch niemals eines ihrer dürren Beine auf die Erde stellen. Aber sie haben ja andere Wege gefunden, um ihre Pedanterie und giftige Aggressivität auszuleben. Wir wissen zwar nicht, wie sie den Kontakt zu einem Menschen hergestellt haben, trotz ihrer Paragrafentreue. Irgendwie ist es ihnen dennoch gelungen. Vielleicht gab es eine Lücke in einem ihrer halb verrotteten Verträge. Inzwischen haben Sie ja die Quelle der feindlichen Energie aufgespürt, diese Min-Jee. Das war eine kurze Zusammenfassung der momentanen Situation. Jetzt ist die Frage zu klären, ob wir uns im Krieg befinden, oder kurz davor. Wenn wir die Leute der Min-Jee als Söldner wahrnehmen, die im Auftrag von Enceladus handeln, können wir von einem kriegerischen Akt sprechen. Andererseits sind es Menschen, die sich uns entgegenstellen. Offiziell haben die Enceladusaner nichts damit zu tun. Aber natürlich stecken sie dahinter, sie führen einen verdeckten Krieg. Europa muss handeln. Die Fäden des Schicksals zeigen eine Richtung auf, die nicht allzu hoffnungsvoll stimmt.

Da uns die Sache alle betrifft, sind die Sonderrechte der Kolonie aufgehoben. Der Rat der Kolonie wird für die Dauer der Ausnahmesituation den Weisungen des Rates auf Europa unterstellt. Von Ihnen verlangt der Rat, alles Mögliche zu unternehmen, um Min-Jee auszuschalten.“

Karen meldete sich zu Wort. „Verzeihung, aber das gilt doch nicht für uns, also für die Infizierten. Ich meine, wir unterstehen nicht den Befehlen des Rates von Europa. Oder sind wir bereits als vollwertige Mitglieder Ihrer Gemeinschaft anerkannt? Auch gilt hier das deutsche Recht, zumal wir uns auf deutschem Boden befinden. Ich meine, ich bin selbstverständlich auf der Seite Europas, aber jetzt wird ein richtig fetter Krieg zu uns auf die Erde getragen. Sie treffen irgendwelche Entscheidungen und wir Menschen werden nicht einmal gefragt.“

„Gewiss, ich sehe das Problem und verstehe Ihre Konfusion“, sagte der Rat und schlug einen väterlichen Ton an. „Es gibt hier, so erfuhr ich, eine Krankheit, man nennt sie Alzheimer. Ist jemand davon befallen, schwinden seine geistigen Funktionen. Somit sind andere dazu gezwungen, dem Kranken gewisse Entscheidungen abzunehmen. Momentan gleicht die Erde einem Alzheimerpatienten. Es ist die alte Frage, was den Planeten Erde betrifft. Die Frage der Verantwortung.“

„Was wollen Sie damit andeuten, dass es die alte Frage der Erde ist“, wollte Karen wissen.