TEIL 17
Kwang und sein Führer erhoben sich, sie durchquerten den Ozean und die Eisschicht von Enceladus, schossen wie Kometen am Ring des Saturns vorbei und hielten Kurs auf die Erde. Wie ein Saphir auf schwarzem Samt strahlte der Blaue Planet. Sie schwebten über die Landschaft des Mondes hinweg. Dort waren deutlich die Spuren zu sehen, die unzählige Kometen ins Gestein geschlagen hatten. Dann verblasste aus dieses. Nur noch die Erde hing vor ihnen, ein Tropfen im All, voller Leben und Wunder, gewaltig und verletzlich. Unter ihnen lagen die Meere, all die kantigen Landstriche, und Kwang versuchte, sich die Menschen vorzustellen, die auf dieser Kugel zappelten, all die Milliarden mit ihren Schicksalen, Schmerzen und Glücksmomenten. Es kam ihm so vor, als könnte er ihre Gedanken sehen, ebenso ihre Gefühle. Es erschien im alles wie ein Muster, das sich transparent über den Planeten gelegt hatte, welches lebte, pulsierte und nie gleich blieb. Es war eine Melodie für das Auge komponiert, für das Auge derer, die befreit von der Materie durch die Ewigkeit trieben.
„Die Verbindung zu deiner Frau wird dir den Weg weisen“, sagte Xellox, während sie immer näher an den Erdball heran flogen.
Schon erkannte Kwang den asiatischen Kontinent unter sich. Etwas zog ihn an, sodass sein Flug sich beschleunigte. Er schien aus der Zeit herauszufallen und unversehens, er wusste nicht wie, stand er vor Min-Jee, seiner Frau. Sie war so schön. Er betrachtete sie, als wäre sie ein Kunstwerk, dann wollte er sie berühren, sie umarmen.
„Das geht nicht“, mahnte sein außerirdischer Begleiter, „aber Sie können mit ihr in Kontakt treten. Dazu benötigt es eines Willensaktes, mehr nicht. Es ist Ihnen möglich, mit ihrer energetischen Struktur zu kommunizieren. Ein Netz, das sich durch den Körper zieht. An einigen Stellen verdickt es sich. Dort können Informationen aufgenommen werden.“
Kwang streckte seine Arme nach vorn und spreizte die Finger. Ja, es war gegenwärtig, er spürte es, er nahm es als Kribbeln wahr. Intuitiv verstand er, wie er sein inneres Energienetz mit dem ihren verbinden konnte. So fanden sie eine gemeinsame Schwingung.
„Ich sehe dich“, sagte Min-Jee, „ich sehe dich und weiß doch, dass du nicht hier bist.“
Sie lachte, gleichsam schien sie erschrocken, als hätte sie Todesangst, oder sie wurde auf eine seltsame Weise verrückt.
„Ich bin es wirklich, ich spreche zu dir“, sagte Kwang. „Es gibt Wunder, die du nicht begreifen kannst, liebe Min-Jee. Nun höre bitte zu: Gewiss hast du von den Außerirdischen gehört. Sie breiten sich in Europa aus, sie verwirren und manipulieren die Menschen. Sie sind gefährlich. Aber du kannst das Böse bekämpfen, das die Erde verschlingen will. Wir sehen uns von Dingen umgeben, musst du wissen, die nicht existieren. Diese Welt ist in Wahrheit ein einziger Tanz von Energie. Das Universum besteht aus Bewegung, aus einem Impuls, der alle Formen schafft. Die bösartigen Außerirdischen können wie von außen auf die Energiewirbel der Welt blicken, sodass für sie der Tanz der Energie endet. Somit steht für sie alles still. Diesen Umstand nutzen sie aus, um die einzelnen Energiewirbel zu verändern. Sie können die Realität nach ihren Vorstellungen formen. Darin besteht ihre Macht. Es ist wie Zauberei. Du aber kannst ihren Zauber brechen, indem du zu einem vollkommen Wesen der Energie wirst. Deine Kraft wird so gewaltig sein, dass sie dich nicht stoppen können. Du erhältst ein Geschenk. Teile es mit jenen, die für dieselbe Sache kämpfen: Für die Freiheit der Menschen!“
„Jetzt müssen Sie alle die Punkte, die besonders hell leuchten, in ihrem Körper berühren“, mischte Xellox sich ein, „dadurch verwinden die üblichen Blockaden. Sind diese fort, kann die Energie ungehindert durch den Organismus fließen. Somit wird sie ihr frei zur Verfügung stehen.“
Kwang folgte den Anweisungen. Min-Jee zitterte.
Als sie die Augenlider aufschlug, hatte sich alles verändert. Gewiss, die Dinge schauten aus wie immer, nur war sie, Min-Jee, mit einem energetischen Netz verbunden. Es spannte sich über die gesamte Welt. Sie nahm wahr, wie dieses Netz auf eine einzigartige Weise lebte und eine Erweiterung ihrer selbst bildete.
Sie konnte Kwangs Gegenwart nicht mehr spüren. Dennoch, es war kein Traum gewesen, das wusste sie mit jeder Faser ihres Seins. Ihr wurde klar, was sie zu tun hatte. Ohne nachzudenken, packte sie ihre Koffer, fuhr zum Flughafen und nahm eine Maschine nach Deutschland. Dort hatten die Außerirdischen beinahe schon die Macht übernommen.
Pfeilschnell schoss sie durchs Wasser, vorbei an einen Riesenkraken, der so ausschaute, als dächte er über das Leben nach. Sie spreizte ihre Flossenarme und genoss die kalte Strömung der Tiefsee. Ihre lichtempfindlichen Pupillen saugten die unzähligen roten, gelben und violetten Lichter der Unterwasserkolonie auf. So groß die Freude auch war, die menschliche Gestalt abgelegt zu haben, musste sie oft an ihr vergangenes Leben auf der Erdoberfläche denken. Dennoch schien ihr jetzt, wo sie wieder Alal und nicht mehr Alice hieß, das Schicksal der Menschen fern. Selbst zu den Infizierten hatte sie keine engere Beziehung mehr. Sie verspürte zwar ein gewisses Wohlwollen ihnen gegenüber, dieses aber war recht unpersönlich, es glich der Haltung des Meeres den Fischen gegenüber. Dass es aber jemanden gelungen war, sich siegreich den Infizierten entgegenzustellen, verwirrte und ärgerte sie. Alal legte noch mehr Kraft in ihre Bewegungen und durchschnitt das Wasser wie ein Torpedo. Sie hinterließ dabei einen Sog, der einen Schweif von Plankton mit sich zerrte, was wie eine Verlängerung ihres Körpers wirkte. Alal hielt auf die Kolonie zu, wo Rat Zarzar sie erwartete, um, wie sie bereits vorgewarnt wurde, eine heikle Situation zu besprechen.
Als Alal vor Zarzar im klimatisierten Wasser des Raumes schwebte, blickte er sie kummervoll an. „Als Freund würde ich Sie einfach darum bitten, wieder ihre Form zu wechseln, um auf die Erdoberfläche zurückzukehren zu können; als Mitglied des Rates, sehe ich mich dazu gezwungen, diese Bitte mit dem nötigen Nachdruck vorzutragen. Ihr Einsatz ist äußerst wichtig für uns. Ein Infizierter wurde erschossen, ein weiterer handlungsunfähig gemacht und ins künstliche Koma versetzt. Es sieht aus, als wäre das erst der Anfang. Wer so etwas mit Infizierten machen kann, der kann das Gleiche mit uns anstellen. Jeder ist in Gefahr. Wir wissen nicht einmal genau, was da vor sich geht.“ Es entstand eine Pause. Zarzar musterte Alal, als wolle er sich nochmals versichern, dass sie die Richtige für die Aufgabe war.
„Rat Zarzar“, sprach sie langsam und wohlüberlegt, „besteht nicht die Möglichkeit, dass Chrochro seine Flossen mit im Spiel hat?“
„Die Regierung auf Europa wurde über die kürzlichen Zwischenfälle informiert. Sie billigt die Vorgehensweise von Chrochro nicht. Die Politik der Kolonie wird allerdings sehr kritisch gesehen. Dennoch: Chrochro wird sich rechtfertigen müssen. Man wird ihn unter Beobachtung halten. Trotz seiner moralisch verwerflichen Verfehlungen denke ich nicht, dass er so weit gehen würde, es zu einem Todesfall kommen zu lassen. Mal abgesehen davon, dass die Infizierten Teil unsres kollektiven Bewusstseins sind. Wie immer es sein mag, der Fall wird aufgeklärt. Obwohl es in letzter Zeit zwischen dem Europamond und der Kolonie Differenzen gegeben hat, wird man diese vorerst, wenn auch nicht gänzlich, beilegen, so doch auf später verschieben. Auf Europa ist man besorgt über die jüngsten Vorfälle. Man unterstützt die Erdkolonie ganz und gar in der momentanen Situation. Es könnte sich um einen vernichtenden Angriff auf uns alle handeln.
Ihre Aufgabe lautet: Nehmen sie einen menschlichen Körper an, stellen sie wieder Kontakt mit den Infizierten her. Zuerst mit dieser Karen, mit der Sie, soviel wie ich weiß, befreundet sind. Viel Glück!“ Zarzar winkte einen Abschiedsgruß mit seinem rechten Flossenarm. Er deutete damit an, dass er das Gespräch für beendet ansah und keine Widerrede duldete.
Dass sie in letzter Zeit kaum an Karen gedacht hatte, fand Alal recht seltsam. Aber hier unten schien die Menschenwelt so fern, als wäre sie nicht mehr als ein verrückter Traum.
„Andy, du hast es geschafft, du Saukerl, du bist draußen, der Scheißknast liegt hinter dir!“, rief Leo freudig und umarmte ihn.
„Ja, endlich wieder Sonnenhimmel, ein Horizont, keine Mauern.“
„Dass sie dich so einfach weggesperrt haben, dass sie das so konnten! Nur weil du ein wenig gegen den Staat gehetzt hast!“
„Nun ja, eigentlich habe ich nicht gehetzt, habe nur meine Meinung gesagt. Das alte Grundgesetz zum Beispiel ...“
Leo winkte ab. „Das kennt doch niemand mehr. Jetzt gilt die neue Verfassung, die auf der Basis der erweiterten Notstandsgesetze beruht. Aber lassen wir das. Wichtig ist allein, dass du wieder draußen bist!“
„Ja, draußen bin ich, wenn auch mit Maulkorb. Man wird mich beobachten. Obwohl ich mich nicht auf die Seite der Aliens geschlagen habe. Im Gegenteil: Ich fand die Bedenken der Regierung wegen der Außerirdischen berechtigt, nur was daraus entstanden ist, das habe ich abgelehnt. Ich meine all das Abhorchen, Spionieren, Wegsperren und Mundtotmachen.“
„Komm erst mal mit zu mir, lass uns einen kiffen“, sagte Leo und sie schlenderten zum Wagen.
Bei Leo angekommen wollte Andy telefonieren.
„Ich weiß, wen du anrufen willst. Musst du aber nicht. Sie kommt gleich hierher.“
Andy legte das Telefon weg. „Ich habe sie ziemlich vermisst.“
„Jetzt wird alles wieder gut“, versprach Leo und stopfte Gras in den Vaporizer. „Gestern im Headshop gekauft. Das legale Zeug, das sie heute anbieten, ist auch nicht schlechter als das, womit man damals auf der Straße gedealt hat. Nur selbst Angebautes knallt besser!“
Andy lächelte, er freute sich auf den ersten Zug nach langer Zeit. Der Stoff war exzellent und sein Aroma erinnerte an reife Orangen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, alles wurde weit, die Gedanken, der Raum um einen herum, die Seele. Sie lauschten der Musik, sie schwamm in immer neuen Tönen durch die Luft, dann warfen sie sich Sätze zu, die eine Weile in ihrem Geist kreisten, dabei ständig die Bedeutungen wechselten – und Türen öffneten sich, wohinter Räume lagen, vollgestopft mit weiteren Sätzen und Möglichkeiten. So verstand man immer mehr, je weniger man begriff.
Die Zeit verging, Minuten oder Stunden, es war einerlei, aber am Ende der vergehenden Zeit erschallte die Türklingel, es war, als würde ein Engel aufstampfen und energisch Einlass fordern. Beate stand vor ihm. Sie fielen sich sogleich in die Arme und blieben für einen Augenblick oder für eine Ewigkeit einander kleben. Als sie sich wieder gelöst hatten, sprudelte es aus Beate heraus: „Du weißt, ich konnte dich nicht abholen, musste ja arbeiten. Aber wichtig ist ja nur, dass du hier bist, bei mir bist und frei.“ Ihr Blick schweifte nun auch zu Leo, um ihn mit ins Gespräch zu ziehen. „Ich muss euch was erzählen: Ich habe gestern eine seltsame Frau getroffen. Sie heißt Min-Jee. Sie sie kommt aus Asien. Sie spricht recht gut deutsch. Soviel wie ich weiß, hat sie in Korea als Dolmetscherin gearbeitet. Aber zur Sache! Sie ist auf der Straße stracks auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich die Einmischung Außerirdischer in die Belange der Menschheit begrüßen würde. Ich sagte ihr, ich würde das bestimmt nicht begrüßen, da die Belange der Menschheit eben die Belange der Menschheit bleiben sollten. Die Außerirdischen sollten sich lieber um ihren Kram kümmern. Sie stimmte mir zu. Sie meinte, die Aliens sind gefährlich. Dann bat sie mich darum, sie zu begleiten. Also bin ich mitgegangen, warum, weiß ich nicht. Irgendwie hatte sie eine ungewöhnliche Anziehungskraft. Ich laufe ihr also wie ein Zombie hinterher, dann stehen wir plötzlich, ich weiß nicht wie, vor einer Wohnungstür. Sie schließt auf und vor mir ist ein großes Zimmer. Auf dem Boden hocken zehn, zwölf Leute. Und sie setzt sich auch hin, auf ein Kissen in der Mitte des Raumes. Ich habe mich gefragt, was das soll. Vielleicht ein Meditationskurs? Dann wurde mir mulmig zumute. Ich dachte, dass es eine Sekte sein müsste, eine Sekte voller Irrer, wo sie dich nicht mehr laufen lassen, wenn sie dich erst mal in den Fingern haben. Ich sah einen komischen Glanz um Min-Jee. Es knistert in der Luft, als würde sich etwas elektrisch aufladen. Und dann strahlt sie immer mehr von innen heraus, dass ich wie geblendet bin und immer blöder werde im Kopf. Es ist aber eine Blödheit, die sich gut anfühlt. Sie sieht nun aus wie ein himmlisches Wesen. Es ist schwer zu beschreiben, es schien, als wäre sie anders als die anderen, realer. Sie sagt: Komm! – Und ich gehe zu ihr hin, wie gezogen von Seilen. Sie streckt ihre Hand nach mir aus, berührt mich und … O Mann, es geht mir durch und durch. Etwas strömt in mich ein und auch wieder aus mir heraus!“
„Bist du sicher, dass sie dir keine Drogen gegeben haben?“, fragte Leo.
„Nein, mit Drogen hatte das nichts zu tun. Ich wurde schrecklich durchgeschüttelt von dieser Energie, die sie ausstrahlte. Sie lächelte dabei herzlich, dann schwebte sie. Ihr könnt mich totschlagen, aber sie schwebte tatsächlich über dem Boden und Lichtschlangen tanzten um sie herum. Es war unglaublich. Im nächsten Augenblick war der ganze Spuk vorbei. Keine Lichter, nichts. Da saß nur noch eine gewöhnliche Frau vor mir, kein überirdisches Wesen. Klar, es kam mir der Gedanke, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Ich dachte an Hypnose oder Ähnliches. Min-Jee hat sich an die anderen gewand. Die hockten noch immer auf ihren Kissen und starrten sie verzaubert an. – Das ist unsere neue Kämpferin für die Befreiung der Menschheit! – sagte Min-Jee. Dann wollte sie meinen Namen wissen. Ich sagte ihn ihr. – Beate, – fuhr sie feierlich fort – jetzt hast du noch einiges zu lernen! – Sie hatte etwas mit mir gemacht, mich verändert. Es ist unglaublich, sage ich euch, unglaublich. Sie zeigte mir, wie man die Kräfte der infizierten Terroristen und der Aliens blockieren kann. Auch wie man mit der Energie, die sie mir offenbart hat, richtig umgeht. Spürt selbst!“ Beate öffnete ihre Hände. Funken sprangen von ihnen ab, magisch knisternd.
Tatsächlich bemerkte Andy etwas: Es kam ihm vor, als griffe Beate in ihn hinein; nicht mit ihren wirklichen Händen. Was immer es war, er fand keinen Namen dafür.
„Ich kann euch meine neuen Fähigkeiten geben, ihr könnt sie verteilen, an wen ihr wollt“, sagte Beate gönnerhaft.
„Hört sich ja an wie diese verdammte Infizierung der Aliens!“, meinte Andy.
Das sei nicht zu vergleichen, beruhigte Beate. „Min-Jee ist keine Außerirdische und keine Infizierte. Sie mag die Aliens nicht, sie will sie bekämpfen. Ich denke, sie hat ihre Fähigkeiten von diesen alten asiatischen Übungen, Qi Gong und so. Wenn wir weiter zögern, anstatt uns zu verteidigen, wird es zu spät sein. Wir müssen den Feind bekämpfen. Auch wenn der Staat uns ankotzt, wir müssen uns auf den primären Gegner konzentrieren. Es waren auch Polizisten und wahrscheinlich irgendwelche Agenten bei Min-Jee.“
„Hört
sich echt nicht gut an“, unterbrach Leo. Andy stimmte ihm zu.
„Das
habe ich mit Min-Jee besprochen. Ich habe ihr geradeheraus gesagt,
dass ich die Regierung und ihre Leute nicht mag, obwohl sie gegen die
Aliens und die Infizierten sind. Sie verstand meine Einwände. Alles
wandelt sich, die Regierungen kommen und gehen, meinte sie und
erklärte: Manches Mal müsse man eine Welle nutzen, damit das Floß
geschwinder fährt, selbst wenn die Welle nicht aus sauberen Wasser
bestehen sollte. In der Not, sagt sie, ist es besser, wenn man
zusammenhält. Und ich denke, Sie hat recht. Klar, die Regierung ist
Scheiße, aber ohne sie werden wir kaum mit den Aliens und den
Infizierten fertig werden. Und wenn die Außerirdischen erst an der
Macht sind, dann wird es richtig arg. Für die sind wir nicht wie
ihresgleichen. Tiere sind wir für sie, mehr nicht! Es ist der
falsche Zeitpunkt, um die Regierung zu bekämpfen, damit schwächt
man den Widerstand gegen die Aliens, mehr nicht.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte Andy, „es ist Pragmatismus angesagt. Wenn die Aliens weg sind, werden die Karten neu gemischt.“
„Gewiss, jetzt, wo sich ein breiter Widerstand bilden kann, ist es für die Regierung nicht mehr möglich, sich die Erfolge alleine auf ihre Fahne zu schreiben“, stellte Beate fest. „Bis heute hatten wir den Außerirdischen nicht viel entgegenzusetzen. Aber nun gibt es eine Kraft, die sie aufhalten kann. Min-Jee weiß, wie wir sie am besten einsetzen können. Und ich kann sie auf euch übertragen.“ Beate bewegte ihre Finger. Elektrizität knisterte.
Mit festen Schritten ging Chrochro auf sie zu. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Er blieb vor Alice stehen. Kalt und starr blickte sie ihn an. Sie war wie der Jupitermond Europa: Außen eine Eisschicht, im Inneren aber brodelte ein heißer Kern. Chrochro warf Karen, die neben Alice stand, Blick geringschätzigen Blick zu. Alice sah, wie in seinem Geist eine Blase komprimierter Erinnerung aufstieg: Der Rat für Äußere Angelegenheiten mit weitreichenden Ermächtigungen des obersten Rates ausgestattet, spreizte seine Flossenarme und ließ gleichzeitig seine Greifarme fallen, sodass diese schlapp herabhingen. Eine Geste, die widersprüchliche Gefühle ausdrückte. Der Rat schwamm aufgeregt hin und her, bevor er innehielt und reglos bis zur Mitte seines Arbeitszimmers schwebte. Er setzte eine nachdenkliche Mine auf und bedeutete Chrochro, näherzukommen.
Chrochro, der zum Ratsanwärter ohne besondere Befugnisse degradiert worden war, schob sich mit einer kraftlosen Bewegung auf seinen Gastgeber zu.
„Mein lieber Chrochro, Sie kennen mich und wissen, dass ich mich ungern mit diplomatischem Geschwätz aufhalte. Also will ich gleich zur Sache kommen. Die Einstellung des Rates dürfte Ihnen bekannt sein. Ein nicht unbedeutender Teil der Ratsmitglieder teilt Ihre Auffassung, was die Erdkolonie betrifft. Es ist gewiss fragwürdig, inwiefern es sinnvoll ist, den Menschen die Geheimnisse des Quanten-Kontinuums zu offenbaren, und sie somit mit nicht unbedeutenden Fähigkeiten auszustatten. In Ihrem Eifer sind Sie allerdings weit übers Ziel hinausgeschossen. Der Rat billigt Ihre Methoden keinesfalls. Sie sollten sich umsehen, Daten sammeln ...“
„Ich sollte spionieren“, präzisierte Chrochro.
Der Rat für Äußere Angelegenheiten hielt kurz inne, fuhr dann gelassen mit der Rede fort: „Nun, Spionage ist ein großes Wort. Sagen wir lieber: Es sollte ein informeller Austausch von Informationen werden. Dass Sie glaubten, angesichts der damaligen Situation eigenständig handeln zu müssen, hätte man Ihnen gewiss verziehen, aber Sie sind dabei zu weit gegangen. Der allseits geachtete Philphil – mag er auch einen Irrweg gegangen sein – , er vegetiert nun in der Form eines Erdlings vor sich hin, ohne Vergangenheit, ohne die geringste Erinnerung an unseren Eismond. In der Ratsversammlung zeigte man sich verärgert, man war aufs Höchste empört. Dennoch habe ich das Wort ergriffen und mich für Sie eingesetzt. Es steht mein guter Ruf auf dem Spiel. Ich hoffe, Sie werden mich nicht enttäuschen. Es ist Ihre letzte Chance. Einmal noch bekommen Sie die Möglichkeit, sich zu beweisen.
Die Situation auf der Erde wird immer brisanter. Nicht nur, dass unsere Kolonie ständig mehr Unabhängigkeit fordert; nicht nur, dass es immer mehr von diesen Infizierten gibt; jetzt ist auch noch eine Macht aufgetaucht, welche die Infizierten aufhalten kann. Eine unbekannte Macht! Erst hatte man sogar Sie in Verdacht. Aber Sie befanden sich die ganze Zeit über auf Europa, wie wir feststellen konnten. Auch wenn wir die Pläne der Kolonisten nicht unterstützen, müssen wir doch angesichts der momentanen Situation, den Angriff auf die Infizierten als einen Angriff auf uns alle verstehen. Der Eismond muss sich schützen. Dieses Mal dürfen Sie ganz offiziell mit aller Härte zuschlagen! Finden Sie die unbekannte Macht und zeigen Sie ihr die Grenzen auf! Der Rat wünscht sich in dieser Angelegenheit Erfolge. Sie werden zur Erde gehen, eine menschliche Form annehmen und mit Philphils Schwester Alal beziehungsweise Alice, wie sie sich dort nennt, zusammenarbeiten. Die Sache ist mit dem Rat der Kolonie abgesprochen. Wir verlangen, dass Sie mit den Kolonisten auf der Erde bedingungslos kooperieren. Chrochro, legen Sie die alten Differenzen zur Seite. Momentan unterstützen wir die Politik der Kolonie. Das gebietet die Vernunft, die aus der Situation erwächst. Wir müssen uns zuweilen in unseren Meinungen geschmeidig zeigen. Eis kann brechen, Wasser nicht, sagt das Sprichwort. Die Infizierung der Erdbevölkerung darf nicht gestoppt werden, nicht jetzt. Das können wir uns nicht leisten. Die Situation ist im höchsten Maße bedenklich. Wir haben einen Feind und er wartet auf der Erde. Wir werden uns ihm stellen müssen. Also finden Sie heraus, wer dieser Feind ist, wo er sich aufhält und wie er ausgeschaltet werden kann! Alles andere ist inakzeptabel. Kooperieren Sie mit Alal soweit wie möglich. Einigkeit ist unsere Stärke. Nur wenn wir als ein einziger Geist handeln, sind wir mehr als Barbaren.“
Chrochro fragte: „Wer trägt die Verantwortung für das Unternehmen?“
Der Rat schwieg einen Moment, dann sah er Chrochro durchdringend mit wässrigen Augen an: „Sie, Sie sind natürlich verantwortlich.“
Die Erinnerungsblase platzte. Chrochro schaute Alice an.
Sie musterte ihn. „Dein Name?“
Er blickte hilflos drein.
„Wir brauchen hier alle einen Erdennamen“, fuhr sie fort, „Mmh, Chrochro, das geht nicht. Wie wär's mit Christian?“
„Nichts dagegen, Christian, ist schon gut. Ich nahm an, wir würden uns zu zweit treffen.“
Alice berührte Karen am Arm. „Sie ist meine Freundin“, sagte sie und spürte jetzt, wieder in einem menschlichen Körper, eine tiefe Zuneigung zu ihr. „Außerdem müssen wir alle zusammenarbeiten. Sie hat viele Verbindungen zu anderen Infizierten. Du solltest deine Bedenken beiseiteschieben Chrochro, äh – Christian. Sie ist eine Infizierte und gehört somit praktisch zu uns. Ansonsten haben wir dir ein Hotelzimmer besorgt und Papiere, mit denen du dich ausweisen kannst. Des Weiteren bin ich immer für dich da. Wir sind doch alte Freunde, oder?“
„Ich kann mir vorstellen, dass diese Freundschaft einen Riss bekommen hat“, merkte er an.
„Über solche kleinen oder auch großen Risse sollten wir hinwegsehen und unseren Blick auf das Ganze richten. Du wolltest das Beste, du dachtest, du würdest im Sinne der Gemeinschaft handeln. Du hieltest das, was wir taten, für gefährlich. Wie dem auch sei, nun stehen wir einer großen Herausforderung gegenüber. Wir haben so gehandelt, wie wir es mussten, haben das Bewusstsein auf diesem Planeten erweitert, damit seine Bewohner eines Tages an der großen Einheit teilhaben können, die unsere Heimat ist. Obwohl … natürlich, es tut weh, der Verlust. Unter anderen Umständen wären wir Gegner. Unter den Umständen aber, wie sie sich jetzt zeigen, bleibt uns nichts anderes übrig, als an einem Strang zu ziehen – wie man auf der Erde sagt –, da wir einen gemeinsamen Feind haben. Wie mächtig dieser Feind ist, wissen wir nicht, aber unsere Uneinigkeit könnte sein Sieg bedeuten. Große Reiche sind nicht an der Stärke ihrer Gegner zugrundegegangen, sondern weil sie ihre eigene Schwäche nicht erkannt haben. Am Ende hat man die Wahl zwischen Untergang oder Harmonie.“
„Ich sehe, wir werden uns trotz unterschiedlicher Ansichten in der Sache einig sein.“
„Und das muss ausreichen“, sagte Alice. „Mein Wagen steht gleich um die Ecke. Wir bringen dich ins Hotel.“