Sonntag, 13. Februar 2022

                                            TEIL 17


Kwang und sein Führer erhoben sich, sie durchquerten den Ozean und die Eisschicht von Enceladus, schossen wie Kometen am Ring des Saturns vorbei und hielten Kurs auf die Erde. Wie ein Saphir auf schwarzem Samt strahlte der Blaue Planet. Sie schwebten über die Landschaft des Mondes hinweg. Dort waren deutlich die Spuren zu sehen, die unzählige Kometen ins Gestein geschlagen hatten. Dann verblasste aus dieses. Nur noch die Erde hing vor ihnen, ein Tropfen im All, voller Leben und Wunder, gewaltig und verletzlich. Unter ihnen lagen die Meere, all die kantigen Landstriche, und Kwang versuchte, sich die Menschen vorzustellen, die auf dieser Kugel zappelten, all die Milliarden mit ihren Schicksalen, Schmerzen und Glücksmomenten. Es kam ihm so vor, als könnte er ihre Gedanken sehen, ebenso ihre Gefühle. Es erschien im alles wie ein Muster, das sich transparent über den Planeten gelegt hatte, welches lebte, pulsierte und nie gleich blieb. Es war eine Melodie für das Auge komponiert, für das Auge derer, die befreit von der Materie durch die Ewigkeit trieben.

„Die Verbindung zu deiner Frau wird dir den Weg weisen“, sagte Xellox, während sie immer näher an den Erdball heran flogen.

Schon erkannte Kwang den asiatischen Kontinent unter sich. Etwas zog ihn an, sodass sein Flug sich beschleunigte. Er schien aus der Zeit herauszufallen und unversehens, er wusste nicht wie, stand er vor Min-Jee, seiner Frau. Sie war so schön. Er betrachtete sie, als wäre sie ein Kunstwerk, dann wollte er sie berühren, sie umarmen.

„Das geht nicht“, mahnte sein außerirdischer Begleiter, „aber Sie können mit ihr in Kontakt treten. Dazu benötigt es eines Willensaktes, mehr nicht. Es ist Ihnen möglich, mit ihrer energetischen Struktur zu kommunizieren. Ein Netz, das sich durch den Körper zieht. An einigen Stellen verdickt es sich. Dort können Informationen aufgenommen werden.“

Kwang streckte seine Arme nach vorn und spreizte die Finger. Ja, es war gegenwärtig, er spürte es, er nahm es als Kribbeln wahr. Intuitiv verstand er, wie er sein inneres Energienetz mit dem ihren verbinden konnte. So fanden sie eine gemeinsame Schwingung.

„Ich sehe dich“, sagte Min-Jee, „ich sehe dich und weiß doch, dass du nicht hier bist.“

Sie lachte, gleichsam schien sie erschrocken, als hätte sie Todesangst, oder sie wurde auf eine seltsame Weise verrückt.

„Ich bin es wirklich, ich spreche zu dir“, sagte Kwang. „Es gibt Wunder, die du nicht begreifen kannst, liebe Min-Jee. Nun höre bitte zu: Gewiss hast du von den Außerirdischen gehört. Sie breiten sich in Europa aus, sie verwirren und manipulieren die Menschen. Sie sind gefährlich. Aber du kannst das Böse bekämpfen, das die Erde verschlingen will. Wir sehen uns von Dingen umgeben, musst du wissen, die nicht existieren. Diese Welt ist in Wahrheit ein einziger Tanz von Energie. Das Universum besteht aus Bewegung, aus einem Impuls, der alle Formen schafft. Die bösartigen Außerirdischen können wie von außen auf die Energiewirbel der Welt blicken, sodass für sie der Tanz der Energie endet. Somit steht für sie alles still. Diesen Umstand nutzen sie aus, um die einzelnen Energiewirbel zu verändern. Sie können die Realität nach ihren Vorstellungen formen. Darin besteht ihre Macht. Es ist wie Zauberei. Du aber kannst ihren Zauber brechen, indem du zu einem vollkommen Wesen der Energie wirst. Deine Kraft wird so gewaltig sein, dass sie dich nicht stoppen können. Du erhältst ein Geschenk. Teile es mit jenen, die für dieselbe Sache kämpfen: Für die Freiheit der Menschen!“

„Jetzt müssen Sie alle die Punkte, die besonders hell leuchten, in ihrem Körper berühren“, mischte Xellox sich ein, „dadurch verwinden die üblichen Blockaden. Sind diese fort, kann die Energie ungehindert durch den Organismus fließen. Somit wird sie ihr frei zur Verfügung stehen.“

Kwang folgte den Anweisungen. Min-Jee zitterte.


Als sie die Augenlider aufschlug, hatte sich alles verändert. Gewiss, die Dinge schauten aus wie immer, nur war sie, Min-Jee, mit einem energetischen Netz verbunden. Es spannte sich über die gesamte Welt. Sie nahm wahr, wie dieses Netz auf eine einzigartige Weise lebte und eine Erweiterung ihrer selbst bildete.

Sie konnte Kwangs Gegenwart nicht mehr spüren. Dennoch, es war kein Traum gewesen, das wusste sie mit jeder Faser ihres Seins. Ihr wurde klar, was sie zu tun hatte. Ohne nachzudenken, packte sie ihre Koffer, fuhr zum Flughafen und nahm eine Maschine nach Deutschland. Dort hatten die Außerirdischen beinahe schon die Macht übernommen.


Pfeilschnell schoss sie durchs Wasser, vorbei an einen Riesenkraken, der so ausschaute, als dächte er über das Leben nach. Sie spreizte ihre Flossenarme und genoss die kalte Strömung der Tiefsee. Ihre lichtempfindlichen Pupillen saugten die unzähligen roten, gelben und violetten Lichter der Unterwasserkolonie auf. So groß die Freude auch war, die menschliche Gestalt abgelegt zu haben, musste sie oft an ihr vergangenes Leben auf der Erdoberfläche denken. Dennoch schien ihr jetzt, wo sie wieder Alal und nicht mehr Alice hieß, das Schicksal der Menschen fern. Selbst zu den Infizierten hatte sie keine engere Beziehung mehr. Sie verspürte zwar ein gewisses Wohlwollen ihnen gegenüber, dieses aber war recht unpersönlich, es glich der Haltung des Meeres den Fischen gegenüber. Dass es aber jemanden gelungen war, sich siegreich den Infizierten entgegenzustellen, verwirrte und ärgerte sie. Alal legte noch mehr Kraft in ihre Bewegungen und durchschnitt das Wasser wie ein Torpedo. Sie hinterließ dabei einen Sog, der einen Schweif von Plankton mit sich zerrte, was wie eine Verlängerung ihres Körpers wirkte. Alal hielt auf die Kolonie zu, wo Rat Zarzar sie erwartete, um, wie sie bereits vorgewarnt wurde, eine heikle Situation zu besprechen.

Als Alal vor Zarzar im klimatisierten Wasser des Raumes schwebte, blickte er sie kummervoll an. „Als Freund würde ich Sie einfach darum bitten, wieder ihre Form zu wechseln, um auf die Erdoberfläche zurückzukehren zu können; als Mitglied des Rates, sehe ich mich dazu gezwungen, diese Bitte mit dem nötigen Nachdruck vorzutragen. Ihr Einsatz ist äußerst wichtig für uns. Ein Infizierter wurde erschossen, ein weiterer handlungsunfähig gemacht und ins künstliche Koma versetzt. Es sieht aus, als wäre das erst der Anfang. Wer so etwas mit Infizierten machen kann, der kann das Gleiche mit uns anstellen. Jeder ist in Gefahr. Wir wissen nicht einmal genau, was da vor sich geht.“ Es entstand eine Pause. Zarzar musterte Alal, als wolle er sich nochmals versichern, dass sie die Richtige für die Aufgabe war.

„Rat Zarzar“, sprach sie langsam und wohlüberlegt, „besteht nicht die Möglichkeit, dass Chrochro seine Flossen mit im Spiel hat?“

„Die Regierung auf Europa wurde über die kürzlichen Zwischenfälle informiert. Sie billigt die Vorgehensweise von Chrochro nicht. Die Politik der Kolonie wird allerdings sehr kritisch gesehen. Dennoch: Chrochro wird sich rechtfertigen müssen. Man wird ihn unter Beobachtung halten. Trotz seiner moralisch verwerflichen Verfehlungen denke ich nicht, dass er so weit gehen würde, es zu einem Todesfall kommen zu lassen. Mal abgesehen davon, dass die Infizierten Teil unsres kollektiven Bewusstseins sind. Wie immer es sein mag, der Fall wird aufgeklärt. Obwohl es in letzter Zeit zwischen dem Europamond und der Kolonie Differenzen gegeben hat, wird man diese vorerst, wenn auch nicht gänzlich, beilegen, so doch auf später verschieben. Auf Europa ist man besorgt über die jüngsten Vorfälle. Man unterstützt die Erdkolonie ganz und gar in der momentanen Situation. Es könnte sich um einen vernichtenden Angriff auf uns alle handeln.

Ihre Aufgabe lautet: Nehmen sie einen menschlichen Körper an, stellen sie wieder Kontakt mit den Infizierten her. Zuerst mit dieser Karen, mit der Sie, soviel wie ich weiß, befreundet sind. Viel Glück!“ Zarzar winkte einen Abschiedsgruß mit seinem rechten Flossenarm. Er deutete damit an, dass er das Gespräch für beendet ansah und keine Widerrede duldete.

Dass sie in letzter Zeit kaum an Karen gedacht hatte, fand Alal recht seltsam. Aber hier unten schien die Menschenwelt so fern, als wäre sie nicht mehr als ein verrückter Traum.


Andy, du hast es geschafft, du Saukerl, du bist draußen, der Scheißknast liegt hinter dir!“, rief Leo freudig und umarmte ihn.

„Ja, endlich wieder Sonnenhimmel, ein Horizont, keine Mauern.“

„Dass sie dich so einfach weggesperrt haben, dass sie das so konnten! Nur weil du ein wenig gegen den Staat gehetzt hast!“

„Nun ja, eigentlich habe ich nicht gehetzt, habe nur meine Meinung gesagt. Das alte Grundgesetz zum Beispiel ...“

Leo winkte ab. „Das kennt doch niemand mehr. Jetzt gilt die neue Verfassung, die auf der Basis der erweiterten Notstandsgesetze beruht. Aber lassen wir das. Wichtig ist allein, dass du wieder draußen bist!“

„Ja, draußen bin ich, wenn auch mit Maulkorb. Man wird mich beobachten. Obwohl ich mich nicht auf die Seite der Aliens geschlagen habe. Im Gegenteil: Ich fand die Bedenken der Regierung wegen der Außerirdischen berechtigt, nur was daraus entstanden ist, das habe ich abgelehnt. Ich meine all das Abhorchen, Spionieren, Wegsperren und Mundtotmachen.“

„Komm erst mal mit zu mir, lass uns einen kiffen“, sagte Leo und sie schlenderten zum Wagen.

Bei Leo angekommen wollte Andy telefonieren.

„Ich weiß, wen du anrufen willst. Musst du aber nicht. Sie kommt gleich hierher.“

Andy legte das Telefon weg. „Ich habe sie ziemlich vermisst.“

„Jetzt wird alles wieder gut“, versprach Leo und stopfte Gras in den Vaporizer. „Gestern im Headshop gekauft. Das legale Zeug, das sie heute anbieten, ist auch nicht schlechter als das, womit man damals auf der Straße gedealt hat. Nur selbst Angebautes knallt besser!“

Andy lächelte, er freute sich auf den ersten Zug nach langer Zeit. Der Stoff war exzellent und sein Aroma erinnerte an reife Orangen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, alles wurde weit, die Gedanken, der Raum um einen herum, die Seele. Sie lauschten der Musik, sie schwamm in immer neuen Tönen durch die Luft, dann warfen sie sich Sätze zu, die eine Weile in ihrem Geist kreisten, dabei ständig die Bedeutungen wechselten – und Türen öffneten sich, wohinter Räume lagen, vollgestopft mit weiteren Sätzen und Möglichkeiten. So verstand man immer mehr, je weniger man begriff.

Die Zeit verging, Minuten oder Stunden, es war einerlei, aber am Ende der vergehenden Zeit erschallte die Türklingel, es war, als würde ein Engel aufstampfen und energisch Einlass fordern. Beate stand vor ihm. Sie fielen sich sogleich in die Arme und blieben für einen Augenblick oder für eine Ewigkeit einander kleben. Als sie sich wieder gelöst hatten, sprudelte es aus Beate heraus: „Du weißt, ich konnte dich nicht abholen, musste ja arbeiten. Aber wichtig ist ja nur, dass du hier bist, bei mir bist und frei.“ Ihr Blick schweifte nun auch zu Leo, um ihn mit ins Gespräch zu ziehen. „Ich muss euch was erzählen: Ich habe gestern eine seltsame Frau getroffen. Sie heißt Min-Jee. Sie sie kommt aus Asien. Sie spricht recht gut deutsch. Soviel wie ich weiß, hat sie in Korea als Dolmetscherin gearbeitet. Aber zur Sache! Sie ist auf der Straße stracks auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich die Einmischung Außerirdischer in die Belange der Menschheit begrüßen würde. Ich sagte ihr, ich würde das bestimmt nicht begrüßen, da die Belange der Menschheit eben die Belange der Menschheit bleiben sollten. Die Außerirdischen sollten sich lieber um ihren Kram kümmern. Sie stimmte mir zu. Sie meinte, die Aliens sind gefährlich. Dann bat sie mich darum, sie zu begleiten. Also bin ich mitgegangen, warum, weiß ich nicht. Irgendwie hatte sie eine ungewöhnliche Anziehungskraft. Ich laufe ihr also wie ein Zombie hinterher, dann stehen wir plötzlich, ich weiß nicht wie, vor einer Wohnungstür. Sie schließt auf und vor mir ist ein großes Zimmer. Auf dem Boden hocken zehn, zwölf Leute. Und sie setzt sich auch hin, auf ein Kissen in der Mitte des Raumes. Ich habe mich gefragt, was das soll. Vielleicht ein Meditationskurs? Dann wurde mir mulmig zumute. Ich dachte, dass es eine Sekte sein müsste, eine Sekte voller Irrer, wo sie dich nicht mehr laufen lassen, wenn sie dich erst mal in den Fingern haben. Ich sah einen komischen Glanz um Min-Jee. Es knistert in der Luft, als würde sich etwas elektrisch aufladen. Und dann strahlt sie immer mehr von innen heraus, dass ich wie geblendet bin und immer blöder werde im Kopf. Es ist aber eine Blödheit, die sich gut anfühlt. Sie sieht nun aus wie ein himmlisches Wesen. Es ist schwer zu beschreiben, es schien, als wäre sie anders als die anderen, realer. Sie sagt: Komm! – Und ich gehe zu ihr hin, wie gezogen von Seilen. Sie streckt ihre Hand nach mir aus, berührt mich und … O Mann, es geht mir durch und durch. Etwas strömt in mich ein und auch wieder aus mir heraus!“

„Bist du sicher, dass sie dir keine Drogen gegeben haben?“, fragte Leo.

„Nein, mit Drogen hatte das nichts zu tun. Ich wurde schrecklich durchgeschüttelt von dieser Energie, die sie ausstrahlte. Sie lächelte dabei herzlich, dann schwebte sie. Ihr könnt mich totschlagen, aber sie schwebte tatsächlich über dem Boden und Lichtschlangen tanzten um sie herum. Es war unglaublich. Im nächsten Augenblick war der ganze Spuk vorbei. Keine Lichter, nichts. Da saß nur noch eine gewöhnliche Frau vor mir, kein überirdisches Wesen. Klar, es kam mir der Gedanke, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Ich dachte an Hypnose oder Ähnliches. Min-Jee hat sich an die anderen gewand. Die hockten noch immer auf ihren Kissen und starrten sie verzaubert an. – Das ist unsere neue Kämpferin für die Befreiung der Menschheit! – sagte Min-Jee. Dann wollte sie meinen Namen wissen. Ich sagte ihn ihr. – Beate, – fuhr sie feierlich fort – jetzt hast du noch einiges zu lernen! – Sie hatte etwas mit mir gemacht, mich verändert. Es ist unglaublich, sage ich euch, unglaublich. Sie zeigte mir, wie man die Kräfte der infizierten Terroristen und der Aliens blockieren kann. Auch wie man mit der Energie, die sie mir offenbart hat, richtig umgeht. Spürt selbst!“ Beate öffnete ihre Hände. Funken sprangen von ihnen ab, magisch knisternd.

Tatsächlich bemerkte Andy etwas: Es kam ihm vor, als griffe Beate in ihn hinein; nicht mit ihren wirklichen Händen. Was immer es war, er fand keinen Namen dafür.

„Ich kann euch meine neuen Fähigkeiten geben, ihr könnt sie verteilen, an wen ihr wollt“, sagte Beate gönnerhaft.

„Hört sich ja an wie diese verdammte Infizierung der Aliens!“, meinte Andy.

Das sei nicht zu vergleichen, beruhigte Beate. „Min-Jee ist keine Außerirdische und keine Infizierte. Sie mag die Aliens nicht, sie will sie bekämpfen. Ich denke, sie hat ihre Fähigkeiten von diesen alten asiatischen Übungen, Qi Gong und so. Wenn wir weiter zögern, anstatt uns zu verteidigen, wird es zu spät sein. Wir müssen den Feind bekämpfen. Auch wenn der Staat uns ankotzt, wir müssen uns auf den primären Gegner konzentrieren. Es waren auch Polizisten und wahrscheinlich irgendwelche Agenten bei Min-Jee.“

Hört sich echt nicht gut an“, unterbrach Leo. Andy stimmte ihm zu.
„Das habe ich mit Min-Jee besprochen. Ich habe ihr geradeheraus gesagt, dass ich die Regierung und ihre Leute nicht mag, obwohl sie gegen die Aliens und die Infizierten sind. Sie verstand meine Einwände. Alles wandelt sich, die Regierungen kommen und gehen, meinte sie und erklärte: Manches Mal müsse man eine Welle nutzen, damit das Floß geschwinder fährt, selbst wenn die Welle nicht aus sauberen Wasser bestehen sollte. In der Not, sagt sie, ist es besser, wenn man zusammenhält. Und ich denke, Sie hat recht. Klar, die Regierung ist Scheiße, aber ohne sie werden wir kaum mit den Aliens und den Infizierten fertig werden. Und wenn die Außerirdischen erst an der Macht sind, dann wird es richtig arg. Für die sind wir nicht wie ihresgleichen. Tiere sind wir für sie, mehr nicht! Es ist der falsche Zeitpunkt, um die Regierung zu bekämpfen, damit schwächt man den Widerstand gegen die Aliens, mehr nicht.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte Andy, „es ist Pragmatismus angesagt. Wenn die Aliens weg sind, werden die Karten neu gemischt.“

„Gewiss, jetzt, wo sich ein breiter Widerstand bilden kann, ist es für die Regierung nicht mehr möglich, sich die Erfolge alleine auf ihre Fahne zu schreiben“, stellte Beate fest. „Bis heute hatten wir den Außerirdischen nicht viel entgegenzusetzen. Aber nun gibt es eine Kraft, die sie aufhalten kann. Min-Jee weiß, wie wir sie am besten einsetzen können. Und ich kann sie auf euch übertragen.“ Beate bewegte ihre Finger. Elektrizität knisterte.


Mit festen Schritten ging Chrochro auf sie zu. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Er blieb vor Alice stehen. Kalt und starr blickte sie ihn an. Sie war wie der Jupitermond Europa: Außen eine Eisschicht, im Inneren aber brodelte ein heißer Kern. Chrochro warf Karen, die neben Alice stand, Blick geringschätzigen Blick zu. Alice sah, wie in seinem Geist eine Blase komprimierter Erinnerung aufstieg: Der Rat für Äußere Angelegenheiten mit weitreichenden Ermächtigungen des obersten Rates ausgestattet, spreizte seine Flossenarme und ließ gleichzeitig seine Greifarme fallen, sodass diese schlapp herabhingen. Eine Geste, die widersprüchliche Gefühle ausdrückte. Der Rat schwamm aufgeregt hin und her, bevor er innehielt und reglos bis zur Mitte seines Arbeitszimmers schwebte. Er setzte eine nachdenkliche Mine auf und bedeutete Chrochro, näherzukommen.

Chrochro, der zum Ratsanwärter ohne besondere Befugnisse degradiert worden war, schob sich mit einer kraftlosen Bewegung auf seinen Gastgeber zu.

„Mein lieber Chrochro, Sie kennen mich und wissen, dass ich mich ungern mit diplomatischem Geschwätz aufhalte. Also will ich gleich zur Sache kommen. Die Einstellung des Rates dürfte Ihnen bekannt sein. Ein nicht unbedeutender Teil der Ratsmitglieder teilt Ihre Auffassung, was die Erdkolonie betrifft. Es ist gewiss fragwürdig, inwiefern es sinnvoll ist, den Menschen die Geheimnisse des Quanten-Kontinuums zu offenbaren, und sie somit mit nicht unbedeutenden Fähigkeiten auszustatten. In Ihrem Eifer sind Sie allerdings weit übers Ziel hinausgeschossen. Der Rat billigt Ihre Methoden keinesfalls. Sie sollten sich umsehen, Daten sammeln ...“

„Ich sollte spionieren“, präzisierte Chrochro.

Der Rat für Äußere Angelegenheiten hielt kurz inne, fuhr dann gelassen mit der Rede fort: „Nun, Spionage ist ein großes Wort. Sagen wir lieber: Es sollte ein informeller Austausch von Informationen werden. Dass Sie glaubten, angesichts der damaligen Situation eigenständig handeln zu müssen, hätte man Ihnen gewiss verziehen, aber Sie sind dabei zu weit gegangen. Der allseits geachtete Philphil – mag er auch einen Irrweg gegangen sein – , er vegetiert nun in der Form eines Erdlings vor sich hin, ohne Vergangenheit, ohne die geringste Erinnerung an unseren Eismond. In der Ratsversammlung zeigte man sich verärgert, man war aufs Höchste empört. Dennoch habe ich das Wort ergriffen und mich für Sie eingesetzt. Es steht mein guter Ruf auf dem Spiel. Ich hoffe, Sie werden mich nicht enttäuschen. Es ist Ihre letzte Chance. Einmal noch bekommen Sie die Möglichkeit, sich zu beweisen.

Die Situation auf der Erde wird immer brisanter. Nicht nur, dass unsere Kolonie ständig mehr Unabhängigkeit fordert; nicht nur, dass es immer mehr von diesen Infizierten gibt; jetzt ist auch noch eine Macht aufgetaucht, welche die Infizierten aufhalten kann. Eine unbekannte Macht! Erst hatte man sogar Sie in Verdacht. Aber Sie befanden sich die ganze Zeit über auf Europa, wie wir feststellen konnten. Auch wenn wir die Pläne der Kolonisten nicht unterstützen, müssen wir doch angesichts der momentanen Situation, den Angriff auf die Infizierten als einen Angriff auf uns alle verstehen. Der Eismond muss sich schützen. Dieses Mal dürfen Sie ganz offiziell mit aller Härte zuschlagen! Finden Sie die unbekannte Macht und zeigen Sie ihr die Grenzen auf! Der Rat wünscht sich in dieser Angelegenheit Erfolge. Sie werden zur Erde gehen, eine menschliche Form annehmen und mit Philphils Schwester Alal beziehungsweise Alice, wie sie sich dort nennt, zusammenarbeiten. Die Sache ist mit dem Rat der Kolonie abgesprochen. Wir verlangen, dass Sie mit den Kolonisten auf der Erde bedingungslos kooperieren. Chrochro, legen Sie die alten Differenzen zur Seite. Momentan unterstützen wir die Politik der Kolonie. Das gebietet die Vernunft, die aus der Situation erwächst. Wir müssen uns zuweilen in unseren Meinungen geschmeidig zeigen. Eis kann brechen, Wasser nicht, sagt das Sprichwort. Die Infizierung der Erdbevölkerung darf nicht gestoppt werden, nicht jetzt. Das können wir uns nicht leisten. Die Situation ist im höchsten Maße bedenklich. Wir haben einen Feind und er wartet auf der Erde. Wir werden uns ihm stellen müssen. Also finden Sie heraus, wer dieser Feind ist, wo er sich aufhält und wie er ausgeschaltet werden kann! Alles andere ist inakzeptabel. Kooperieren Sie mit Alal soweit wie möglich. Einigkeit ist unsere Stärke. Nur wenn wir als ein einziger Geist handeln, sind wir mehr als Barbaren.“

Chrochro fragte: „Wer trägt die Verantwortung für das Unternehmen?“

Der Rat schwieg einen Moment, dann sah er Chrochro durchdringend mit wässrigen Augen an: „Sie, Sie sind natürlich verantwortlich.“

Die Erinnerungsblase platzte. Chrochro schaute Alice an.

Sie musterte ihn. „Dein Name?“

Er blickte hilflos drein.

„Wir brauchen hier alle einen Erdennamen“, fuhr sie fort, „Mmh, Chrochro, das geht nicht. Wie wär's mit Christian?“

„Nichts dagegen, Christian, ist schon gut. Ich nahm an, wir würden uns zu zweit treffen.“

Alice berührte Karen am Arm. „Sie ist meine Freundin“, sagte sie und spürte jetzt, wieder in einem menschlichen Körper, eine tiefe Zuneigung zu ihr. „Außerdem müssen wir alle zusammenarbeiten. Sie hat viele Verbindungen zu anderen Infizierten. Du solltest deine Bedenken beiseiteschieben Chrochro, äh – Christian. Sie ist eine Infizierte und gehört somit praktisch zu uns. Ansonsten haben wir dir ein Hotelzimmer besorgt und Papiere, mit denen du dich ausweisen kannst. Des Weiteren bin ich immer für dich da. Wir sind doch alte Freunde, oder?“

„Ich kann mir vorstellen, dass diese Freundschaft einen Riss bekommen hat“, merkte er an.

„Über solche kleinen oder auch großen Risse sollten wir hinwegsehen und unseren Blick auf das Ganze richten. Du wolltest das Beste, du dachtest, du würdest im Sinne der Gemeinschaft handeln. Du hieltest das, was wir taten, für gefährlich. Wie dem auch sei, nun stehen wir einer großen Herausforderung gegenüber. Wir haben so gehandelt, wie wir es mussten, haben das Bewusstsein auf diesem Planeten erweitert, damit seine Bewohner eines Tages an der großen Einheit teilhaben können, die unsere Heimat ist. Obwohl … natürlich, es tut weh, der Verlust. Unter anderen Umständen wären wir Gegner. Unter den Umständen aber, wie sie sich jetzt zeigen, bleibt uns nichts anderes übrig, als an einem Strang zu ziehen – wie man auf der Erde sagt –, da wir einen gemeinsamen Feind haben. Wie mächtig dieser Feind ist, wissen wir nicht, aber unsere Uneinigkeit könnte sein Sieg bedeuten. Große Reiche sind nicht an der Stärke ihrer Gegner zugrundegegangen, sondern weil sie ihre eigene Schwäche nicht erkannt haben. Am Ende hat man die Wahl zwischen Untergang oder Harmonie.“

„Ich sehe, wir werden uns trotz unterschiedlicher Ansichten in der Sache einig sein.“

Und das muss ausreichen“, sagte Alice. „Mein Wagen steht gleich um die Ecke. Wir bringen dich ins Hotel.“

Montag, 7. Februar 2022

     TEIL 16


Nach der nächsten Schlafphase war es soweit: Man brach zur Expedition auf, wollte den Spuren des Wesens folgen, das eigentlich nicht existieren durfte, zumindest der Logik nach nicht. Lu sollte in der Kuppel bleiben, während Kaito und Kwang sich aufmachten, den Spuren des Enceladusbewohners zu folgen.

Rasch fanden sie die Fußabdrücke des Tieres. „Schätze es auf Schimpansengröße“, murmelte Kaito in sein Mikrofon. „Aber dieses Vieh ist einfach ein Rätsel. Wo sind die anderen Tiere seiner Art? Wo sind die Pflanzen, die es frisst? Falls es ein Raubtier sein sollte, müsste es auch Beute geben. Aber es existiert hier nichts weiter, außer Pulverschnee, ewiger Pulverschnee.“

Möglicherweise werden wir das Geheimnis heute lüften“, gab Kwang zu bedenken.

Kaito nickte. „Gut, dass das Tier in Richtung des schwarzen Flecks gelaufen ist. Den wollten wir ja wieso untersuchen.“

Der Fleck wird nicht so weit weg sein, wie es scheint. Der Horizont ist ziemlich nah auf so einem kleinen Trabanten. Allerdings sind wir auch nicht die Schnellsten in unseren klobigen Anzügen. Unsere Hüpfer gehen mehr in die Höhe, als dass sie uns weiterbringen“, erklärte Kwang, mehr um den Weg mit seinem Gerede zu verkürzen und weniger, um eine sinnvolle Information zu geben.

Kaito grinste hinter dem doppelten Kunstglas seines Helmes. „Wir müssen uns vorstellen, wir wären Kängurus, dann klappt es besser mit dem Hüpfen. Noch eine Woche, bis dahin hat sich unser Bohrer durch die Eisschicht durchgefressen. Eine weitere Woche, und die Sonde wird den unterirdischen Ozean untersuchen, und ab geht’s nach Hause. Ich werde eine Weltreise machen.“

Kwang scherzte: „Bist du nicht schon weit genug gereist? Wenn ich wieder daheim bin, wird erst mal ein Kind gemacht. Zu zweit ist es ja ganz nett, aber irgendwann sollte eine richtige Familie her.“

Kaito machte eine abwehrende Geste. „Also, was mich betrifft, da lasse ich mir n Zeit. Ich meine, schlaflose Nächte, nasse Windeln, Kinderkrankheiten, das hört sich nicht so toll an.“

Die beiden Astronauten hüpften beständig weiter durch die eisige Wüste. Mit Ausnahme des schwarzen Punktes, auf den sie sich zubewegten, bot die Landschaft nicht die geringste Abwechslung. Sie begannen diesen Mond zu hassen, hassten den Himmel über sich, an dem der riesige Saturn stand, dessen Ring ihn unwirklich erscheinen ließ. Sprung für Sprung wurde der Punkt vor ihnen größer, bis sie erschöpft vor ihm standen. Sie blickten aufwärts, abwärts und wieder aufwärts. Auf einem Sockel war ein parabolischer Teller montiert – etwa sieben Meter im Durchmesser. Das Gebilde bestand aus schwarzem Metall. Daneben ragte ein ungefähr drei Meter hoher und zwei Meter breiter Zylinder dunkel glänzend aus dem Schnee. Die Spuren des Mondaffen führten bis zum Zylinder, wo sie abrupt endeten. Kaito musterte die Anlage. „Sieht wie eine Antenne aus“, stellte er fest. „Hier wird scheinbar etwas gesendet oder empfangen.“

Wer hat das hierhin gestellt?“, fragte Kwang, ohne eine Antwort zu erwarten.

Keine Ahnung“, antwortete Kaito, „wir könnten ja erst einmal der Frage nachgehen, wohin der Affe verschwunden ist.“

Kwang nickte. „Gut spielen wir Detektiv. Bis hin zu dem Zylinder ist er gekommen. Dort verschwinden seine Spuren. Als hätte er sich aufgelöst. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden.“

Also“, führte Kaito Kwangs Überlegungen weiter, „kann der Affe nur in dem Ding drin stecken. Vielleicht ist der Zylinder seine Behausung. Nur ich sehe keinen Eingang.“ Er berührte die metallene Oberfläche, als wolle er das Material prüfen. „Falls sich das hier aufschieben lässt, schaffe ich es nicht. Hier rührt sich nichts. Wir müssten Werkzeug besorgen. Vielleicht hockt das Vieh da drinnen und lacht ins aus.“ Ärgerlich schlug Kaito gegen das schwarze Metall.

Zur Überraschung der beiden Astronauten öffnete sich der Zylinder. „Das nennt man wohl Schiebetür“, kommentierte Kwang.

Im Inneren fanden sie nichts vor. Der Affe war und blieb verschwunden. Kaito ging hinein und sah sich um. „Da ist ein grünes Leuchten an der Decke.“

Ein grünes Leuchten?“, wiederholte Kwang fragend. Er betrat ebenfalls die schwarze Röhre. Blitzschnell schob sich die Tür zu.

Mist“, tobte Kaito, „wir sitzen in der Falle!“

Wir sind echt nicht die Hellsten. Der Aufenthalt hier hat uns blöde gemacht. Wie konnten wir nur so leichtsinnig sein? Wir müssen hier raus!“, schrie Kwang in sein Mikrofon und trommelte wie toll gegen die Wand. Nach kurzer Zeit ließ er resigniert die Arme sinken. „Wir sitzen fest verdammt! Ich habe echt Schiss.“

Kaito sah ihn mit großen Augen an. „Etwas passiert. Merkst du es auch?“

Ja, es geschah tatsächlich etwas. Kwang presste mühsam ein einziges Wort aus seiner Kehle: „Abwärts!“

Genau“, bestätigte sein Kamerad, „das ist wohl ein Fahrstuhl. Damit wäre die Frage, wohin der Affe verschwunden ist, geklärt.“

Kwang sah besorgt aus. „Wohin fahren wir? Um irgendwo anzukommen, müssen wir durch mindestens dreißig Kilometer Eis, darunter liegen noch etliche weitere Kilometer Wasser, danach müsste der Meeresboden kommen, eine Sandschicht vermute ich. Wir wissen nicht, wo das Ding anhält. Unsere Atemluft reicht nicht ewig. Wir wollten ja nur kurz raus, uns umsehen, dann zurück zur Wohnkuppel. Wenn wir nicht rechtzeitig an Sauerstoff kommen, war‘s das für uns gewesen. Scheiße!“

Schweigend schauten die beiden Männer nach oben, wo das Licht grünlich von der Decke flimmerte. Nichts war zu hören, außer ein kaum wahrnehmbares Summen, ausgelöst vom Mechanismus des Fahrstuhles, das sich vom Boden her auf den Schutzanzug übertrug. Bald ließ das Geräusch nach. Tiefe Stille. Die Zeit stand still. Kaito blickte zu den Messinstrumenten an seinem rechten Arm. Noch war eine minimale Sauerstoffreserve vorhanden, aber nicht mehr lange. Es würde für sie keinen Weg zurück geben. Es bliebe ihnen nur eine letzte Chance zum Überleben, nämlich, dass die Fahrstuhltür sich bald öffnen würde und sich dahinter atembare Luft befände. „Warum geht diese Tür nicht auf?“, fragte Kwang. Seine Frage richtete sich mehr an das Schicksal als an Kaito, der ihn hilflos anglotzte. Kwang wusste, er würde keine Antwort bekommen, keinen Trost. Er begann zu beten, es war ihm gleichgültig, zu wem oder zu was. Bald steigerte sich sein Gebet zu einer Beschwörung. „Geh auf, geh auf“, zischte er. Schweiß tropfte ihm aus den Hautporen. Das konnte doch nicht das Ende sein! Er wollte hier nicht verrecken, in dieser verfluchten Röhre, auf diesem kalten Mond. Er hatte Pläne! Es gab noch ein Leben, das in ihm zappelte, sich regte, das sich ausbreiten wollte wie eine Welle, das riechen, fühlen, schmecken wollte. Noch einmal die Erde sehen, sagte er sich, einmal noch den Frühling riechen, den Wind spüren, den Regen, eine Haut, einmal noch Lachen oder Weinen, einmal nur.

Langsam öffnete sich die Tür des Fahrstuhls. Den beiden Astronauten ging die Luft aus. Ihre Lungen flatterten. Einige Meter vor sich erkannten sie dünne Gestalten. Sie waren hochgewachsen, ihre spinnenartigen Arme bewegten sich wie in Zeitlupe. Kwang und Kaito gestikulierten wild, um zu zeigen, dass sie kaum noch atmen konnten. Eines der hageren Wesen trat vor. Es richtete eine Röhre auf die Neuankömmlinge, denen sofort klar wurde, was geschah: Diese Röhre musste eine Waffe sein! Stechender Schmerz durchfuhr sie, bis die Dunkelheit alles verschluckte.


Ich hoffe, es geht ihnen gut.“

Die Stimme durchschnitt den dicken Nebel, in dem er drinzustecken schien. Der Kampf des Körpers ums Überleben war vorüber. Luft strömte in Kwangs Lungen, der Brustkorb dehnte sich selig aus. Es war köstlich zu atmen. Prickelndes Leben tanzte in seinem Herzen. Er existierte.

Sind Sie wach?“, fragte die Stimme besorgt.

Kwangs Blicke schweiften umher und blieben an Kaito hängen, der auf einer Liege saß. Kaito lächelte. „Wir leben noch.“

Der Raum, in dem sie sich befanden, bestand aus einem durchsichtigen Material. Ringsherum erkannte er einen anderen Raum, dessen Wände so weiß schienen wie der Schnee auf der Oberfläche. Jetzt erblickte Kwang eines der fremden Wesen. Es bewegte sich langsam vor der durchsichtigen Wand. Seine Hände spreizten sich, die langen, eleganten Finger machten den Eindruck, als wären sie Antennen, mit denen es irgendetwas empfangen wollte, eventuell eine feine Schwingung von Emotionen oder Gedanken.

Das Wesen sprach: „Mit Freude sehe ich, dass Sie beide wohlauf sind. Als Sie uns gegenüberstanden, haben wir sofort erkannt, in welcher misslichen Lage Sie sich befanden. Die Situation war so ernst, dass wir keine andere Möglichkeit gesehen haben, als auf Sie zu schießen. Unsere Atmosphäre hier unten ist nicht sauerstoffhaltig. Mit einem Betäubungsgewehr konnten wir ein kleines Projektil in ihrem Körper platzieren, das sich rasch auflöst und den Sauerstoffverbrauch extrem herunterfährt, ohne jedoch Schaden anzurichten. Somit blieben Sie lange genug am Leben, bis wir Sie in diesen Raum bringen konnten. Er enthält ein Ihnen bekömmliches Gasgemisch. In ihrer Heimat wird es mit dem Wort Luft bezeichnen.“

Kwang erhob sich und machte einen Schritt auf den Fremdling zu. „Hören Sie, ich habe tausend Fragen: Wieso sprechen Sie unsere Sprache? Was hatte es mit diesem Affen auf sich? Wer sind Sie?“

Die dünne Gestalt neigte den Kopf. Etwas Ähnliches wie ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Ich kann nachvollziehen, dass Sie neugierig sind. Ich möchte versuchen, Ihnen behilflich zu sein. Von Ihrem Heimatplaneten werden viele Signale gesendet. Telefongespräche, TV-Sendungen, Internet, das alles verteilt sich im Raum. Und natürlich nehmen wir gerne teil an ihrem Unterhaltungs- und Informationsangebot. Insofern sind wir bestens unterrichtet, was die Situation der Erde betrifft. Der Affe, wie sie ihn nennen, ist einer unserer Arbeiter. Ein Tier, von uns erschaffen und angepasst an die Bedingungen der Oberfläche dieses Mondes. Es muss nicht einmal atmen. Wir selbst allerdings benötigen Co². Die Frage, wer wir sind, ist dagegen nicht so einfach zu beantworten. Es gibt Dinge, die Sie nur nach und nach begreifen können. Es sei Ihnen aber gesagt, dass wir uns nicht hier entwickelt haben. Enceladus war unbewohnt, ein Toter Himmelskörper, bevor wir gelandet sind. Die wichtigste Frage aber haben sie noch nicht gestellt: Wer sind Sie selbst? Ich sage es Ihnen: Sie sind ein Geschenk des Himmels für Ihren Planeten. Sie wissen von der Sache in Europa. Außerirdische treiben dort ihr dreistes Spiel mit der Menschheit! Nun, wir kennen diese Species. Sie tut so etwas nicht zum ersten Male. Am Ende kam nie Gutes dabei heraus. Die Menschheit ist drauf und dran, ihre Seele zu verlieren. Sie sind der Mensch, um das aufzuhalten.“

Ich muss sagen, mir schwirrt der Kopf“, gab Kwang zu. „Wir wurden erschossen, um zu überleben, dann werden wir wach und Sie erzählen Dinge, die mich total verwirren.“

Das fremde Wesen öffnete seine Hände, über sein bleiches Antlitz fiel mildes Licht, der schmale Mund lächelte still. Noch immer waren die großen Augen konzentriert auf Kwang gerichtet. „Treten Sie etwas näher. Mein Name lautet Xellox“, sprach die warme Stimme jenseits der durchsichtigen Wand. „Öffnen Sie sich Kwang. Sie sind viel mehr, als Sie glauben. Ich möchte Sie mitnehmen, mitnehmen zu einer Reise. Zuerst zu dieser Frau, an der Ihre Gedanken hängen und auch Ihr Herz.“

Kwang spürte Energie. Sie floss von allen Seiten in ihn ein, durchströmte seine Zellen, strömte durch Adern, schwamm in seinem Blut, wärmte Muskeln und sauste durch seine Nerven. Etwas veränderte sich, hatte sich schon verändert: Die Angst war fort.

Jetzt folgt der Teil, bei dem Sie ein wenig zittern werden. Hier befreit sich jahrelang blockierte Energie. Oft handelt man ungesund gegen sich selbst. Alle solche Handlungen schneiden ein Lebewesen von seiner eigentlichen Kraft ab. Können alte Blockaden schmelzen, so findet Heilung statt. Sogar mehr ist möglich, viel mehr, wenn Sie wieder aus der Quelle schöpfen. Gehen Sie bitte zu der Liege auf der rechten Seite. Ich will Sie herausziehen!“

Kwang folgte der Anweisung. Er setzte sich. „Herausziehen?“, fragte er verständnislos.

Herausziehen aus der starren Form“, erklärte Xellox. „Sehen Sie, hier in diesen Höhlen unter dem Meer, gibt es nur wenig. Alles ist karg. Kaum Licht, nur etwas von den Leuchtpilzen, die wir anbauen, und von den Lampen. Keine Sonne bescheint unsere Existenz. Man könnte das alles trostlos nennen. Dennoch, wir vermissen nichts; denn wir leben die meiste Zeit nicht in der Welt der festen Formen. Und so möchte ich auch Sie aus der Welt der Formen herausziehen. Lassen Sie ihren Körper da, wo er ist, und kommen Sie zu mir, ganz nah zu mir heran. Sie müssen nun Ihren Kameraden verlassen. Jeder hat seinen eigenen Weg. Er wird den seinen finden, wie Sie den Ihren finden werden. Kommen Sie noch näher heran!“

Ich kann nicht Xellox, die durchsichtige Wand ist zwischen uns.“

Wenn Sie meinen, diese Scheibe könnte Sie aufhalten, dann wird sie Sie aufhalten. Noch glauben Sie an die Macht der Materie. Sie blicken auf das, was fest ist, auf das Grobe, weil ihre Blicke nicht fein genug sind, weil Ihre Augen nach etwas suchen, was sie festhalten können. Die Wahrheit aber ist: Sie haben längst eine feinere Welt betreten, die Welt subtiler Energiegeflechte. Hier existiert nichts Starres, nichts, was Sie aufhalten könnte.“

Und so war es auch. Mit einem entschlossenen Schritt ging Kwang durch die vermeidlich unüberwindbare Scheibe hindurch. Es fühlte sich an wie ein Luftzug, der ihn sanft streifte.

Sie können durch alle Wände gehen“, sagte Xellox, ohne den Mund zu bewegen.

Kwang begriff, dass er nun die Gedanken seines Gegenübers hören konnte.

Sehen Sie“, sprach Xellox in Gedanken weiter, „Sie stehen ja gar nicht auf dem Boden, wie Sie glauben. Sie schweben bereits ein wenig darüber. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle unseres gemeinsamen Abenteuers nicht verschweigen, dass Sie fliegen können.“

Sie haben recht, ich stehe nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden. Ich habe davon gehört, von der Sache hier. Auf der Erde nennt man es Astralreise. Ein unwissenschaftliches Konzept, vermutlich …“

Ja, auf der Erde mag es ein unwissenschaftliches Konzept sein, aber dennoch sind Sie bereits durch eine dicke Kunststoffscheibe gelaufen und jetzt schweben Sie über dem Fußboden“, sagte Xellox und lächelte lausbübisch. „Gewiss, einige üben sich auf der Erde darin, diesen sogenannten Astralkörper auszusenden und mit ihm durch die feinstoffliche Welt zu reisen. Das, was Sie im Augenblick erleben, ist kein ungewöhnliches Phänomen. Auf Ihrem Planeten steht man erst am Beginn der astralen Experimente, da bei den Menschen zu viel Irrglaube herrscht. Wir haben die Stufe der Experimente seit etlichen Jahrtausenden hinter uns gelassen. Bei Ihnen wird das alles mit esoterischen Ideen verunreinigt. Bei uns ist es exakte Wissenschaft. Das Außergewöhnliche ist unsere Heimat. Jetzt sind auch Sie ein Energiewesen. Bald schon werden Sie mit der Kraft des Universums tanzen, bald werden Sie darüber lachen, dass Sie Grenzen für Real gehalten haben.

Wir müssen eine wichtige Sache erledigen. Diese Wahnsinnigen vom Jupitermond Europa dürfen ihren Plan nicht fortführen. Sie werden die Erde in den Untergang treiben, werden die Harmonie der bewohnten Welten zerstören. Diese Wesen wollen, von einer irrwitzigen Hoffnung getrieben, die Menschheit verbessern, nach einer Methode, die sie nach Gutdünken für richtig halten. Ich bemerkte schon, sie haben des Öfteren darin versagt, ihre Vorstellungen in die Realität umzusetzen. Die Folgen waren immer schrecklich.“

Dienstag, 1. Februar 2022

 


                          TEIL 15



Alice sagte: „Ich glaube, etwas passiert, etwas Wichtiges.“ Sie schaute mit dem inneren Auge in die Ferne, um zu sehen, was vor sich ging auf der Welt. Sie erblickte aufgebrachte Menschen. Sie schrien, sie forderten Freiheit! Ihnen gegenüber standen Soldaten. Ein Befehl wurde gebellt. Die Männer in Uniform richteten ihre Gewehre auf die Menge vor ihnen. Ein blonder Soldat mit rosiger Haut und hellblauen Augen, die wie unschuldig unter seinem Helm hervorblinzelten, starrte einer Frau ins Gesicht. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut. Sie fluchte und weinte. Der Soldat regte sich nicht, er musste an seine Mutter denken. Eine unsichtbare Hand schien sein Gewehr niederzudrücken. Der Kamerad neben ihn bemerkte es und atmete erleichtert auf. Auch er senkte seine Waffe. So ging es die ganze Reihe durch. Der, welcher das Kommando gebrüllt hatte, besah sich seine Mannschaft. Seine Hände zitterten. Ihm wurde klar: Sie würden nicht mehr auf ihn hören. Außerdem hatte er auch gar keine Lust mehr dazu, grausame Befehle zu geben. „Die Soldaten sind unsere Brüder!“, rief ein Mann aus der Masse heraus. Da schlossen sich die Soldaten den Zivilisten an, erst zögernd, schließlich mit Begeisterung. Gemeinsam liefen sie auf das Reichstagsgebäude zu.


Eine Art Ruck ging durch den Planeten. Die Frequenz des planetarischen Bewusstseins veränderte sich. Offenbar hatten die Infektionen, ausgelöst von den Bewohnern Europas, ihre Wirkung gezeigt. „Die Resonanz vergrößert sich“, sagte Alice erfreut, „sie breitet sich aus und vertieft sich. Bald wird die Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung erreicht haben.“

Karen stimmte ihr zu. „Die Regierung hatte recht: Es war ein Angriff der Aliens, – und jetzt scheinen sie zu gewinnen.“

Gewiss Karen, es war und ist ein Angriff auf die Wahnideen, ein Angriff auf die Illusion, dass jeder ein von allem anderen getrenntes Wesen ist, ein Angriff auf die Idee, der Mensch wäre nur ein Mittel, das jedem beliebigen Zweck zu dienen hat. Die Menschheit verliert und gewinnt. Und jene, die festhalten an alten Strukturen, werden jammern und zittern. Ihre Macht wird schwinden, ihr Reichtum, der in Wahrheit nichts anderes ist als Armseligkeit, wird ihnen wie Wasser aus den Händen fließen, bis nichts mehr übrig bleibt, wozu sie sagen könnten: Das gehört mir. Aber der Gewinn übersteigt bald die Verluste. Sie werden begreifen, wer sie sind und woher sie kamen, dass man Teil der kosmischen Gemeinschaft ist, verbunden mit den Seelen auf anderen Himmelskörpern. Wir alle sind eine Familie. Einige Familienmitglieder sind alt, andere sind Kinder und wissen nicht, was sie tun. Sie haben noch zu lernen. Die Menschheit beginnt erst, aus ihren Kinderschuhen herauszuwachsen. Sie wagt ihre ersten Schritte als erwachsene Gesellschaft. Ja wir Aliens haben die Erde angegriffen, auf unsere Art. Wir hoffen, es wird keine Verlierer geben.“


Karen stand auf. „Philip?“

Sie gingen zu ihm. Er lag wie schlafend da. „Philip?“, sagte Alice laut.

Er sah aus wie ein Kind, verloren in süßen Träumen.

Ob er sich entsinnen wird?“, fragte Karen.

Wir können hoffen, mehr nicht. Die Hoffnung ist allerdings ein unzuverlässiger Geselle.“ Alice legte ihre Hand auf Philips Schulter.

Er schlug die Augen auf, seine Pupillen sprangen unruhig hin und her. „Wo bin ich?“

Du bist in Sicherheit, in den Bergen, hier bei uns. Schau nur, Karen ist auch da. Du erkennst sie doch, oder?“

Philip sah zu Karen hinüber. Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Bin ich in Sicherheit?“

Ja“, versprach Alice, „du bist in Sicherheit.“

Ich kenne euch nicht“, flüsterte er.

Du wirst dich erinnern.“

Ich bin so müde.“

Dann schlafe Philip, schlafe!“

Wer ist Philip? Das ist ein lustiger Name.“

Schlafe und träume, träume von etwas Schönem, von einer guten Welt!“

Philips Augen fielen zu.

Karen blickte Alice fragend an. Die schüttelte nur den Kopf, schwieg eine unerträgliche Weile und sagte: „Sieht nicht gut aus. Er muss gründlich untersucht werden, unten, auf dem Meeresgrund. Er erkennt uns nicht mehr. Eventuell ist seine Erinnerung fort, ich meine, fast seine gesamte, sodass er nichts mehr von Europa weiß, auch nichts von der Erde. Möglicherweise wird man ihm eine neue Erinnerung einpflanzen, damit er sich irgendwo zurechtfinden kann. Wo würde er sich wohler fühlen, unter Wasser oder auf dem Erdboden?“

Ich denke, es hat ihm gefallen, als Mensch zu leben“, flüsterte Karen. In ihren Augen schwammen Tränen und Verzweiflung.

Alice nickte. „Die Erdkolonie wird ihren Protest gegen die Regierung auf Europa zum Ausdruck bringen. Der Schaden, der durch Chrochro entstanden ist, ist kaum wiedergutzumachen. Ich kenne ihn, er arbeitet für die Regierung des Europas. Man wird sich gut um Philip kümmern in unserer Kolonie auf dem Meeresboden. Ich muss jetzt auch nach meiner Tochter sehen.“


Die Wärme wollte gar nicht mehr enden, die Luft stand unbewegt über den Feldern. Alice und Karen fuhren mit dem Cabriolet die Landesstraße entlang, die sich staubig durch die Rapsfelder schlängelte. Sie bemerkten den Bauern. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gewiss freute er sich auf den Feierabend und auf eine anständige Mahlzeit. Alice bremste ab. Der Wagen kam neben dem Bauern zum Stehen. Freundlich schaute er sie an und grüßte nickend.

Guten Tag!“, rief Alice ihm zu. „Könnten Sie uns bitte sagen, wie wir zum nächsten Dorf kommen?“

Er trat näher heran, fast scheu. Das sei einfach, erklärte er, man müsse nur immer geradeaus fahren.

Na dann sind wir ja auf dem richtigen Weg!“, meinte Alice. „Schön haben Sie es aber hier. Die Landschaft wirkt sehr friedlich.“

Der Bauer nickte. „Ja ruhig ist es, nicht so verrückt wie manch anderenorts. Man ist eben zufrieden mit dem, was vor einem liegt. Jetzt muss ich aber nach Hause. Meine Frau wartet schon mit Essen auf mich. Leben Sie wohl!“

Leben auch Sie wohl!“, Alice und Karen ihm zu und fuhren weiter.



Vor ihnen lag das Dorf.

Er ist zufrieden“, sagte Alice.

Er hat uns nicht erkannt, nicht wahr?“

Nein, hat er nicht.“

Er lebt ein neues Leben“, sagte Karen leise, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin.

Ja, und wir leben unser altes weiter. Jeder hängt an einem Schicksalsfaden.“

Karen blickte sich um. Dahinten wuchsen Flachs, Raps und Hanf. Dort lebte ein Bauer sein Leben. Er konnte sich nicht an mehr entsinnen, als an die Kindheit und Jugend, die man ihm eingepflanzt hatte. „Gewiss, jeder baumelt an seinem Faden“, flüsterte Karen.




    ENCELADUS



Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten …


Rainer Maria Rilke

Engelieder


Nun war sie wirklich hier, in Deutschland, diesem schrecklichen Deutschland im kalten Herzen Europas. Nieselregen hing seit Stunden in der Luft. Himmel und Hauswände teilten sich das gleiche Grau. Das Chaos war voll im Gange: Die Regierung führte einen verzweifelten Kampf gegen die Unzufriedenen sowie gegen die Alien-Anhänger. Dieser Kampf glich beinahe schon einem Rückzug. Die Speerspitze der Anarchisten bildeten die sogenannten Infizierten, die von den Außerirdischen des Mondes Europa kontrolliert wurden. Sie wusste: Diese Infizierten konnten andere anstecken, sie in fanatische Zombies verwandeln, die bereit wären, für die irrsinnigen Ziele einer außerirdischen Macht in den Kampf zu ziehen. Europa würde zuerst fallen, dann der Rest der Welt. Noch blieb Asien verschont, aber das könnte sich bald ändern. Allein sie war in der Lage, den Irrsinn aufzuhalten. Es schien unglaublich, aber es war so. Sie, eine einzelne Frau, verfügte über die Macht, die Aliens in ihre Schranken zu weisen.

Sie galt als kleine Berühmtheit, seit ihr Mann dort hochgeflogen war, zu dieser frostigen Hölle, die den Saturn umkreiste. Das Erlebnis, das sie vor Kurzem in Korea gehabt hatte, wiederholte sich in ihrem Geist. Sie war vom Einkaufen zurückgekehrt. Die Sonne stand heiß über Seoul. Dann war es geschehen, das Unglaubliche.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab wie ein lästiges Insekt. Jetzt war sie ganz auf die Gegenwart konzentriert. Ihr neuer Instinkt ließ sie rechts abbiegen. Sie betrat einen Parkplatz, auf dem fünf Polizisten versuchten, einen Mann einzukreisen. Es gelang ihnen offensichtlich nicht. Es konnte ihnen nicht gelingen, da dieser Mann einer von den Infizierten war. Mit hoffnungsloser Mimik zogen die Beamten ihre Waffen, wohl wissend, dass sie damit keinen Erfolg haben würden. Und richtig, unversehens befand sich der Infizierte hinter ihnen. Sie konnten nicht begreifen, wie er das gemacht hatte. Als sie von ihnen bemerkt wurde, schauten sie noch hoffnungsloser drein. Wenn das auch eine von denen wäre, dachten sie wohl, hätten sie nichts mehr zu lachen. Für einen Augenblick schien der Infizierte verwirrt, als wäre etwas Unbegreifliches in den Radius seiner Wahrnehmung getreten. Zeitlos schnell packte sie sein Handgelenk und schleuderte ihn wie eine Puppe herum. Er krachte gegen eine Limousine.

Vorsichtig!“, rief Min-Jee. Fast gleichzeitig schoss einer der Polizisten dem Mann ins Herz, sodass er zu Boden sackte. Ungläubig glotzen die Polizeibeamten auf den Infizierten. Es war das erste Mal, dass einer dieser angeblich Unbesiegbaren ihnen unterlag. Nach und nach richteten sich ihre Blicke auf Min-Jee.

Halt!“, bellte einer der Polizisten und zielte mit seiner Pistole auf sie.

Rasch schubste Min-Jee sie alle um. Ehe sie begriffen, wie ihnen geschah, lagen sie am Boden. Mit unbändiger Kraft packte sie einen der Männer am Kragen und zog ihn hoch. „Ab jetzt wirst du ein Kämpfer sein“, sagte sie und schaute ihm fordernd in die Augen.

Der Polizist zuckte und zitterte. Er wurde von einer unbekannten Macht hin und her geworfen.


Kwang fühlte sich dick, aber er hatte nicht wirklich zugenommen, nur der Anzug, in dem er steckte, vermittelte ihm dieses Gefühl. Die Maße des Schutzanzuges mussten einfach so gewaltig sein, immerhin sollten damit zweihundert Grad minus ausgeglichen werden. Die Oberfläche von Enceladus speicherte keine Wärme, was dort an Sonnenlicht auftraf, wurde von der weißen Landschaft reflektiert. Überall lagen glitzernde Körnchen herum, feiner als der Schnee auf der Erde. Sie hatten ihren Ursprung in den Fontänen. Sie durchbrachen kraftvoll die Oberfläche und Wasser und Silikate schossen weit hinaus bis in den Himmel. Das Wasser, das die unterirdischen heißen Quellen ausspien, gefror sofort. Ein Teil davon fiel auf den Boden des Saturnmondes nieder und machte jenen feinen Schnee aus, der alles unsagbar hell erscheinen ließ. Ohne das getönte Glas seines Helmes würde er erblinden. Die restlichen Eispartikel und Silikate flogen so weit ins All hinaus, dass sie einen Teil des Saturnringes bildeten, den Kwang jetzt in märchenhafter Pracht über sich erblickte. Hier draußen konnte man immerzu den Saturn sehen, denn Enceladus wandte, wie auch der Mond der Erde, seinem Planeten ständig nur ein und dieselbe Seite zu. Knapp dreißig Kilometer Eis lagen zwischen Kwang und dem unterirdischen Meer, in dem eventuell Leben existierte. Seine beiden Kollegen saßen jetzt in der gemütlichen Kuppel, die ihnen als zu Hause diente, bis ihre Mission abgeschlossen sein würde. Ihn hatte es erwischt, er hatte das kleine Stück Papier gezogen und musste so den Außenauftrag aufführen! Es galt, den Roboter zu warten. Es gab wohl Probleme mit der Stromversorgung. Welcher Akku fühlte sich schon bei minus zweihundert Grad wohl? Kwang sah zum dunklen Punkt hinüber, der ihnen von Anfang an aufgefallen war. Vielleicht ein Meteorit dachte er, der seltsamerweise nicht in die Eisschicht eingedrungen war und von dem der Schnee immer wieder abrutschte. Nach dem nächsten Schlafzyklus wollten sie der Sache auf dem Grund gehen. Er kratzte mit einem Spachtel an der Maschine herum. So, der Roboter funktionierte wieder. Es war doch nicht die Batterie gewesen, sondern zu viel Schnee hatte sich festgesetzt. Kwang freute sich darauf, in die Wohnkuppel zu zurückzukehren. Der schwarze Punkt lag auf einer kleinen Anhöhe. Dieser verdammte Punkt sollte eigentlich nicht existieren! Der Roboter würde es nicht hinaufschaffen. Sie hatten festgestellt, dass menschliche Beine besser geeignet waren durch den Schnee zu kommen als die Räder des Roboters. Was sie wohl dort vorfinden werden? Langsam tappte er vorwärts. Er zuckte zusammen. Etwas hatte sich bewegt. Es sollte sich hier aber nichts bewegen, mit Ausnahme des Roboters! Und doch lief dort etwas herum. Es war dunkel, bräunlich und flink. Kurz lugte es hinter der Kuppel hervor, verschwand aber sogleich wieder aus seinem Blickfeld. Kwangs Herz pochte, Panik breitete sich in ihm aus. War das, was er sah, eine Halluzination, die sein Gehirn wegen der monotonen Landschaft und der immer gleichen Gesellschaft ausgebrütet hatte? Er wusste nicht, was zu bevorzugen wäre: den Verstand zu verlieren oder einer unheimlichen Lebensform begegnet zu sein, an einem Ort, an dem es kein Leben geben dürfte! Wenn das ein Tier gewesen war, was fraß es? Schnee? Es herrschten immerhin zweihundert Grad minus. „Ich habe etwas gesehen“, krächzte er ins Mikrofon.

Was hast du gesehen?“, fragte Lu, das chinesische Teammitglied, zurück.

Weiß nicht. Ein Tier vielleicht.“

Die Oberfläche von Enceladus ist nicht bewohnt. Die letzte Sonde ist vor zwei Monaten vorbeigeflogen, so nahe, dass sie den Schneeball fast gestreift hätte. Sie hat nur Schnee gefilmt, nur Schnee und den unbeweglichen dunklen Fleck, den wir uns bald ansehen werden, der wahrscheinlich aus irgendeinem vulkanischen Zeug besteht. Hier gibt es nur Eis, Pulverschnee und etwas Silikat dazwischen. Die Atmosphäre besteht aus ...“

Ich weiß“, unterbrach Kwang, „aber vielleicht konnte die Sonde nicht alles erkennen.“

Fakt ist, es gibt keine Tiere hier. Unten mag sein, am Grund des unterirdischen Meeres, wo es wärmer ist. Auf der Oberfläche erstarrt jedes Tier, sie ist einfach zu kalt ...“

Oh Mist – es ist wieder da!“, rief Kwang, bevor es ihm die Sprache verschlug. Er erblickte ein untersetztes Männchen in einem Pelzmantel. Die Gestalt schien zu grinsen. Jetzt beugte sich das Wesen vorn über und lief auf allen vieren auf den dunklen Fleck zu. Nun erkannte er ganz deutlich: Es war doch kein Männchen, was sich dort rasch und mit weiten Sprüngen fortbewegte und dabei jede Menge Schnee aufwirbelte.

Ein Affe“, rief er, „ein Affe im Schnee!“

Machst du Witze? Bist du dir sicher, dass es keine Wahrnehmungsstörung ist?“

Er ist wieder fort. Ich bin mir bei nichts mehr sicher“, sagte Kwang. „Ich gehe hinter die Kuppel und suche nach Spuren.“

Er hüpfte wie ein Känguru. Diese Art des Vorwärtskommens war die effektivste bei geringer Schwerkraft. Hinter der Kuppel fand er sie, die Spuren. Vier Zehen zählte er.

Nachdem Kwang die Kuppel betreten hatte, gestikulierte er aufgeregt. Die beiden anderen sahen ihn mit großen Augen an. „Vier Zehen hat das Ding. Sieht aus wie eine Art Affe oder ein kleiner Bär. Hoffentlich ist es nicht gefährlich. Steckt die Kälte locker weg das Vieh. Ich meine, ihr wisst, selbst ein Eisbär wäre hier in spätesten zwei Sekunden erfroren. Und es ist real. Die Spuren sind da, direkt neben unserer Kuppel.“

Morgen werden wir nachsehen“, mit morgen meinte Lu, nach der nächsten Schlafphase.

Das wäre eine Schlagzeile: Die Raumfahrer des CJK-Staates, aus den stolzesten Völkern Asiens bestehend, China, Japan und Korea, entdecken Leben auf der Oberfläche des Saturnmondes Enceladus! – Was für eine Schlagzeile, da würden die Europäer aber gucken. Und wir sind persönlich hier. Die schicken immer nur Roboter. Unsere Namen werden in den Geschichtsbüchern verewigt. Kaito aus Japan, Lu aus China und Kwang aus Korea, wird dort zu lesen sein, entdeckten fremdes Leben in den Weiten des Alls, nämlich einen Eisaffen, einen Mondmenschen. Gewiss werden wir dem Tierchen einen Namen geben dürfen“, meinte Kaito, er wußte selbst nicht, ob er es ernst meinte oder scherzte.

Die in Europa haben ja auch schon Außerirdische entdeckt“, warf Lu ein.

Kwang winkte ab. „Nichts haben sie entdeckt. Sie wurden vielleicht entdeckt, von etwas Gefährlichem. Jetzt drehen sie durch in Brüssel und Berlin. Die haben alle eine Krankheit oder so. Das war das Letzte, was ich darüber gehört habe.“

Ja, unser Auftrag ist bereits erfüllt. Europa wird den wirklich großen Nationen weichen müssen und auf die Unbedeutsamkeit der USA schrumpfen“, triumphierte Kaito.

Also melden wir es der Erde“, sagte Lu und setzte sich ans Funkgerät. Nach einigen Minuten drehte er sich enttäuscht um. „Wir bekommen kein Signal. Alles rauscht. Mag sein, eine elektromagnetische Störung ist schuld, oder was weiß ich.“

Verdammt“, fluchte Kwang, „deswegen sind wir extra hier, weil man meinte, auf Enceladus gäbe es solche Störungen nicht, sonst hätten sie uns nach Ganymed geschickt, wie ursprünglich geplant.“

Es sollte an der Oberfläche ja auch kein Leben vorkommen. Alles ist unberechenbar geworden“, sagte Lu. „Die gute Nachricht: Morgen kommt schönes Wetter.“

Sehr witzig“, kicherte Kwang trocken, „das Wetter wechselt hier nur alle Millionen Jahre einmal. Solange wir uns vom Südpol fernhalten, werden wir zumindest nicht von den Fontänen mit hinauf in eine Umlaufbahn um den Saturn gerissen und enden nicht als Teil des Ringes.“