Montag, 21. März 2022

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Du bist aber früh hier!,“ sagte Min-Jee, „Von den anderen ist noch niemand da. Geh schon mal in die Wohnstube.“

Andy, der absichtlich zu früh gekommen war, betrat das geräumige Zimmer und setzte sich auf eines der am Boden herumliegenden Kissen. Seltsamerweise bemerkte er eine tiefe Ruhe in sich. Keine Spur von Aufregung. Als Min-Jee ins Zimmer trat, um weitere Kissen zu verteilen, öffnete er seine Hände und feuerte einen Energiestrahl ab. Sie konnte nicht schnell genug reagieren und fiel vorn über. Aber Min-Jee schlug nicht auf den Boden auf, ein Energiefeld hielt ihren Körper in der Schwebe. Jetzt galt es, sie zu beschäftigen, bis die Verstärkung hier sein würde. Er schoss einen weiteren Energiestrahl ab, verfehlte allerdings sein Ziel. Min-Jee schwebte mitten im Raum, eine knisternde Aura umgab sie. Funken sprühten ihr aus den Haaren, die aufwärts strebten wie eine leuchtende Löwenmähne.

Was ist nur mit dir los?“, fragte sie und pustete kraftvoll, bis ihr aus dem Mund ein feuriger Ring flog. Er kam auf Andy zu und wurde dabei immer größer. Beinahe hätte der Ring ihn berührt, aber er konnte sich rechtzeitig wegducken, sodass dieses energievolle Gebilde an ihn vorbeisauste und in der Luft verpuffte. Sie hatte wohl nicht richtig gezielt, da er keine Bedrohung für sie darstellte. Sie war ihm einfach haushoch überlegen. Es reichte jedoch, wenn er sie ablenken konnte, damit sie nicht merkte, wie sich ihre wahren Gegner näherten.


Alice stand mitten im Zimmer, Karen einige Schritte von ihr entfernt. Offenbar hatte Min-Jee nun begriffen, dass ihr wirkliche Gefahr drohte. Immer wilder flogen Funken aus ihren Haaren heraus. Unzählige Blitze zischten um sie herum, gleich glühenden Nattern, von giftiger Angriffslust getrieben. Karen konnte einer Energieladung, die aus Min-Jees Stirn geschossen kam, knapp ausweichen. Alice erschuf eine Nebelwand mit isolierenden Eigenschaften, dahinter verbarg sie sich. Min-Jee schwebte leuchtend mitten in der Luft. Feurige Sicheln krochen aus ihren Händen, schwirrten durch das Zimmer. Aus ihrem geöffneten Mund preschte ein gleißender Strahl. Er traf eine von den Zimmerwänden, die sogleich zu Staub zerbröckelte. Min-Jee verbrauchte viel Energie, und, so hoffte Alice, sie würde sich bald entladen. Vorerst aber war daran nicht zu denken. Immer heller leuchtete Min-Jee, die Luft wurde heiß und heißer, alles um sie herum flimmerte wie flüssiges Silber.

Wir verrecken hier!“,schrie Andy. Mit verzweifeltem Mut feuerte er einen Energiestrahl auf Min-Jee ab. Ein Unternehmen, das sich als wirkungslos erwies. Er wurde von dem zerstörerischen Licht Min-Jees gepackt und gegen die Zimmerdecke geschleudert. Es knackte, Knochen zerbrachen. Von der Decke rieselte der Putz.

Alice las Karens Gedanken, die sich darum drehten, dass man Min-Jee einfach nicht entladen konnte. Was wohl auch der Fall war. Anscheinend bekam Min-Jee gerade frische Energie. Alice blickte in die andere Welt, durch die Atome hindurch, durch die virtuellen Teilchen und weiter, bis sie dort, wo Geist und Materie sich trafen, einen Mann erkannte, der Min-Jee mit der Kraft von Enceladus versorgte. Rasch konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart der festen Materie.

Du musst aufhören, Min-Jee“, rief Alice, „das hältst du nicht lange durch!“ Sie schätzte die Möglichkeiten ab: Würde sie in die Welt des Mannes gehen, wäre sie in der Welt der Materie handlungsunfähig. Ihr Körper läge wie eine leblose Puppe auf dem Boden. Andererseits wurde Min-Jee ständig stärker. Sie begriff, dass sie keine andere Chance hatte, als das Risiko einzugehen, zumal sie Min-Jees Absichten und Ziele nicht durchschauen konnte. Immer noch zeigte sich das Einheitsbewusstsein getrübt, und die Zukunft erschien ihr wie ein düsterer Nebel, aus dem jeden Moment ein Ungeheuer herausspringen könnte. Ihr innerer Kompass funktionierte nicht mehr. Alice wagte es: Sie ließ sich fallen, lag auf den Boden, ohne zu wissen, ob sie je wieder aufstehen würde. Sie fiel mit ihrem energetischen Selbst durch den Boden hindurch, in jene Welt hinein, in der ein Mann Min-Jee mit neuer Energie versorgte. Unversehens stand Alice ihm gegenüber. Schleierhaft nahm sie gleichzeitig auch das Zimmer wahr, in dem Karen Min-Jee gegenüberstand und um ihr Überleben kämpfte.

Du bringst sie um. Sie wird verglühen. Es ist zu viel Energie, die durch sie hindurchfließt!“, schrie Alice.

Der Mann hielt inne, mehr aus Überraschung, dass diese sie hier aufgetaucht war, als auf die Reaktion dessen, was sie gesagt hatte. Alice fing Gedankenfetzen auf. Er wusste: Vor ihm stand eine von den gefährlichen Außerirdischen, die über eine tödliche Flotte verfügten, mit der sie die Enceladusaner bedrohten, zudem wollten sie die Erde unterjochen.

Alice erkannte: Der Mann war einer von den Toten. Solche Menschen galten als verwirrt und unberechenbar. Sie begriffen das Sterben einfach nicht, diesen Moment, in dem das Individuelle in die Ewigkeit floss, wo man tot war und lebendig zugleich. Dieser Tote hier wurde offenbar von den Enceladusanern rekrutiert.

Er schwankte innerlich, konnte nicht wissen, ob es ein Trick war, oder ob Min-Jee tatsächlich an einen Überschuss von Energie Schaden nehmen könnte.

Sie brennt durch wie eine überlastete Sicherung!“, rief Alice.

Er wusste, es gab keinen wirklichen und endgültigen Tod, sondern nur eine Verwandlung. Dennoch stoppte er die Energieübertragung.

Min-Jee brach zusammen. Ein paar letzte Funken knisterten um ihren Kopf herum, dann starben auch diese ab. Es wurde still.

Es wird alles gut“, sagte Alice zudem Mann. Sie war sich selbst nicht sicher, aber ihr Mund sprach das aus, was sie glauben wollte. Langsam verblasste der Geist des Toten vor ihr.

Sie erhob sich und ließ ihre Augen im Zimmer umherwandern. Karen seufzte erleichtert. Andy lag schweratmend in einer Ecke. Min-Jee schien in einen tiefen Schlaf versunken zu sein.

Was nun?“, fragte Karen, „Was machen wir mit ihr? Sie töten? Ins Koma versetzen? Ihre Erinnerungen manipulieren?“

Alice zuckte müde mit den Schultern. Sie hatte keine Antwort.

Andy ist verletzt“, sagte Karen.

Langsam ging Alice auf den Verwundeten zu und beugte sich über ihn. Sie spreizte ihre Hände, griff mit ihrem Geist in die Quantenwelt hinein und begann zu rippen. „Ich habe einige Knochen halbwegs zusammengefügt. Es sind etliche Nerven verletzt. Das kriege ich nicht hin. Vielleicht schaffen sie es unten in der Unterwasserstation. Vielleicht.“

Ich kann meine Beine nicht bewegen“, flüsterte Andy.

Dein Rückgrat war eben noch gebrochen.“

Werde ich wieder laufen können?“

Alice schaute ihn an und schwieg einen Moment lang. „Das können wir später klären. Jetzt müssen wir weg von hier, irgendwie.“

Karen wollte von Alice wissen, wie sie die beiden fortschaffen könnten, da sie nicht in der Lage wären, so perfekte Tunnel wie Christian zu formen.

Nun, für Andy könnten wir die Feuerwehr rufen. Ein Unfall. Sie werden ihn ins nächste Krankenhaus bringen. Min-Jee dürfen wir nicht unbeaufsichtigt lassen. Wir müssen sie mitnehmen, indem wir mehrere Tunnel hintereinander bauen. Ist zwar Flickwerk, aber es könnte gelingen. Wir müssen weg von hier. Ihre Anhänger können jeden Moment auftauchen“, sagte Alice und beugte sich über Min-Jee.

Was machst du?“

Ich blockiere alle ihre Erinnerungen.“

Alle?“

Uns bleibt keine Zeit für den Feinschliff“, antworte Alice.

Das heißt, sie wird zum Zombie! Wir waren doch mal die Guten.“

Wir sind im Krieg, Karen, im Krieg. Es wird alles in Ordnung kommen. Eines nach dem anderen.“


Andy lag im Bett.

Hallo, Besuch!“, rief Karen mit gespielter Heiterkeit.

Hallihallo, es gibt Schokolade, die Lieblingsspeise aller Helden!“, trällerte Alice und legte eine Schachtel Konfekt auf die Anrichte neben dem Bett.

Das Kopfteil des Bettes richtete sich auf und brachte Andy in eine sitzende Position.

Wie geht's?“, fragte Karen.

Den Umständen entsprechend. Die Umstände sind allerdings nicht so günstig. Wann komme ich zur Unterwasserbasis, wegen der Behandlung?“

Bald“, versprach Alice, „sehr bald. Es gibt da diese kleine Krise, die alles erschwert. Habe noch ein wenig Geduld!“

Ehrlich gesagt: Die erste Zeitlinie hat mir besser gefallen. Den Schluss ausgenommen“, sagte Andy und lächelte krampfhaft.

Du hast ein Anrecht auf die Wahrheit. Es hat nie eine erste Zeitlinie gegeben.“ Karen atmete tief durch.

Unsinn, natürlich hat es die gegeben. Ich entsinne mich genau, sogar an jedes Detail, bis dahin, als der Ozean zu kochen begann.“

Ja, das stimmt, du kannst dich daran erinnern“, bestätigte Alice, „aber geschehen ist das alles nicht. Es war eine Illusion. Wir haben deine Freundin beobachtet, wussten von ihrem Kontakt zu Min-Jee. Auch über dich haben wir einiges herausgefunden. Reine Routine, wir haben alle Kontakte Min-Jees kontrolliert. Als wir auf dich gestoßen sind, war unsere Chance da, an sie heranzukommen. Dein Persönlichkeitsprofil zeigte uns, dass du nicht zum Fanatismus neigst. So glaubten wir, dich für unsere Sache gewinnen zu können. Wir brachten dich dazu, uns zu helfen. Kurz vor deiner Entlassung aus dem Gefängnis statteten wir dir einen heimlichen Besuch ab, als du geschlafen hast. Wir haben deine Erinnerungen manipuliert. Wir ließen dich glauben, die nächsten Wochen wären schon vorbei, du wärest wieder in der Freiheit und triffst dann irgendwann auf uns. Du kennst die Geschichte ja. Auch wir können die Zeit nicht auf diese Art zurückdrehen, wie wir dich haben glauben lassen. Das geschah alles nur in deinem Kopf. Für den Geist war es Real. Du solltest mitbekommen, wie die Welt untergeht. Wegen der Motivation, damit du auf unserer Seite bist. Du wurdest nur einmal aus dem Gefängnis entlassen, das zweite Mal, das erste Mal war es nicht echt. Alles nichts weiter als von uns erschaffene Illusionen. Sie wurden aus deinen wirklichen Erinnerungen designt und aus den Ergebnissen unserer Recherchen über dich. Das haben wir mit einer Story gemischt, die dafür sorgen sollte, dass du uns hilfst“.

Das ist unglaublich! Ich wurde schamlos manipuliert?“

Ja Andy, eigentlich kann man es so nennen. Wir sehen die moralische Verpflichtung, es dir jetzt zu sagen. Somit weißt du, was du wirklich erlebt hast, und was nicht von dir ist.“

Das bedeutet: Die Welt war gar nicht in Gefahr unterzugehen? Die Flotte der Enceladusaner greift nicht an?“

Die Lage ist durchaus ernst. Niemand weiß genau, wie ernst“, sagte Alice.

Andy schüttelte verständnislos den Kopf. „Und deswegen bin ich gelähmt, wegen einer Lüge, einer Illusion. Vielleicht ist das hier ja auch nicht wahr, ihr, dieses Zimmer. Vielleicht ist das nur eine Erinnerung, jetzt gerade implantiert, später werde ich sie glauben. Es wäre nicht so schlimm, wenn die Enceladusaner den Krieg gewinnen würden, dann müssten wir eure Grausamkeit nicht mehr ertragen.“

Es ist verständlich, du bist verbittert. Es hat dich hart getroffen“, sagte Karen mit sanft.

Du musst Geduld haben“, fügte Alice hinzu. Sie wusste, ihr Volk wurde immer schwächer und es verlor nach und nach seine Fähigkeiten. Das kollektive Bewusstsein geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Wenn ein Schleier vor dem Tunnel hing, der die Bewusstseinsebenen miteinander verband, wurde es schwierig, die Struktur der Materie zu verändern. Momentan konnte man Andy nicht helfen.

Und – Min-Jee, was ist mit ihr?“, wollte er wissen.

Blockierte Gedächtnisstränge. Sie befindet sich in einer Nervenklinik. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist und was sie getan hat“, erklärte Alice betont sachlich. Sie wusste, dass Min-Jee vorerst in der Klinik bleiben würde. Auch ihr konnte nicht geholfen werden. Gedächtnisse zu löschen, war einfach, sie zu reparieren kompliziert.


Üppig wippten goldene Ähren an den Halmen. Der Wind blies Wellen ins Kornfeld. Noch hatte man die Ernte nicht eingebracht. Von Ferne her blökte eine Kuh. Es war eine dieser Herbststunden, die noch einmal zeigen wollten, was die Sonne kann, bevor die Tage grau und kurz den nahenden Winter ankündigten. Und tatsächlich flog das Licht hin und her, einem trunkenen Kranich ähnlich, oder spann gleißende Fäden durch die Luft, ließ die Blätter an den Birken, die am Wegesrand standen, flattern und in sämtlichen Rot-, Gelb- und Brauntönen aufflammen. Aufrecht wie ein Baum stand Philip da. Er bemerkte einen untersetzten Mann auf sich zukommen. Der Fremde machte vor ihm halt, grüßte und musterte ihn neugierig. „Gut sehen Sie aus“; sagte der Mann in einem vertraulichen Ton. „Macht wohl die Landluft. Übrigens, Lehmann ist mein Name. Sie erkennen mich wohl nicht wieder, oder? Ich hörte davon. Sie erinnern sich nicht. Wir hatten einmal miteinander zu tun. Ich arbeitete bei der Polizei. Aber das ist Vergangenheit.“

So, so – Polizist waren Sie. Allerdings müssen sie sich irren, tut mir leid, ich kenne Sie wirklich nicht. Mein Gedächtnis ist übrigens ausgezeichnet“, sagte Philip zu dem alten und leicht verwirrten Mann, dessen Erinnerungen sich offenbar mit seiner Einbildungskraft unheilvoll vermengten.

O ja, ich verstehe. Entschuldigen Sie, es war dumm von mir, Sie zu belästigen, ich bin nur einer Eingebung gefolgt. Es kam mir vor, als wäre es wichtig, dass Sie sich erinnern; besser gesagt, dass derjenige sich erinnert, für den ich Sie hielt. Ich habe mich geirrt. Wenn ich Sie mir genau betrachte, sind Sie es wirklich nicht. Also nicht der, für den ich Sie hielt. Eine dumme Verwechslung meinerseits. Meine Recherchen haben mich in diese Gegend geführt, als ich Sie dann sah … Wissen Sie, Ihre Gesichtszüge, sie sind ähnlich wie ... Na ja, lassen wir das. Sie sind es einfach nicht! Also, Sie können unsere kleine Begegnung ruhig vergessen. – Tja, schön haben Sie es hier. So ruhig, ganz anders als in der Stadt.“

Ja, ich liebe es auch hier. Könnte mir nicht vorstellen, woanders zu leben, als auf dem Land. In den Städten soll es zurzeit ja Unruhe geben.“

Sehr viel Unruhe. Manche Leute müssen sogar untertauchen. Man redet vom Kalten Krieg zwischen Staat und Volk. Es reichen die falschen Kontakte und schon wird man zur unerwünschten Person.“

Es tut mir leid für diese Leute. Ich glaube immer an ein gutes Ende.“

Ich auch, ich auch“, sagte der alte Herr, seine schmalen Lippen lächelten müde, über sein Gesicht huschte ein Ausdruck von Wehmut. „Machen Sie es gut“, stieß er abrupt hervor und ging des Weges.

Sie auch, schönen Tag!“, rief Philip ihm nach.

Bald war der Fremde hinter einem Wäldchen verschwunden. Überall roch es nach sterbender Schönheit, nach einer Reife, die vollendet war. Philips Blicke hefteten sich an Vogelschwärme, die südwärts zogen, einem neuen Horizont entgegen. Er atmete, und das Einatmen der spätsommerlichen Luft brachte Frieden in sein Herz. Bevor es vor Glück zerspringen drohte, fiel er um. Alles schwarz. Nach und nach erkannte er etwas, Lichter, eventuell Sterne. Nein, doch nicht, jetzt sah er, es waren Quallen. Sie schwammen vor ihm, sie leuchteten aus sich selbst heraus. Es wurde heller um ihn. Seine Augen gewöhnten sich an die neue Umgebung. Hinter den Quallen, die wie lebende Lampen wirkten, schwebten skurrile Wesen über den Boden des Gewässers, in dessen Tiefe er sich befand. Ihre großen Flossen, zwei an der Zahl, zitterten bizarr; auch verfügten sie über zwei Arme, die denen der Menschen ähnelten. Mit großen Augen musterten ihn die Gestalten. Sie wirkten nicht bedrohlich, nur sehr fremdartig, obwohl von ihnen auch eine seltsame Vertrautheit ausging. Er konnte sie hören, es war, als sprächen sie in seinem Kopf. Sie redeten alle gleichzeitig und doch mit einer Stimme. „Dir kann nichts geschehen“, sagten sie, „ dein Körper schläft, dein Geist ist wach. Alles das, was du nun hören wirst, wurde einst in dich eingepflanzt. Die Zeit ist reif, der Same kann aufbrechen. Wir sind die Weisen von Europa, die Weltenträumer. Einst hast du uns besucht, als du jung warst. Wir sind die Weisen, wir sprechen mit einer Stimme, mit einem Herzen, einem Geist, höre auf unsere Worte: Wir erblickten die heilige Welt, in deren Räume sich die Fäden des Schicksals verflechten, um jene Zukunft zu erschaffen, die irgendwann zur Gegenwart gerinnt. Niemand blickt so weit durch die Räume der Zeit wie wir; niemand sonst sieht so klar, wie die Fäden sich weben und verknoten, zerreißen und sich wieder bilden. In jener Zeit, in der du uns hören wirst, werden viele Augen getrübt sein und die Geister verwirrt. Man fragt: Liegt es an den Kindern der Erde? An den Geschwistern auf Enceladus? Oder liegt es an uns, die wir von Mutter Europa stammen? Wir prophezeien einen tiefen Schatten, er wird sich über den Geist der Völker legen. Man wird nicht mehr wissen, was man tut und taub sein für die Worte, die das eigene Herz spricht. Die Sehenden taumeln blind, die Liebenden gebären Hass. Und in der finsteren Zeit der Seele werden Waffen gegen Waffen stehen. Die Weisheit wird man einen Dreck schätzen, die Unwissenden aber werden sich erheben und mit lauter Kehle leere Worte vor die Masse spucken, bis man ihnen folgt. Aber bevor die Völker, welche entsprungen sind aus demselben Schoß, sich peinigen bis aufs Blut, soll ein Licht aufflackern und die Finsternis mit den Flammen der Wahrheit erleuchten, auf dass die, welche der Lüge folgten, sich abwenden von ihren Taten und heulen und zetern wegen ihrer zerrütteten Seelen. Dieses Licht, das wir durch die Zeit senden, sollst du sein. Während andere sich besudelten, da blieb dein Geist rein, erfreute sich an der Unwissenheit, er mied das Gift der Gedanken und Meinungen. Denn dort ist die Quelle des lebendigen Wassers nicht zu finden, wer dort sucht, fischt im Trüben. Die Klugen und Rachsüchtigen, auch die, die meinen, sie täten das Beste, schaufeln künftige Gräber. Darum halte dein Herz fern von solchen, die Verwirrung stiften. Sie wollen dich bei der Hand nehmen und führen, kennen aber den Weg nicht. Richte deinen Blick auf den hellsten der Sterne, sein Licht ist sauber und nahrhaft. Dein Auge soll sehen, so wie unsere Augen sehen. Sprich, was ist dort?“

Philip schaute sich um, konnte aber nichts erkennen. Zu trübe war das Wasser. „Ich sehe nichts“, sprach er.

Die Weisen ruderten bedächtig mit ihren Flossen. „Du schaust mit den Augen des Fleisches. Benutze das Auge, das tiefer sieht. Die Augen, die nach außen blicken, erkennen nur den Schein, die Wahrheit sehen sie nicht.“

Nach diesen Worten war ihm, als öffne sich tatsächlich ein Auge inmitten seiner Stirn. Nun sah er kein schmutziges Wasser mehr vor sich. Alles wurde hell, gleißendes Licht umhüllte die Dinge und offenbarte eine beinah schmerzende Klarheit. Er sah alles, nichts blieb ihm verborgen. Er erinnerte sich daran, wer er war. Langsam erhob er sich. Die Erde hatte ihn wieder. Sorgsam betrachtete er seine Hände. Sie waren kräftiger geworden von der Feldarbeit. Er entsann sich seiner Flossen, mit denen er einst das Wasser auf seinem Heimatmond flink durchschnitten hatte, damals, als er ein übermütiger Junge war. Mehrere Körper hatte er gehabt, mehrere Leben gelebt. Selten war ihm klar geworden, wer er wirklich war. Nun wusste er es. Er blickte in sein eigenes Herz und sah dort den hellsten aller Sterne brennen. Es war keine Frage, was er zu tun hatte. Mit großen Schritten lief er heimwärts.

Seine Frau stand in der Küche und schnitt Gemüse zu Würfeln. Unbemerkt ging er auf sie zu, entwand ihr mit einem geschickten Griff das Messer und zog sie fest an sich. Er schaute ihr in die Augen. Es war ihm, als würde er zum ersten Male ihre Seele erblicken, die sich zitternd hinter dem Fleisch ihres Gesichtes verbarg. Er hatte sie gekannt, aber nicht erkannt. Nun wusste er, wer er selbst war, darum konnte er sehen, wer sie war. Ihr Mund öffnete sich zu einer Frage, die er zu ersticken wusste, indem er ihn zart mit Küssen verschloss. Als er von ihr abließ, schwieg sie. Gewiss ahnte sie, dass etwas Bedeutendes geschehen würde.

Ich muss gehen“, sagte er. Eine Welle von Liebe strömte aus seinem Herzen und schwappte in ihre Seele hinein. Er drehte sich einmal noch um, als er die Tür erreicht hatte. Schweigend verließ er das Haus.

Freitag, 11. März 2022


                                          20



Andy schlief kaum noch. Seine Nervosität nahm zu. Der Tag des Schicksals dreier Welten kam unaufhaltsam näher, drohend wie ein Ungeheuer. Er hatte Angst, Angst vor seinem Versagen, das gleichbedeutend mit dem Ende der Welt sein würde.

„Du bist in letzter Zeit recht abwesend“, sagte Beate. Er sah sie an, sie schien ihm fremd. Ihre Züge vereisten, ihre Bewegungen erstarrten. Der Mund allein lebte träge und brachte Worte hervor, die er nicht fassen konnte. „Irgendwann musst du es erfahren Andy. Jetzt musst du es erfahren. Es fällt mir schwer, aber es muss heraus. Also die Sache ist die: Ich bin schwanger.“

Es durchfuhr ihn ein Schock. Nicht das, was sie ihm mitgeteilt hatte, verstörte ihn, sondern, dass sie es ihm mitgeteilt hatte. Das war in der anderen Zeitlinie nicht vorgekommen. Auch dort musste sie schwanger gewesen sein. Er konnte ja erst alles verändern, seitdem er zum zweiten Male aus dem Gefängnis gekommen war. Er musste das Kind vor seiner Haft gezeugt haben. Sie hatte es ihm, das war die einzige Erklärung, in der anderen Zeitlinie verschwiegen. Aber warum? Es kam vor, dass Leute Eltern wurden. Er musste sich der Situation fügen. Er hoffte, dass nicht irgendetwas wegen seiner Zeitreise durcheinandergekommen war. „Ein Kind. Gut, warum sagst du es erst jetzt? Du hättest es früher sagen müssen. Du bist doch schon länger schwanger, oder nicht? Ich dachte erst, du hast vom Essen zugenommen. Ja, gut, es ist, wenn ich es recht überlege, toll. Ich muss mich nur noch einen Augenblick daran gewöhnen, dass ich Vater werde.“

„Du wirst nicht Vater. Ich werde Mutter!“

„Ich verstehe nicht, ich meine, wenn du Mutter wirst, dann müsste ich doch Vater ...“

„Das wirst du nicht“, sagte sie und senkte ihren Blick.

„Soll das heißen …“

Beate nickte wie in Zeitlupe. „Ja, das Kind, mein Kind, es ist nicht von dir. Es hat sich vieles geändert, während der Zeit, als du im Gefängnis warst.“

Andy fühlte einen imaginären Schlag in der Magengrube. War das alles noch real? „Moment mal, ich war keine Jahre fort, wenige Monate nur. Wer ist der Vater? Mit wem … Ich meine, du hast, du hast einfach ...“

„Ja, ich habe. Es ist unwesentlich, wer es ist. Ein Name für dich, ohne Bedeutung. Es war nicht das Ergebnis eines Ausrutschers. Ich liebe dich nicht mehr. Vielleicht habe ich das nie getan. Du weißt, wie das ist: Erst ist man einsam, dann trifft man jemanden, man ist froh, bald wird es zur Gewohnheit, dann kommt die Gleichgültigkeit. Ich hatte Mitleid mit dir. Du hast immerhin im Knast gesessen. So konnte ich es dir nicht gleich sagen. Du warst in einer Scheißsituation. Nun ists raus.“

Er schwieg. Es war nicht allein das Kind. Auch liebte sie ihn nicht mehr. Er fühlte sich winzig, ein Wurm, gerade noch etwas mehr als ein Nichts, ein sinnlos zappelndes Etwas. Diese Zeit, in der jetzt festsaß, gefiel im absolut nicht. Wahrscheinlich wäre die alte Zeit besser gewesen, obwohl am Ende alle hätten sterben müssen. Am besten wäre eine dritte Zeit, eine ohne schlechte Nachrichten und bitterem Ende. Aber er befand sich nun mal hier, gefangen in dieser schrecklichen Realität. Es hing alles von ihm ab. Er war die letzte Chance. Offenbar konnte man die Zeitlinie nicht endlos überschreiben. Er musste sich zusammenreißen. Es ging ja nicht um ihn und sein beschissenes Leben, sondern an erste Stelle stand, dass der Krieg verhindert werden musste. Er konnte nichts mehr zu Beate sagen. Er ging fort, blickte sich nicht um. Er hatte nicht den Wunsch, sie jemals wiederzusehen. Leider würde das nicht funktionieren, denn er musste zu den Treffen mit Min-Jee gehen, dort könnte immer wieder Beate auftauchen. Egal, Privates durfte keine Rolle spielen. So viele Leben hingen von seinen Entscheidungen ab. Diese Leben zu retten, das war der einzige Grund seiner Existenz. Min-Jee musste ausgeschaltet werden. Nur so würde der Krieg nicht so weit gehen, dass die Ozeane der Erde kochten und verdampften. Er hatte zu funktionieren, er würde alle seine Gefühle unterdrücken und zu einer Maschine werden. Das Schicksal war herzlos.


„Anschließend, wenn alles erledigt ist, wenn Min-Jee ihre Fähigkeiten eingebüßt hat, werden wir es ihm sagen müssen. Er hat ein Recht darauf“, meinte Alice.

„Gewiss“, stimmte Karen zu, „ dann wird ihm klar werden, wie er von uns manipuliert wurde.“

Christian mischte sich in das Gespräch ein. „Mehr oder weniger ist alles eine Form der Manipulation, egal was man sagt oder tut. Leben heißt: Manipulieren.“

„Du weißt, was ich meine Christian. Das, was wir getan haben, ging über das normale Maß hinaus.“

„Wir mussten uns über die Loyalität dieses Andys sicher sein. Ihr wisst ja, was davon abhängt.“

„Diesmal war ich es, die in die Erinnerung von jemandem eingegriffen hat, ungebeten. Und er wird es irgendwann wissen und mich dafür verachten.“

Christian sah Alice fest an. „Du machst dir zu viele Gedanken über das, was jemand irgendwann denken könnte. Ein menschlicher Fehler. Du bist keiner von ihnen. Du solltest die Dinge in größeren Zusammenhängen sehen. Es scheint, as ob es eine Gegeninfektion gibt. Wahrscheinlich wurden einige von uns von dem Zeug infiziert, das sie hier seit Urzeiten in sich tragen.“

„Soll ich wirklich nicht mitkommen?“, fragte Karen.

Christian winkte ab. Er und Alice seien vollkommen ausreichend. „Wir wollen doch keinen Aufmarsch im Büro von Doktor Alchinger veranstalten, oder? Es soll ja nur ein kleiner vertraulicher Plausch werden.“


Als sie den Tunnel verließen, saß Doktor Alchinger an seinem Schreibtisch und blätterte einige Papiere durch. Er schreckte auf.

„Keine Panik“, beruhigte Alice ihn.

„Ich bin bereits in Panik“, antwortete er.

Christian sagte: „Verzeihen Sie unseren ungewöhnlichen Auftritt, aber das schien uns der sicherste Weg, um mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Sie werden gewiss beobachtet. Immerhin sind sie einer der führenden Köpfe der Opposition.“

„Mann hat sich schon daran gewöhnt, dass sie einen bespitzeln. Und Sie, wer sind Sie? Gehören Sie zu den Infizierten oder zum Diplomatischen Korps der Außerirdischen?“

„Wir kommen von da oben, Europa“ sagte Alice den Zeigefinger hebend, „Wir zeigen Interesse daran, dass sobald wie möglich ein Regierungswechsel stattfindet.“

Christian setzte sich auf einen freien Sessel und schlug die Beine übereinander. „Unsere Regierung sieht es mit Besorgnis, dass die Opposition in Deutschland so zögerlich agiert.“

Doktor Alchinger setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Man könnte ihre Worte so interpretieren, als wollten sich die Bewohner des Mondes Europa in die Politik der Erde einmischen.“

„Aber Doktor Alchinger, höre ich da ein gewisses Misstrauen aus ihren Worten heraus? Wahrscheinlich habe ich mich in dieser mir fremden Sprache ein wenig unglücklich ausgedrückt.“ Christian wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Das sollte nicht der Versuch einer Beeinflussung sein, sondern ein kleines informelles Gespräch. In der Zukunft werden Botschafter ausgetauscht und es wird zwischen den Menschen und uns interplanetare Verträge geben. Aber ihre Bedenken sind nicht gänzlich unbegründet, leider. In der Vergangenheit, so muss ich zugeben, hat eine gewisse Einmischung unsererseits stattgefunden, besonders vonseiten der hier stationierten Kolonie. Das war sicherlich – nein, nicht nur sicherlich – ganz zweifelsfrei war es ein Fehler. Ich gehöre zu denen, die sich von vornherein dagegen ausgesprochen haben. Wir sind nicht hier, um uns bevormundend einzumischen, vielmehr wollen wir den Menschen helfen.“

Alice übernahm das Wort. „Wie Sie wissen, werden staatliche Organe seit einiger Zeit von Leuten mit gewissen Fähigkeiten unterstützt. Sie machen auf Infizierte Jagd. Das Geheimnis dieser Subjekte ist, dass sie ihre Kräfte von bösartigen Außerirdischen beziehen, den Enceladusanern.“

„Enceladusaner?“, fragte Doktor Alchinger erstaunt.

„Eine interessante Spezies, sie hat sich bis dato aus allen politischen Geschehnissen auf der Erde herausgehalten“, erläuterte Christian. „Die Art des Infizierens, die unsere Leute angewendet haben, sollte die Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen. Die Infizierung, die die Enceladusaner bevorzugen, weckt zerstörerische Fähigkeiten. Scheinbar wollen sie unsere künftige Kooperation boykottieren. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem alles eskalieren kann. Darum lautet unser Ratschlag: Übernehmen Sie die Regierungsgewalt möglichst schnell und mit allen Mitteln. Deutschland ist neben China das mächtigste Land der Welt, seit sich die USA nicht mehr von der letzten Krise erholen konnten. Ihr Handeln Doktor Alchinger wäre ein Signal für den ganzen Erdball. Die Regierung agiert aus dem Exil heraus und hält sich mehr schlecht als recht an der Macht, mithilfe erweiterter Notstandsgesetze, womit die Demokratie faktisch abgeschafft wurde. Warten Sie nicht bis zu den nächsten Wahlen, vielleicht gibt es die nicht mehr.“

Doktor Alchinger wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. „Sie reden also von einem Putsch?“

Christian beugte sich vor. „Das Recht muss wiederhergestellt werden. Niemand sollte eine Exilregierung anerkennen, die sich nicht an die Spielregeln hält. Erheben Sie sich endlich! Die Mehrheit des Volkes wird auf ihrer Seite stehen.“

„Nun, die Polizei und die Geheimdienste sind gegen mich“, gab Doktor Alchinger zu bedenken.

„Doktor, ein Teil des Militärs ist nicht mehr regierungstreu. Viele Offiziere verweigern die Befehle. Die Masse hat keine Meinung, wartet aber auf eine neue Führung. Sie müssen auf das Militär setzen. Sobald Sie die Regierungsgewalt haben, werden wir Ihnen einen Vertrag anbieten. Dort wird die friedliche Koexistenz unserer beider Welten geregelt. Sie können den ganzen absurden Überwachungswahnsinn beenden, die korrupten Geheimdienste auflösen und die Polizei von undemokratischen Kräften reinigen. Auf unsere Unterstützung werden Sie rechnen können.“

„Sie haben recht. Der Wahnsinn muss enden. Ich werde sofort Kontakt zum Militär aufnehmen.“

„Wir wünschen Ihnen viel Erfolg“, sagte Alice. Schon öffnete sich ein Tunnel, der sie einsog. Sekunden später erschien sie neben Karen.

„Wo ist Christian?“

„Weiß nicht, er müsste bald kommen“, sagte Alice.


Christian erschien einige Minuten später.

„Wo warst du denn so lange?“, wollte Alice wissen.

„Ich habe ihm noch einmal erklärt, wie gefährlich die Enceladusaner sind.“


Lichtpunkte wandelten sich zu Linien, so schnell flogen sie dahin. Rote, grüne und gelbe Nebel leuchteten von fernher, verbargen kristallene Welten in ihrem Inneren. War man ganz leise und spitzte die Ohren, so erklang in einem die Musik der großen Kristalle, welche Sonnen waren, die in den Nebeln glühten. Überallhin konnte der gedankenschnelle Flug führen. Sie badeten in Meeren aus Licht, schwebten als silberne Insekten über die Blumensteppen eines Honigplaneten. Über reichgemusterte Landschaften, in denen süße Flüsse plätscherten, zogen sie ihre Bahn. Mit ihren silbernen Insektenleibern tauchten sie pfeilschnell in bis auf den Grund des lieblichen Wassers hinab. Sie schwammen vorbei an flimmernden Fischen, deren Schwärme sich kreisförmig durch die Tiefsee schraubten. Betäubende Süße drang ihnen durch die Poren, bis sie vom Nektar des Alls durchdrungen waren. So schwebten sie durch eine Welt, die keine Minuten kannte und keine Stunden. Sie wurden ergriffen von einem beständigen Glück, ein Glück, das nichts mehr wollte. Es war sich selbst genug.

„Kommen Sie, kommen Sie!“, rief eine Stimme ihm zu.

Kwang öffnete die Augen und wusste wieder, wer er war. Neben sich erblickte er Xellox, oder besser die metallische Libelle, deren Form Xellox angenommen hatte. Die Regenbogenflügel des Tieres leuchteten wie verrückt.

„Wir sollten los!“, rief Xellox und schoss nach oben. Kwang folgte ihm bis zur Oberfläche des Wassers und weiter, bis hinein in den Himmel, wo rote und türkisfarbene Wolken flatterten. Er sah gewaltige Vögel, sie bestanden aus unzähligen winzigen Wesen, die sich zu einem Körper vereint hatten, der erhaben durch die Stille segelte.

Xellox erklärte: „Diese Welten, durch die wir uns bewegen, bilden die Samen für alles, was im Universum der festen Materie entstehen wird. Hier werden Informationen ausgesendet und eingesammelt.“

Sie flogen weiter, vorbei an denkenden Sternen und traumverlorenen Planeten. Wurden Strukturen immer komplexer, so entwickelten sie ein Bewusstsein. Ja, auch Sonnen waren Wesen mit einer Seele. Im Raum zwischen zwei Sternensystemen zog strahlend ein Komet seine Bahn.

Xellox zeigte auf den Kometen und sagte: „Du solltest hindurchfliegen. Es ist gut, zu lernen, dass dich Körper wie dieser nicht aufhalten können. Noch existiert die Idee in dir, ein Komet oder etwas anderes, könnte dich taktieren. Sobald du nicht mehr daran glaubst, dass Erscheinungen eine Substanz besitzen, bist du frei. Alle Erscheinungen sind formlos, leer.“

Dieses nahm Kwang sich zu Herzen, er sauste auf den Kometen zu. Dabei sprang ihn die Angst wie ein Raubtier an. Möglicherweise könnte er ja wirklich mit dem Ding zusammenstoßen. Andererseits fühlte er sich seltsam weit, so erlaubte er der Angst, in ihm zu sein, worauf diese, da sie auf keinen Widerstand traf, einfach verschwand. Freudig durchflog Kwang den Kometen.

„Schön, dass du Vertrauen hattest“, lobte Xellox und lächelte dabei.

„Und was wäre passiert, wenn ich nicht so viel Vertrauen gehabt hätte?“, fragte Kwang.

„Dann wäre es wohl eine weniger angenehme Erfahrung geworden“, meinte Xellox, „denn unsere Befürchtungen haben die Eigenschaft, wahr zu werden.“

„Na ja, manche Sachen fühlen sich sehr präsent an und man wird leicht von ihnen gefangen.“

Xellox nickte. „Ja, manche Dinge wirken erschreckend. Bevor wir uns aber gänzlich ins Philosophieren verwickeln, solltest du zu Min-Jee gehen. Sie braucht gewiss neue Energie.“

Kwang verstand und beschleunigte seinen Flug. Er raste auf die Erde zu.


Xellox trennte sich von kwang und besuchte einen rötlichen Mond, der seine Bahn um einen smaragdfarbenen Planeten zog. Hier sollte das geheime Treffen stattfinden.

Xellox blickte sich um. Noch war niemand zu sehen. Felsen warfen lange Schatten über den bemoosten Boden. Gelbliche Staubschwaden stiegen am nahen Horizont auf. Bald trat eine Gestalt hinter einem Hügel hervor. Er war es! Xellox gab einige Höflichkeitsfloskeln von sich und sah sein Gegenüber erwartungsvoll an.

„Seien Sie gegrüßt Xellox. Vor Kurzem noch hätte ich nicht gedacht, dass wir uns je treffen würden, aber die Situation ist kritisch, wie Sie ja wissen“, sagte Chrochro.

Xellox sprach: „Gewiss, die Situation ist bedenklich, sie könnte durchaus eskalieren. Momentan würde unser Treffen von unseren Regierungen als Verrat bezeichnet werden.“

„Der Verrat ist schon längst passiert. Wir haben unsere Ideale verkauft. Beide Seiten. Eine Katastrophe steht uns bevor, wenn nicht gehandelt wird. Wir sehen nicht klar genug, was kommt. Unser Blick ins Gewebe der Schicksalsfäden ist trübe geworden. Langsam legt sich ein Schleier über unser gemeinsames Bewusstsein. Vielleicht eine Nebenwirkung des Kontaktes mit der Erde. Mag auch sein, es liegt an unserer Arroganz, in das Schicksal der Menschen einzugreifen zu wollen. Ich war immer dagegen. Nun ist es zu spät.“

„Ich verstehe“, sagte Xellox, „und jetzt tastet ihr wie Blinde unsicher nach dem Weg. Aber auch unser Geist ist getrübt. Wir haben uns in einen Widerspruch verwickelt. Wir greifen in die Angelegenheiten der Erde ein, damit wir euer Eingreifen unterbinden können und die alten Verträge wieder erfüllt werden. Diese besagen, wie Sie ja wissen, dass niemand von außen in das Schicksal der Erde eingreifen darf.“

„Ich habe etwas getan verehrter Xellox. Was es war, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin mit jemand anderen irgendwo gewesen. Dann war ich allein. Nein, nicht ganz. Ich legte jemanden die Hände auf dem Kopf und löschte seine Erinnerungen. Ich entsinne mich schwach daran, warum ich es tat. Es sollte wohl unseren eigenen Einfluss abschwächen, damit Enceladus nicht zu radikalen Mitteln greift und die Situation sich entspannen kann. Soweit ich mich entsinne. Etwas scheint uns zu verwirren. Wir werden langsam allesamt wahnsinnig.“

„Vielleicht haben ja einige von euch in letzter Zeit zu sehr mit Erinnerungsmanipulation herumgespielt, sodass sich Störungen im kollektiven Bewusstsein ausbreiten konnten. Aber sei es drum. Die wesentliche Frage ist: Was können wir tun, um Schlimmeres zu verhindern?“, sagte Xellox und musterte Chrochro erwartungsvoll.

„Wir wollen eure Energiequelle auf der Erde entleeren – Min-Jee.“

Xellox verstand. „Min-Jee ist unser energetischer Kontakt. Es ist taktisch das Beste, was ihr tun könntet. Allerdings wäre da die Frage, wie wir darauf reagieren würden. Unsere subatomaren Raketen stehen bereit.“

„Unsere Flotte befindet sich seit ewigen Zeiten in Stellung, ursprünglich der Abschreckung wegen“, ergänzte Chrochro.

„Eure Flotte ist größer als die unsrige“, gab Xellox zu. „Wenn aber unsere Raketen erst einmal gestartet sind, bringen sie die gesamte Schleifenquantengravitation durcheinander. Alles wird zerfallen, von innen heraus. Die Zukunft wird ein einziges Chaos. Dazu braucht es nicht einmal die Fähigkeit, die Fäden des Schicksals zu deuten. Um Min-Jee auszuschalten, müsstet ihr sie töten oder auf ewig ins Koma versetzen. Min-Jee würde auch vorübergehendd ihre Fähigkeiten verlieren, wenn sie von uns keine Unterstützung mehr bekäme. Es ist ihr eigener Mann, der als Verbindungsglied zwischen unserer Energie und ihrem Körper dient. Er lädt Min-Jee in diesem Moment auf. Ich bin sein Mentor, sozusagen. Man übertrug mir diese Aufgabe. Ich befinde mich somit am Hebel, mit dem man die Energie abstellen könnte. Damit wäre Zeit zu gewinnen. Das Problem ist: Man nennt so etwas Sabotage. Es hätte recht unerfreuliche Konsequenzen für mich.“ Xellox hielt inne. Ihm wurde klar, dass er alles alleine entscheiden musste. Chrochro zeigte Schwierigkeiten, sich an wesentliche Dinge zu erinnern. Mit anderen Worten: Sein Gesprächspartner war unzurechnungsfähig.

Chrochro unterbrach Xellox´ Gedanken. „Das Schlimme ist, dass sich der Schleier über uns legt. Verstehen Sie? Man fühlt sich einsam, obwohl man weiß, dass man es nicht ist. Niemand kann der Illusion entkommen, letztlich, selbst wenn man es glaubt. Sie liegt auf der Lauer. Man durchschaut sie, dennoch bleibt sie real. Es ist wirr, real und nicht real. Das ist doch kein Leben, das ist eine Lüge. Vielleicht erlöst uns ja der Krieg und er wäscht alles rein, quält uns so sehr, dass wir Erlösung finden und der Schleier der Illusion von uns abfällt.“

Xellox fühlte sich in seiner Meinung bestätigt: Chrochro war verrückt geworden! Wahrscheinlich ging es den anderen Europabewohnern ebenso. Der Wahnsinn hatte Wellen geschlagen, Wellen, die sich bis nach Enceladus ausbreiteten, wo die Verblendung ebenfalls die Geister umklammert hielt. Er verspürte den unbändigen Impuls, loszulachen. Alle waren durchgedreht. Er bemerkte, wie seine Gedanken zitterten ­­– in Schwingung versetzte Stahlstangen. Auch in ihm tanzte der Irrsinn, der wie eine Fratze vor ihm auftauchte, ihm die Zunge höhnisch entgegenstreckte und dabei kicherte. Trotz des inneren Aufruhrs, sprach er so ruhig, wie er nur konnte weiter. „Hören sie, er ist jetzt dort, Kwang, ihr Mann, er gibt ihr Energie.“

Chrochro nickte. „Gewiss, er ist die Quelle für sie. Es ist zu spät. Unsere Regierungen werden endgültig durchdrehen. Wobei das Schlimme nicht einmal die Vernichtung ist. Es ist die Tatsache, dass der Krieg gedacht werden kann und befohlen wird. Das Räderwerk ist in Gang gesetzt. Schon vor langer Zeit hat man unser Todesurteil gesprochen. Das macht mir Angst, das Urteil – nicht die Vollstreckung.“


 

Sonntag, 27. Februar 2022

                                             19

Rat Zarzar schaute Alice an, blickte zu Christian hinüber, dann nickte er. „Ich denke, sie sollte es erfahren.“

Alice atmete tief durch und begann: „Wir sind keine Aliens, die sich in die Angelegenheit einer anderen Spezies einmischen. Es ist vielmehr so: Wir regeln Familienangelegenheiten.“

Karen verstand nicht: „Was bedeutet das – Familienangelegenheiten?“

Alice erklärte: „Wir kümmern uns um euch, weil – also: Ihr seid wir und wir sind ihr. Man hilft sich eben untereinander. Kurz: Wir gehören zu ein und derselben Gattung.“

Karen glotzte verständnislos. „Wie jetzt? Ihr habt euch doch auf Europa entwickelt und lebt normalerweise unter Wasser, wir dagegen stammen von primitiven Primaten ab.“

„Das stimmt nicht“, behauptete Alice, „und die von Enceladus gehören auch dazu. Es gibt nur eine Spezies. Wir kamen von Spirichotos, einem Sonnensystem mit achtzehn Planeten und neun Eismonden. Wir bewohnten alle Eismonde unseres Systems. Im Laufe der Jahrmillionen zeigte unsere Sonne deutliche Spuren ihres Alterungsprozesses. Sie starb. So traten wir eine weite Reise an. Die Raumschiffe teilten sich auf, jede Flotte nahm eine andere Richtung. Unsere Vorfahren gehörten zu denen, die auf dieses Sonnensystem stießen. Europa, Enceladus und die Erde sahen vielversprechend aus. Die Erde zeigte sich bereits bewohnt. Eine biologische Evolution fand auf ihr statt. Man stieß dort auf Pflanzen und allerlei Getier. Ein Teil von uns scherte sich nicht darum und fand es spannend, sich in ein bestehendes ökologisches System einzubinden. Jene, die auf Europa siedelten, erschufen etliche Lebewesen, die das Meer unter der Eisschicht besiedelten, somit konnten optimale Voraussetzungen für eine Zivilisation entstehen. Der Teil von uns, der nach Enceladus zog, bevorzugte die Askese und wurde in Höhlen unterhalb des Eismeeres glücklich. Diejenigen nun, welche auf der Erde eine neue Heimat finden wollten, benötigten besondere Körper. Sie konnten sich ihre Umwelt nur bedingt gestalten, ihr Ziel war es ja, sich in diese neue Welt so einzubringen, als wären sie deren Kinder, wie all die Tiere der Luft, des Wassers und der Erde. Sie setzen auf das Bestehende und veränderten es geringfügig. So orientierten sie sich an den Genen der Vorfahren jener Affen, die man heute Schimpansen nennt. Damit stellten sie die Matrix für ihre neuen Körper her“.

„Deshalb sind die Schimpansen uns genetisch so ähnlich“, bemerkte Karen.

Alice nickte. „Aber sie brauchten mehr als nur einen vielversprechenden Körper, um in der neuen Umwelt zu überleben: nämlich Instinkte. Auch diese übernahmen sie von den Halbaffen. Die Primatengene sind und waren ihr Problem. Sie konnten sich mit ihnen gut anpassen und durchsetzen, aber die tierischen Instinkte führten zur Verwilderung. Wir, die wir auf Europa und Enceladus lebten, beschworen sie, dem entgegenzuwirken. Das aber lehnten sie ab. Sie wollten etwas Neues aus sich machen, es sollte unvorhersehbar sein, indem sie der Evolution auf diesem Planeten Macht über sich gaben. Diesen Weg schlugen sie ein, bereit, ihn bis zum Ende gehen, koste es, was es wolle. Sie setzten einen Nichteinmischungsvertrag auf, den Europa und Enceladus unterschrieben. Sie wollten in Ruhe gelassen werden. Wir anderen kamen ihrem Wunsch nach.

In der Zeit, die folgte, gaben sich die Erdbewohner immer mehr ihren tierischen Trieben hin, bis jede Spur von Zivilisation abhandenkam, ja – bis sie vergessen hatten, wer sie waren und woher sie gekommen sind. Nach einer langen Zeit besuchten wir sie wieder, um nachzusehen, wie es ihnen geht. Sie hatten unterdessen primitive Kulturen geschaffen, waren aber auch in etlichen Streitereien und Kriegen verzettelt. Das Gift der Dummheit und Kleinlichkeit floss in ihrem Blut, ihr Leben war mühselig, ein feierliches Strahlen über ihnen lauerte ständig der Schatten der Angst. Sie entsannen sich weder an ihre Geschwister auf Europa, noch an jene, die auf Enceladus lebten. Ja selbst den Vertrag, in dem festgelegt wurde, dass wir sie in Ruhe lassen sollten, hatten sie vergessen. Also fragen wir uns, ob der Vertrag unter diesen Umständen noch gültig war. Wir kamen zum Schluss, dass er seine Gültigkeit verloren hatte. Somit nahmen wir uns das Recht, uns wieder einzumischen. Wir wollten ihnen das Elend ersparen, in das sie, angefüllt mit unberechenbaren Trieben, hineingeraten waren, wollten ihr Bewusstsein anheben, ihnen helfen, eine höhere Stufe kultureller Entwicklung zu erreichen. Wir unterstützten sie beispielsweise bei technischen Neuerungen.“

Hier unterbrach Christian: „Und es ging schief.“

Alice presste die Lippen zusammen, sie nickte zögerlich. Manches Mal habe man auf der Erde falsche Schlüsse aus gut gemeinten Eingriffen gezogen. Auch seien große Religionen entstanden, Geschichten von Göttern, Zauberern und Engeln machten die Runde und bildeten das kulturelle Erbe künftiger Epochen.

„Verdammt, ihr seid Engel!“, rief Karen aus.

„Nun, in den Augen einiger Menschen waren wir das. Auch nannte man uns Propheten, Wundertäter, sogar als Hexen mussten wir uns beschimpfen lassen. Man dichtete Legenden, Priester sahen in uns etwas, was wir nicht sein wollten. Du kennst die Geschichte ja. Und ...“

„Ideologien machte man aus allem, Dogmen“, ergänzte Christian Alice´ Ausführungen.

„Und dann?“, fragte Karen.

Alice vollzog eine Bewegung, als wolle sie etwas aus der Luft pflücken. „Die Enceladusaner haben sich gemeldet. Sie meinten, man müsse die alten Verträge weiterhin anerkennen, und dass es ein Fehler gewesen sei, in das Geschick der Erde einzugreifen. So ganz unrecht hatten sie ja nicht damit. Erst kamen die Religionen, dann die Intoleranz, der folgten die Kriege auf wie Schmeißfliegen dem Gestank. Und vieles, was wir gelehrt hatten, wurde verdreht. Es gibt nur eine Wahrheit, wurde zu: Es gibt allein unsere Wahrheit. Aus der Maxime: Euer Herz wird umso froher sein, je mehr ihr mit dem Strom des Lebens fließt, machte man: Wenn ihr sündigt, sollt ihr in der Hölle schmoren, oder auch: Im nächsten Leben wird es euch übel ergehen, wenn ihr nicht dreimal täglich den Kopf in die heilige Jauche des Ganges steckt.“

Christian erzählte weiter: „Wir haben nicht aufgegeben, obwohl wenig Gutes aus der besten Absicht kam. Die Bewohner von Enceladus, die sich vor Eingriffe, wie wir sie ausübten, scheuten, sahen unser Treiben mit Unmut. Ihrer Meinung nach sollten wir die alten Verträge wieder anerkennen. Immerhin wollten die Menschen ihren Weg ohne Hilfe gehen. Man fand auf Enceladus keinen Grund dafür, es ihnen zu verweigern. Wir haben das natürlich anders gesehen. Unser Mitleid trieb uns weiter an. Wir wollten diese Wesen, stammten sie doch aus der gleichen Quelle wie wir, immer wieder neu erwecken, sie aus dem Schlaf reißen, in den sie gefallen waren. Wodurch die Konflikte zwischen uns und Enceladus allerdings weiter anwuchsen. Dort kapselte man sich mehr und mehr von uns ab. Immerhin waren wir die bösen Vertragsbrecher. Selbstverständlich wollten wir auch künftig die Situation auf der Erde verbessern. Wer schaut schon zu, wenn ein Kranker um sich schlägt und sich dabei selbst verletzt? Es war wie verhext, die ganze Erde schien immun gegen die Vernunft zu sein. Weisheiten verwandelten sich zu Dogmen, technische Errungenschaften nutzte man als Waffen. Fast hätten wir unser Unterfangen aufgegeben, aber einen Versuch wollte man noch wagen. Vielleicht, so sagte man sich, sei die Menschheit endlich reif für die Segnungen, die wir ihnen offerieren könnten. Diesmal wollten wir ein großes Geschenk überreichen. Leider sind dabei, wie man auf Europa bemerkte, einige Kolonisten zu weit gegangen. So geschah es: das innere Sehen und das Rippen wurden zur Erde gebracht. Ich hielt das von vornherein für eine gefährliche Angelegenheit, wenn man eine derartige Macht unreifen Wesen überlässt..“

„Ob du mit dieser Macht immer in einer reifen Art und Weise umgegangen bist, möchte ich anzweifeln, ohne dich dafür verurteilen zu wollen“, zischte Alice und bohrte ihren Blick in Christian hinein, als wolle sie ihn damit aufspießen.

Rat Zarzar nahm das Wort an sich. „Als die Leute, die Min-Jee rekrutiert hat, immer dreister agierten und immer brutaler gegen die Infizierten und gegen uns vorgingen, ist die Sache eskaliert. Und das, ich möchte das ausdrücklich betonen, aufgrund jener indirekten Einmischung der Enceladusaner, die ihre eigenen Taten nicht als Einmischung wahrnehmen wollen oder können. Der Rat auf Europa sah sich gezwungen, eine Nachricht an die Regierung von Enceladus zu senden. Ein Versuch, die diplomatischen Beziehungen aufleben zu lassen.“

„Es war weniger eine Nachricht, mehr eine Drohung“, korrigierte Christian.

Rat Zarzar nickte. „Es war ein Hinweis darauf, dass wir es nicht akzeptieren würden, wenn sie gewisse Grenzen übersähen. Ein kleines Manöver unserer Raumflotte sollte der Botschaft Nachdruck verleihen. Natürlich sahen sie sich dadurch behindert, ihre Absichten zu verwirklichen. Wir vermuten, sie schmieden einen finsteren Plan. Sie halten sich gerne an einem Ort auf, den man sich als eine energetische Vorstufe der materiellen Welt vorstellen kann. Von dort aus können sie allerhand gegen uns unternehmen. Die Situation zwischen uns und Enceladus ist verwickelt und wir müssen sehen, dass wir da heil herauskommen. Zumal Europas Bewohner in letzter Zeit von einer gewissen Schwächung heimgesucht werden, die ihre seherischen Fähigkeiten beeinträchtigt.“

„Also, ich fasse zusammen, nicht, dass ich was versäumt habe“, sagte Karen. „Es gibt keine Außerirdischen im eigentlichen Sinne, weil wir Menschen selbst die Außerirdischen sind. Die anderen sind auch wir, nur sie haben sich woanders weiterentwickelt. Um den Erdenbewohnern zu helfen, haben die Bewohner Europas in unser Schicksal eingegriffen. Das gefiel den Schwestern und Brüdern auf Enceladus nicht, weil sie die Verträge über die Nichteinmischung in die Angelegenheiten der Erde, die man einst abgeschlossen hatte, immer noch für gültig hielten. Außerdem ging einiges schief. Aus dem, was als Hilfe gedacht war, ist oft nichts Gutes entstanden. Und aus dem allen entwickelten sich die Spannungen, die in einer Katastrophe enden könnten. Ist das so?“

„Genauso ist es“, bestätigte der Rat unterstrichen von einem unbeholfenen Nicken seines Kopfes. „Wir können die Katastrophe abwenden. Wir kennen die Quelle der enceladusischen Energie auf der Erde. Wir werden und müssen mit allen Mitteln …“

„Wir wissen, was Sie meinen Rat Zarzar. Wir werden der Herausforderung begegnen, mit allen Mitteln, wie Sie es sagten“, versprach Alice und bemühte sich dabei, mehr Zuversicht auszustrahlen, als sie hatte.


Das Tor schloss sich hinter ihm. Die Sonne durchwärmte die Luft. Vogelgesänge gaben dem Augenblick, der Freiheit hieß, ein feierliches Strahlen. Er blickte sich nicht um. Die Gefangenschaft lag blass wie eine öde Landschaft in seiner Erinnerung. Er hatte die Strafe dafür, dass er seine Meinung gesagt hatte, redlich abgesessen. Leo kam auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Andy hatte das schon einmal erlebt. Die Zeit begann, eine neue Schleife zu ziehen. Aber die Geschehnisse mussten diesmal anders ablaufen, oder die Erde wäre demnächst nicht einmal mehr eine Erinnerung.

„Beate muss wohl noch arbeiten“, sagte Andy.

„Ja, du weißt ja, sie hat diesen Job. Sie ist immer bis zum Abend beschäftigt.“

„Gewiss, ich weiß. Zur Feier des Tages sollten wir erst mal was kiffen.“

Leo nickte. „Mann, da hast du direkt meine Gedanken gelesen. Habe astreinen Stoff. Am besten, wir gehen gleich zu mir. Beate wird später nachkommen.“


Der Stoff war wirklich astrein. Leo kaufte immer das beste Dope. Nach der Legalisierung war die Qualität nicht schlechter geworden, man zahlte nur mehr dafür. Zweifellos, das gleiche starke Cannabis, sativalastig, genau wie schon einmal, wie in der ersten Realität, als das alles so ähnlich passiert war. Jetzt lief die zweite Realität ab, dank der Macht der Aliens. Er konnte es nicht recht fassen, er war wirklich mittendrin, lebte sein zweites Leben, hatte eine Möglichkeit, von der viele träumten: Er könnte alles anders machen, besser machen als beim ersten Durchlauf. Aber er war nicht froh darüber. Ein immenses Gewicht lastete ihm auf den Schultern: die Verantwortung für die Zukunft des Planeten. Er hatte nicht um diese Verantwortung gebettelt. Was sollte er machen? Nun war die Situation, wie sie war. Er hatte seine Rolle zu spielen, so gut, wir er konnte, oder bumm! Erde Ade. Er blickte nach innen. Musik wogte durch den Raum. Er spürte Vertrauen in sich. Vielleicht hatten die Außerirdischen diese Empfindung in seinen Geist eingepflanzt, oder es war der Stoff, der eine Tür in ihm geöffnet hatte, hinter der dieses Vertrauen wohnte, oder beides war nicht voneinander zu trennen, oder nichts war voneinander zu trennen und eines floss ins andere – wie zwei Tropfen, die sich treffen und – Blub – ein Tropfen bleibt übrig, ein verdammter Tropfen, der alles und nichts ist, oder der Atemzug, den er jetzt tat, der geschah, wie ein Tanz, wie es auch ein Tanz sein musste, der den Mond in seiner Umlaufbahn hielt. Es klingelte. Beate kam, trat ins Zimmer. Er und Beate umarmten sich. Es war wie beim ersten Mal. Nein, doch nicht. In der Erinnerung war ihm die Umarmung länger vorgekommen, heftiger. Aber die Erinnerung ist eine Betrügerin. Es musste ja eine andere Umarmung sein. Er war nicht mehr derselbe, seit ihm klar geworden ist, was kommen würde. Die Menschen konnten nicht anders, sie würden auf ihn nicht genauso reagieren wie im ersten Durchlauf. „Was gibt es Neues?“, fragte er Beate, denn ihm war klar, dass ihr die Geschichte von Min-Jee auf der Zunge brannte. Seine Frage zeigte nicht die Wirkung, die er beabsichtigt hatte, nämlich, dass sie so rasch wie möglich von Min-Jee erzählte. Sie sagte ihm, er solle sich erst einmal ausruhen. So dauerte es eine Weile, bis sie ihre Geschichte zum Besten gab. Auch hörte sich alles ein wenig anders an, als er es in Erinnerung hatte. Die alte Zeit wurde überschrieben von der neuen Zeit, von ihm und von seinen Handlungen, die auf seine Umgebung wirkten. Er tat überrascht und ungläubig, als er von Min-Jee und deren Fähigkeiten hörte. Natürlich durften Beate und Leo nichts von der Sache erfahren, von der Zeit und wie sie manipuliert wurde, davon, dass er den gleichen Zeitraum zum zweiten Mal durchschritt. Auch würden sie ihm nicht glauben. Es war zu absurd. Wer würde ihn für voll nehmen, wenn er erzählte, er sei dazu bestimmt, die Welt zu retten? Es war Wahnsinn, gewiss. Dieser Wahnsinn aber bestand nicht darin, dass er sich etwas Absurdes einbildete, sondern, dass es Real war.

Es kam der Moment, in dem Beate Leo und ihn mit der Kraft Min-Jees infizierte, mit jener Kraft, die in Wirklichkeit, wie er wusste, von den Enceladusanern stammte. Das wichtigste Ziel für ihn hieß, Min-Jee zu stoppen. Wenn sie nicht mehr weiter immer neue Kampfgefährten produzieren könnte, würden die Angriffe auf die Europa-Aliens und ihre Verbündeten, den sogenannten Infizierten, nachlassen und bald gänzlich enden. Somit könnte die Regierung des Europamondes eine diplomatische Lösung für die Streitigkeiten mit den Enceladusaner finden. Der Krieg, der die Erde verdampfen ließe, würde nie stattfinden. Soweit die Theorie. Aber welche Folgen hätte der Angriff auf Min-Jee? Andy begann, sich vor der Zukunft zu fürchten. Sie war und blieb ein unberechenbares Etwas. Drohend warf sie ihre Schatten in das Jetzt.


Nachdem Beate Andy mit der Energie, deren Quelle Min-Jee war, infiziert hatte, war er ein Anhänger der Bewegung geworden, die sich für den Kampf gegen die Außerirdischen rüstete. Zumindest tat er so. Er lebte ständig im Zustand einer leichten Paranoia. Es war ihm klar, dass Min-Jees Bewegung beobachtet wurde, dass auch er im Fokus der Aufmerksamkeit stand. Sie hatten es ihm ja gesagt, die Bewohner von Europa, unten am Meeresgrund, bevor alles Wasser verdampfte. Sie selbst konnten davon nichts mehr wissen. Er allein wusste es, alles wusste er. Man hatte ihn ausgewählt, er durfte nicht versagen. Langsam wurde es Zeit, mit ihnen in Kontakt zu treten, ihnen zu sagen, was ihr eigener Plan gewesen war, welches Grauen die Zukunft bereithielt, wenn man die Geschichte nicht ändern würde.

Andy pirschte wachsam um den Häuserblock. Seit die Energie der Enceladusaner in ihm floss, schien es ihm ein Leichtes, die Wesen vom Europamond oder ihre Infizierten aufzuspüren. Er besaß dafür eine innere Antenne, die sofort auf die Energie des vermeintlichen Feindes anschlug. Und dann war es soweit, sein Körper reagierte wie auf eine Gefahr, die ihn für Flucht oder Angriff bereit machte. Er ignoriere diese Signale und ging auf zwei Infizierte zu. Er blieb vor ihnen stehen und sagte: „Ich muss Alice sprechen.“

Sie schauten ihn verwundert an und gingen weiter. Offenbar hatten sie keine Gefahr in ihm gesehen. In der Folge wiederholte Andy dieses Spiel mit anderen Infizierten, an anderen Orten, solange, bis seine Versuche eines Tages Früchte trugen. Langersehnt und unverhofft stand sie in einer glückseligen Sekunde vor ihm.

„Mir kam zu Ohren, Sie suchen mich. Es ist die Frage zu klären, woher Sie meinen Namen wissen“, sagte sie mit warmer Stimme.

„Wir kennen uns“, sprach Andy erregt, „Sie haben mir alles erzählt, Sie und die andere Frau, unten, unter Wasser, wo es diese Stadt gibt, die Kolonie. Hören Sie, es war damals, es war in der Zukunft. Nein, ich bin nicht irre. Sie haben mich losgeschickt, Ihnen eine Botschaft zu bringen. Es ist wichtig, es hängt vieles davon ab! Ach, was sage ich! Alles hängt davon ab, das Leben von drei Welten hängt davon ab. Wir sterben, verstehen Sie. Ich sterbe, Sie sterben, alle gehen drauf. Es ist der Krieg, der Kampf zwischen Europa und Enceladus. Die Erde wird unter Beschuss genommen, das Meer verdampft. Es war in der Zukunft. Ich war dabei.“

„In der Zukunft?“, fragte Alice.

„Ja, diese Zukunft ist meine Vergangenheit. Ich weiß nicht, warum Sie es nicht selbst sehen können, ich meine bei Ihren Fähigkeiten, vielleicht wurden sie geschwächt oder so. Sie und Ihre Leute haben alles zurückgedreht, ich meine die Zeit, wie eine Uhr, einfach so. Jetzt fängt es wieder von vorne an, mit dem Unterschied, dass ich alles weiß und dass ich es verändern kann. Ich erlebe noch einmal, was gewesen ist, nur ein wenig anders. Die alte Zeit wird überschrieben. Wir müssen nicht im Krieg sterben. Wie das genau funktioniert, weiß ich nicht. Mir ist nur klar, dass die Welt untergehen wird, wenn ich die Dinge nicht ändere, wenn wir die Dinge nicht ändern. Und nun versuche ich, Ihnen zu sagen, was Sie mir aufgetragen haben in jener anderen Zeit, in der möglichen Zukunft, die nicht kommen soll und hoffentlich nie kommen wird.“

„Gut“, sagte Alice, „weiter.“

Andy erzählte alles, was sie wissen musste – von dem Konflikt zwischen Europa und Enceladus, und wie alles in einer Katastrophe endete.

„Ich spüre, dass es die Wahrheit ist. Wir sollten umsichtig handeln. Wahrscheinlich bietet sich nicht noch einmal die Möglichkeit, die Zeit auf diese Art und Weise zurückzuspulen. Fehler können wir uns nicht leisten. Es steht viel auf dem Spiel. Alles.“

Stumm nickte Andy und er spürte, wie dabei eine gewaltige Last auf ihn niedersank. Er könnte von ihr zerquetscht werden, jederzeit.

„Min-Jee“, sagte Alice, „wir müssen ihre Energie entladen und sie vom Nachschub abschneiden; erst dann ist die Gefahr vorüber. Die Enceladusaner brauchen Min-Jee, denn sie selbst betreten die Erde nicht. Es sind seltsame Wesen, sie haben da so alte Verträge aufbewahrt, sie werden sich daran halten, beziehungsweise an ihre eigene Auslegung der Verträge. Und das besagt nichts Gutes. Also, wir sollten folgendermaßen vorgehen …“