Montag, 28. März 2022

                                                    22

„Ich erscheine Ihnen gewiss so, aber ich bin keine Verrückte. Ich werde fortgehen. Sie verstehen es nicht, aber er sagt mir alles.“

Der Psychiater beugte sich vor. „Können Sie sich daran erinnern, wie Sie heißen?“

„Min-Jee. Der Geist sagt es mir.“

„Es spricht ein Geist zu Ihnen?“

„Die Sprache der Geister ist nicht die Sprache der Menschen. Der Geist heißt Kwang, er ist mein Mann.“

„Wir haben uns erkundigt. Ihr Mann ist Astronaut. Er befindet sich auf Enceladus, einem der Monde des Saturns.“

„Er befindet sich hier“, behauptete Min-Jee. Sie sah zu Kwang. Er stand direkt neben ihr und hielt Kontakt zu ihrem Herzen. Deswegen konnte er mit ihr reden. „Ich habe viel, sehr viel vergessen. Er erzählt mir deswegen alles, was ich wissen muss.“

„Sehen Sie, es ist gut, dass Sie sich an Ihren Mann erinnern, aber er kann nicht hier sein. Infolge einer Traumatisierung ist bei Ihnen eine Amnesie eingetreten. Was immer auch geschehen sein mag, Ihr Gehirn versucht, das alles zu verarbeiten. Das aber kann es nur Stück für Stück. Es verzerrt dabei die Realität, Wahrheit und Fantasie können somit nicht immer unterschieden werden.“

„Mach dir keine Sorgen, du wirst bald alle Erinnerungen zurückbekommen“, sagte Kwang und strich ihr übers nachtschwarze Haar.

Sie lächelte, dann wandte sie sich wieder dem Psychiater zu. „Meine Amnesie hat nichts mit einem Trauma zu tun; mein Trauma ist die Amnesie. Die Außerirdischen haben mein Gedächtnis beschädigt.“

Der Psychiater schwieg.

„Ich werde wieder gesund“, fuhr Min-Jee fort, „die Götter werden mich heilen. Sie können mich mit neuer Macht ausstatten.“

„Götter?“

„Die Götter von Enceladus. Sie werfen mächtige Blitze. Sie bewachen den Himmel. Warten Sie einen Augenblick. Gleich werde ich gesund sein. Kwang leitet die Kraft der Götter zu mir.“

Der Psychiater nickte bedenklich wie in Zeitlupe.

Min-Jee lächelte. „Ich bin geheilt. Meine Erinnerung ist zurückgekehrt.“ Sie erhob sich und wandte sich zum Gehen um.

„Wir sind noch nicht fertig“, protestierte der Psychiater.

Min-Jee warf einen Blick zurück. „Doch sind wir.“

„Aber Sie können doch nicht einfach gehen!“

„Ich kann“, sagte sie mit überlegendem Lächeln, „wer sollte mich schon aufhalten?“ Ihr Haar bewegte sich sanft, knisternd sprangen Funken aus ihm hervor.


„Sie haben es geschafft!“, rief Xellox.

„Es war anstrengend“, sagte Chrochro, „ aber mit Ihrer und mit Herrn Kwangs Hilfe ist es gelungen. Früher hätte ich das nebenbei erledigt. Die Zeiten haben sich geändert.“

„Jetzt ist wieder gesund!“, rief Kwang erleichtert.

„Die Regierungen haben keinen Plan“, bemerkte Chrochro das Thema abrupt wechselnd.

„Regierungen haben nie einen Plan“, murmelte Xellox.

Kwang nickte. „Auf der Erde war es auch immer so.“

„Und ein falscher Weg, einmal eingeschlagen, wird immer weiter verfolgt“, sinnierte Chrochro. „Jetzt weiß ich wieder, was ich getan habe. Der Führer der größten Oppositionspartei Deutschlands liegt im Koma. Mein Werk. Somit, so dachte ich mir, könnte die deutsche Exilregierung länger an der Macht bleiben.“

Xellox schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Damit sie euch besser bekämpfen können?“

„Ich war immer gegen eine Einmischung in die Angelegenheiten der Erde. Es ist nie gut gegangen, wenn wir mit den besten Absichten etwas für sie tun wollten. Ich hatte nur scheinbar meine Meinung geändert, damit es nicht so aussehen würde, als gäbe ich den Enceladusanern nach. Wie dem auch sei, der Oppositionsführer musste kaltgestellt werden. Mit der alten Regierung an der Macht, die uns jagt, hat Enceladus einen taktischen Vorteil. Meine Tat sollte verhindern, dass unsere Auseinandersetzung weiter eskaliert. Gleichzeitig wollte ich damit meine diplomatische Verhandlungsbasis stärken.“

Xellox nickte. „Verstehe, aber egal, wer hier Vorteile bekommt, nichts wird die Sache besser machen. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation. Dazu kommt noch, dass diese Krankheit grassiert. Eure Fähigkeiten lassen nach. Eure Kinder, so hörte ich, können in der Schule nicht einmal mehr einfache Subraumdimensionen modellieren. Auch unsere Kräfte scheinen zu schrumpfen. Mag sein, dass euer direkter Kontakt zur Erde unser gemeinsames Bewusstseinsfeld geschwächt hat.“

„Und was bedeutet dieser Umstand?“, fragte Chrochro. „Vielleicht hat euer energetischer Kontakt mit den Seelen der Menschen uns alle mit irgendetwas infiziert.“

„Oder die Menschen haben damit nichts zu tun“, warf Kwang ein, „und ihr selbst habt euer Bewusstseinsfeld verseucht, beispielsweise durch Zwietracht und ...“

„Ja, eventuell durch diese Gedächtnismanipulationen. Das scheint ja bei euch auf Europa auszuufern“, sagte Xellox spitz und sah Chrochro vorwurfsvoll an.

„Oder jemand hat die Menschen mit zu viel Energie vollgepumpt und damit ein Ungleichgewicht heraufbeschworen, das uns langsam aber sicher ins Chaos führt“, giftete Chrochro.

Xellox atmete tief durch. „Es bringt uns nicht weiter, nach Schuld und Schuldigen zu suchen. Immerhin nähren sich die Menschen, die Europäer und auch wir Enceladusaner aus derselben Quelle. Es war gewiss ein Irrtum, dass wir nur für die jeweils eigene Welt nach Harmonie strebten. Unsere drei Welten sind miteinander verbunden, ja mehr noch, sie sind ein Ganzes. Gerät eine von ihnen aus der Bahn, verderben die anderen auch.“

Kwang fragte Xellox, wie das gemeint war, mit dem Verbundensein. Da erklärte ihm Xellox den Zusammenhang, dass es vor langer Zeit nur eine einzige Spezies gab, die sich aufgeteilt hatte und deren Nachkommen Enceladus, Europa und die Erde bewohnten.

„Das heißt, wir sind nicht verschieden?“, fragte Kwang.

Chrochro antwortete: „Im Prinzip nicht. Wir haben uns im Laufe der Zeit allerdings unterschiedlich entwickelt. So können die Menschen die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse errechnen, wir dagegen können bis zu einem gewissen Grad sehen, was in der in der Zukunft geschehen wird. Der Mensch genießt die Materie und wird von ihr zuweilen erdrückt; wir verändern die Struktur der Dinge. Der Mensch macht sich ein Bild von jemand anderen; wir dagegen fühlen seine Motive, da wir uns nicht von ihm getrennt erfahren. Wir fließen ineinander, während auf der Erde oftmals nur Ich, Ich, Ich gerufen wird. Dass die Enceladusaner die Energie auf allen Ebenen lenken können, dürfte kein Geheimnis mehr sein. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, die Erdbewohner seien eine minderwertige Lebensform, eine degenerierte, aber das täuscht. Sie haben das Potenzial, die Allwissenheit zu offenbaren, ja das Wissen zu sein. Diese Fähigkeit schlummert unerweckt in ihnen. Sie wird von den tierischen Instinkten unterdrückt, der alte Affe lebt noch immer in den Menschen. Zusätzlich kämpfen sie beständig gegen ihr animalisches Erbe, was wenig nützt, mehr schadet; somit bildet sich eine Mauer um das Allwissen..“

„Und diese Fähigkeit, die Information freizusetzen, dieses sogenannte Allwissen, die kann aktiviert werden?“, fragte Kwang.

Xellox nickte. „Ja, durch Vereinigung. Wir haben es kürzlich herausgefunden.“

„Vereinigung?“

„Wenn sie die Eigenschaften der anderen dazubekommen, offenbart sich das Allwissen von selbst. Das ist die Vollkommenheit.“

Kwang schaute verständnislos drein. „Die Eigenschaften der anderen?“

Chrochro erklärte: „Die Eigenschaften der Europäer und der Enceladusaner, übertragen mittels der üblichen Art der Infizierung. Eine Doppelinfizierung sozusagen. Das Ergebnis wäre ein Wesen, das wie ein Sender funktioniert. Statt Radiowellen aber Harmonie ausstrahlt. Die Folge wäre eine innige Verbindung zwischen uns allen, eine, die keine Konflikte mehr entstehen lassen könnte. Das hieße Frieden auf den drei Welten.“

Xellox stimmte zu. „Das wäre der Weg zur Einheit und zum Frieden“.

„Und es gäbe keinen Konflikt mehr, keine Kämpfe“, schlussfolgerte Kwang.

Xellox bejahte, gab aber zu bedenken, dass solche Ideen als Verrat galten.

„Auf den beiden Eismonden ist man dafür im Moment nicht zugänglich. Man befindet sich im Kampfmodus“, sagte Chrochro.

„Also lasst die Regierungen beiseite“, schoss es aus Kwang heraus. „Zuerst müsstet ihr doch nur Min-Jee vollständig machen, indem Chrochro sie infiziert, bevor seine Kraft dazu nicht mehr ausreicht. Min-Jee ist die Einzige mit der Energie der Enceladusaner infizierten, die einen Europäer in ihre Nähe lassen würde, da ich ihr die Sache erklären kann. Ich habe zu ihr Kontakt. Sie könnte der Auslöser sein für das Neue. Das erste Wesen mit der Essenz der drei Welten in sich“.

„Eine gute Idee“, sagte Xellox, „aber wird sie funktionieren? Wir haben uns gegenseitig geschwächt. Es liegt an dem tierischen Erbe der Menschen, an die Affenenergie, die zusammen mit ihrem Verstand eine unverträgliche Mischung ergibt. Das zieht die anderen Frequenzen runter. Dazu der Konflikt zwischen den Eismonden. Wärst du lebendig, könnten wir beide dich sofort infizieren, aber dir fehlt die Energie des Menschenkörpers, denn du bist nur ein Geist. Unsere Kraft schwindet rasch. Chrochro und ich, wir beide haben für unsere Ideale gekämpft, jeder für seine Seite. Nun spielt das für uns keine Rolle mehr. Wir haben nur noch die Wahl zwischen Untergang und Vereinigung.“


„Mir bleiben meine Träume“, sagte Alice, „aber Träume sind Schäume, meint man hierzulande. Möglicherweise sind Träume, aber auch Samen, die in der Zukunft aufplatzen und für neues Leben sorgen. Mir träumte von Philip und Min-Jee. Mit dem Menschenkörper kamen die Träume. Auf Europa träumt man nicht. Dort ist der Schlaf wie warmes Wasser, wie von Ferne ahnt man Gefühle, ganz wunderbare. Min-Jee ist fort. Ich habe mich über sie erkundigen wollen. In der Klinik wissen sie nicht, wo sie ist. Meine Träume sind mehr als Schaumgebilde. Es könnte sein, dass die Reste meiner einstigen Fähigkeiten, in die Zukunft zu sehen, sich im Schlaf zu Bildern formen. Für euch Infizierten sind das Rippen und das Sehen der Schicksalsfäden zusätzliche Eigenschaften, für uns sind sie unsere Natur. Ohne sie können wir auf Europa nicht überleben. Auch unsere Maschinen funktionieren nur im Zusammenspiel mit dem Rippen. Unsere Schulen bauen darauf auf, dass man Wissen direkt in den Geist der Kinder überträgt. Das alles wird nicht mehr funktionieren. Es ist so, als würdet ihr Menschen schlagartig erblinden oder taub werden. Wir werden uns auf Europa zurückziehen müssen, meditieren und die Schäden in unserem Bewusstseinsfeld flicken.“

„Die Infizierten werden ebenso immer schwächer“, sagte Karen. „Die Menschen drehen durch, als wollten sie den eigenen Untergang beschleunigen. Ich meine, es stimmt mit uns allen etwas nicht mehr.“

„Wahrscheinlich hast du recht, die Erde wird untergehen. Wir waren Götter und jetzt geht es abwärts mit uns. Und was passiert mit euch in solchen Zeiten, die ihr zur Hälfte Tier seid? Hier stehen von jeher Mord, Lüge und Gier auf der Tagesordnung. Das soll kein Vorwurf sein, aber so ist es doch“, sagte Alice und ließ kraftlos ihre Arme sinken.

„Wenn man sich die Geschichte der Erde ansieht, war es gewiss nicht nur so, dass euer Eingreifen, das freilich mit der besten Absicht geschah, rein zufällig schlechte Folgen zeigte. Vielleicht hatte Christian nicht unrecht. Es war oft von vornherein fragwürdig. Waren die alten Götter und Gottkönige nicht Tyrannen, denen es nach unserem Blut dürstete? Sklaven spielten wir in diesem Spiel. In eurem Spiel.“

Alice verschränkte die Hände wie zu einer frommen Geste. „Nun, die Verhältnisse waren anders“, begann sie, „ganz anders. Gewiss gab es Zeiten, in denen wir die Macht ergriffen und die Völker mit eiserner Rute lenkten. Ja, wir herrschten auch über Sklaven. Aber was will man uns vorwerfen? Hätten die Sklaven sich selbst als Herrscher über andere gesetzt, welch noch schlimmere Epochen wären daraus erwachsen? Ja, wir waren Götter und ihr brachtet Opfer. Ihr wolltet viel von uns. Wir gaben alles. Es ging nie ums Blut. Was sollte uns das tierisch verseuchte Menschenblut kümmern? Es ging um etwas Größeres, ums Opfer. Es geht immer ums Opfer, musst du wissen. Es ist ein Mysterium, das ausschaut wie Grausamkeit. Es ist eine Grausamkeit, die nichts anderes als Liebe ist. Immer wieder seid ihr in die Barbarei zurückgefallen, wir haben euch tausendmal wieder aufgefangen. Unsere Strenge, glaube mir, hat uns oft selbst geschmerzt, uns das Herz zerrissen. Wir sahen keine andere Wahl. Wir mussten euch vor eurer eigenen Natur retten, die immer wieder aus den Primatengenen böse hervorkroch. Ihr ward zwar Wilde, aber auch ihr hattet den Ursprung in euch, aus dem wir alle gekommen sind. Nicht nur gefürchtet wurden wir, sondern auch innig geliebt. Ihr hattet so ein zartes Gefühl für das Heilige in der Seele und den unbedingten Glauben der Kinder. Beladen mit eurer genetischen Ursünde kamt ihr zu uns, die Augen voller Tränen, die Hände mit Blut besudelt. Und unermüdlich wuschen wir eure Herzen rein, wieder und wieder. Wir waren eure wilden Götter, ebenso eure lieblichen Engel. Unsere Hände dienten euch als Schalen, aus denen ihr das Wasser des Lebens trinken konntet. Wir waren das Ziel eurer Gebete, ihr habt Lieder für uns komponiert, habt uns in Stein gemeißelt, uns zärtlich eure Hoffnung genannt, uns fromm ins Herz geschlossen. Kurz – wir waren eure große Liebe.“

„Und doch“, wandte Karen ein, „wollten wir ursprünglich in Ruhe gelassen werden. Das war vertraglich abgemacht.“

„Ja damals, ganz am Anfang, da hattet ihr genug Liebe, um euch zu lieben. Nach und nach seid ihr verwildert. Die Klarsicht höherer Lebensformen ging verloren, die Naivität der Tiere lag euch ebenso fern. Nach und nach hat der Hass eure Sinne vergiftet. Ihr wusstet nicht, woher ihr kamt und wer ihr ward, habt entwurzelt dahingelebt. Eure Wahnvorstellung, ein von allen Dingen getrenntes, unabhängiges Wesen zu sein, mischte sich unheilvoll mit dem tierischen Überlebenstrieb. Das Leben wurde zum Kampf. Und selbst das, was man Frieden nennt, ist hier nicht mehr, als ein Krieg, den man auf eine andere Ebene verschoben hat. Du weißt, was ich meine: ein Wirtschaftskrieg, ein Machtkrieg oder einfach nur ein Kampf um Anerkennung. Das alles ist weit weg vom wahren Frieden, den ihr vergessen habt.“

„Aber, ihr seid doch auch im Krieg, grade jetzt.“

„Unser kleiner Familienstreit ist tatsächlich etwas ausgeufert. Dennoch ist der wahre Frieden so tief, dass er die Verblendung mit einschließt.“

Karen holte tief Luft, bevor sie loslegte: „Der wahre Frieden – ha, das ist einer eurer Begriffe, die aber auch für alles herhalten müssen. Selbst eine Wahrheit kann zur Lüge oder zum Kalenderspruch werden! Mir scheint es eher so, als würden die Engel fallen.“

„Und du meinst gewiss, Engel fallen tief! Du magst recht haben und unsere Flügel sind gebrochen. In unserem Fall sind es vielmehr Flossen“, sagte Alice und lachte bitter. „Es kann sein, dass manche Engel sehr tief fallen müssen, damit andere in den Himmel kommen.“

„Redest du von dir?“

Alice zuckte mit den Schultern und schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Wir sollten uns ein Hotelzimmer nehmen. Christian darf uns nicht finden. Er war und ist ein Verräter. Er hat uns schon bei Min-Jee im Stich gelassen. Ich vermute, er kooperiert mit dem Feind.“


Der Himmel erdrückte die Stadt mit einem endlosen Grau. Alles wirkte wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Das Leben schien eine uninspirierte Kamerafahrt durch flüchtig platzierte Kulissen. Todessüchtig segelte Laub von Bäumen, die sich dürr einigen zerfetzten Wolken entgegenstreckten. „Ein paar der Infizierten meldeten, sie wäre in der Nähe“, sprach Alice monoton.

„Und was nun? Ein neuer Angriff?“, fragte Karen, die aufgeregt neben ihr herlief.

„Sie bemerkt es, wenn wir ihr zu nahe kommen, es sei denn, sie ist abgelenkt oder weit genug weg. Min-Jee ist das Tor, durch das Enceladus seine bösen Mächte schickt. Ohne sie wäre Frieden.“

Karen sagte: „Du scheinst selbst nicht bereit für den Frieden. Ich meine – du solltest an eine friedliche Lösung denken.“

„Sie ist da!“

„Wo?“

„Da hinten.“

Die Straße war menschenleer. Alice zog Karen hinter einen Baumstamm. „Da ist sie“, sagte sie und holte eine Pistole aus ihrer Handtasche.

„Was …“ Karen sprach nicht weiter, sie erstarrte.

Alice zielte. Min-Jee spazierte ein gutes Stück weiter auf der anderen Straßenseite entlang. Eine elegante Erscheinung, die mehr schwebte, als dass sie lief. Hörbar fiel der Schuss, nicht laut, wegen des Schalldämpfers, jedoch ging das Geräusch Karen bis in die Knochen. Zur Überraschung sackte Min-Jee nicht zu Boden. Unversehens war jemand aufgetaucht und hatte sich vor sie geworfen, als hätte er geahnt, was passieren würde. Alice senkte die Pistole. Ihr Gesicht war grau wie der Herbsthimmel. Ein Rabe quälte sich mit trägem Flügelschlag durch die klamme Luft.

„Das ist doch er – Philip!“, presste Karen hervor.

„Philip“, wiederholte Alice mechanisch, „Philip, Philphil“, als versuche sie, zu begreifen, was ihre Augen sahen.

„Was hast du getan? Du Wahnsinnige!“


Min-Jee schaute auf den Mann herab, der vor ihren Füßen zu Boden gegangen war. Er lächelte. Gewiss wusste er, dass er jetzt sterben würde.

„Wer du auch bist, warum auch immer du das getan hast: Es war das Richtige“, sprach sie und lächelte zurück, bevor sie weiterging, als wäre nichts geschehen.

Min-Jee musste den Mann vom Mond Europa treffen. Kwang hatte ihr gesagt, was sie zu tun hatte. Sie versuchte, die Orientierung zu behalten, indem sie die Gedanken an den Mann, der eben für sie gestorben war, beiseiteschob. Er hatte die Welt gerettet. Sie lebte und es würde sich alles glücklich fügen. Dann sah sie ihn, den Mann, den sie treffen wollte, der Christian hieß. Er blickte in ihre Richtung: Er hatte sie erkannt. Mit festen Schritten eilte Christian ihr entgegen, machte vor ihr halt und öffnete die Hände. In diesem Moment öffnete sich in Min-Jee eine neue Tür. Sie konnte erkennen, was dieser Europabewohner dachte. Er hoffte, dass er die Gabe, die ihm von Geburt an zur Verfügung stand, in dieses Wesen einpflanzen konnte, das ihn erwartungsvoll anschaute. Also in ihr. Er wusste, seine Kraft ging langsam zu Ende. Es fühlte sich an wie ein inneres Sterben, ein Abgleiten in das Land des Zweifels und der Armseligkeit. Wenn er geben wollte, was er noch zu geben hatte, musste er alles, was er an Kraft in sich entdecken konnte, zu einem Punkt zusammenpressen, musste aufhören, den Gedanken zu folgen, die ihm von Versagen und Ähnliches plapperten, musste vertrauensvoll in die eigene Mitte hineinfallen. Es war soweit, jedes Wollen und Nichtwollen, jedes Ja und Nein und alles, was sich in ihm regte, wollte hingegeben werden an den Augenblick. Er war schon oft diesen Tod gestorben, bei den Festen auf Europa, wenn das kollektive Bewusstsein zum Zentrum des Universums flog, wo die große Gnade wohnte, wo der Raum sich nach innen bog und man ganz schwach und unendlich stark zugleich wurde. Er schloss die Augen und spüre das Herz von allem. Es war real, sehr real, auch unfassbar und flüchtig, es war alles, konnte im nächsten Moment aber auch weniger als nichts werden. Und diese Summe der unbegreiflichen Grenzenlosigkeit, die nichts anderes war als Bewusstsein, floss in Min-Jee hinein und schlug in ihr Wurzeln. Die Seelenkräfte der Bewohner Europas vermengten sich in ihr mit den energetischen Kräften von Enceladus und mit den Trieben der Menschen. Es wurde vereint, was sich einst getrennt hatte. Obendrein entstand dabei etwas Neues. Min-Jee atmete heftig, ihre Augen sahen alles und blickten gleichzeitig durch alles hindurch.

Christian, kurz weggetreten, öffnete seine Augen. „Ich spüre die drei Kräfte in mir, die ursprünglichen Qualitäten, wie damals, als wir noch eines waren, vor Jahrtausenden. Aber da fließt noch etwas im Blut dieses Körpers, etwas Wildes!“

„Nimm es, wie es ist“, riet ihm Min-Jee, „es ist das tierische Erbe der Menschen. Es ist nicht gefährlich, wenn es sich im Gleichgewicht mit den andren Kräften befindet.“ Sie wusste nicht, wie es kam, dass sie so bestimmt reden konnte. Es hatte sich ein Wissen in ihr ausgebreitet, das in ihrem Herzen ruhte wie eine leere Kugel. Tippte sie diese Kugel innerlich an, fielen die Sätze einfach aus ihr heraus. Sie erkannte, wie Christian bemerkte, dass es lächerlich war, von den Überlebenstrieben verwirrt zu werden, jetzt, wo sich die Allwissenheit in ihm breitmachte. Ihm wurde klar, dass für alle denkenden Wesen eine neue Ebene der Existenz entstehen würde.

„Wir gehören zu den ersten, die vollständig geworden sind“, sagte Min-Jee, „vollständig in dem Sinne, dass die anderen von einem Punkt zum anderen gehen, wir aber an allen möglichen Punkten existieren. Jetzt ist immer und hier ist überall. Das Allwissen bedeutet, es gibt nur Antworten. Jeder Schritt, den wir tun, ist ein Erreichen des Ziels. Finden ist vom Suchen nicht getrennt. Und bald sind wir viele. Die Völker werden geheilt. Nun gehe ich. Ich habe etwas in einem Krankenhaus zu tun.“

„Ich auch, ich muss auch in ein Krankenhaus. Ich habe einen Politiker ins Koma versetzt“ , flüsterte Christian.


Als Min-Jee sich auf die Bettkante setzte, starrte Andy sie an. Er spürte Angst, Überraschung und einen Vorwurf ihr gegenüber. Gleichsam fühlte Schuld, denn er hatte sie verraten, angegriffen. Sie schaute ihn an. Er versank in ihrem Blick. Ihre Augen wurden zu Seen, zu Ozeanen, in denen unzählige Farben wie Fischschwärme tanzten. Unter dem Flimmern von Rot, Grün und Violett ruhte eine klare Tiefe. Er sank tiefer, fand keinen Grund mehr unter sich. Bald begriff er: Das Wasser war längst zum Himmel geworden. Sterne glühten in der Finsternis. Wirbelnde Galaxien, Tausende von ihnen, malten immer neue Muster vor seinen Augen, Spiralen, Kreise, taumelnde Ellipsen. Sonnen sah er, sie rollten gewaltig durch verschiedene Himmel, beschienen Landschaften, steinig und bizarr wie die Gerippe urtümlicher Echsen, oder sie legten sanftes Licht über Gärten aus verflochtenen Kristallgirlanden. Er sah tausend Sonnen, die zu Blumen verschmolzen. Mädchen pflückten sie geschwind von einer Frühlingswiese, steckten sie sich ins Haar, ins windgepeischte Mädchenhaar, dabei lachten sie, als hingen Glöckchen in ihren Hälsen. Die Meere schrumpften zu Tränen und kullerten unversehens aus Kinderaugen. Bilder zogen an ihm vorbei, Bilder aus anderen Zeiten, von fernen Orten, Bilder aus seiner Erinnerung und solche, die er nie zuvor gesehen hatte. Hinter dieser Flut von Eindrücken trat eine einzelne Gestalt immer deutlicher hervor: Er erkannte Min-Jee! Sie stand, die Arme ausgestreckt wie zum Fluge, vor dem Herzen der Welt, das seinen ewigen Takt trommelte. Über ihr waberte eine Wolke gleißenden Lichtes, angefüllt mit Schmerz und Erlösung. Alle Dinge, die in den Kegel dieses Lichtes gerieten, zerfielen, zerflossen zu einem Meer aus schillernden Wellen. Min-Jee wurde zu einem Clown, zu einem Engel, der seine Flügel weit über die Welten spannte. „Bis heute“, so sprach ihr Mund, der wie ein Feuer leuchtete, mit unzähligen Stimmen gleichzeitig, „bist du etwas Zerrissenes gewesen. Jetzt sollst du ganz werden.“

Sie legte ihre Hände auf seinen Kopf. Er spürte seine Beine wieder. Alles, was soeben noch voller Schmerzen gewesen war, fühlte sich nun gut an. Und auch bemerkte er, wie sich etwas veränderte, etwas Grundlegendes. Er wusste nicht, was es war, und würde, das ahnte er, auch wenn er es wüsste, keine Worte dafür finden. Lange starrte er vor sich hin, konnte nicht begreifen, was vorgegangen war.


Der Mercedes fuhr bis auf dem Gehweg, dort bremste abrupt. Ein Mann riss die Hintertür auf. „Rasch, rasch“, rief er und fuchtelte mit den Händen herum, „Rat Zarzar will Sie sprechen. Er befindet sich auf Europa. Eine Sache von höchster Wichtigkeit!“

Karen stieg in den Wagen. Der Fahrer gab Vollgas.


In dem Zimmer, in das man sie nach einer rasanten Fahrt brachte, befand sich ein pompöser Tisch aus teuer aussehenden Holz gefertigt. Darauf stand ein Monitor. Einer von den beiden Männern im Raum zeigte auf das Gerät: „Direkte Verbindung zu Rat Zarzar!“

Man bat Karen, sich vor dem Monitor zu setzen, auf dem sogleich Rat Zarzar erschien. Zumindest vermutete sie das. Er zeigte sich dieses Mal in seiner ursprünglichen Form, als Bewohner der Wasserwelt Europas. Er ruderte aufgeregt mit seinen Flossen. Es war eine Direktverbindung. Sie hörte seine Gedanken, die übersetzt aus einem Lautsprecher schallten. „Ich grüße Sie. Leider muss ich Sie in einer unangenehmen Angelegenheit sprechen. Es ist eine fatale Sache, oder vielmehr eine Katastrophe. Wir haben es erst bemerkt, als es schon da war. Es kam von oben, von der Oberfläche. Jetzt rast es auf uns zu. Es schwimmt sozusagen irgendwo über mir. Unsere Roboter filmen es. Es ist ein Flugkörper mit Taucheigenschaften, wir haben einen Schriftzug darauf entdeckt, in lateinischen Buchstaben: Pandora. Auf ihrem Planeten ist das eine Figur aus einem Mythos, wie sie wahrscheinlich wissen, eine, die Unheil bringt. Wir sind darüber unterrichtet, dass es auf der Erde ein Projekt Pandora gab. Meinen Informationen zufolge haben Sie daran mitgearbeitet.“

„Pandora? Ja, ich war daran beeidigt gewesen. Als ich das Institut verlassen habe, nahm ich an, es würde noch Jahre dauern …“

„Das dachten wir auch“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher, „aber die Arbeit an dem Projekt wurde wohl beschleunigt. Das Einzige, was uns im Moment interessiert, ist, wie wir das Ding stoppen können.“

„Die Atomsprengköpfe der Rakete zünden nach einer voreingestellten Zeit automatisch. Man müsste den Sprengkörper sehr schnell auseinanderbauen, auseinanderrippen, oder ihn schnellstmöglich umlenken.“

Die simulierte Stimme des Rates klang verzweifelt. „Rippen wäre gut. Wenn es noch richtig funktionieren würde. Seit wir diese Krankheit haben, Sie haben das ja mitbekommen, ist unser Gedächtnis nicht mehr das Beste. Vom Rippen ist gar nicht zu reden. Es rast auf unsere Hauptstadt zu, nicht irgendwann, es passiert jetzt, während ich mit ihnen spreche.“

„Hat sich der Torpedo schon geteilt?“

„Wie? Er teilt sich auch noch?“

„Er viertelt sich. Vier Sprengköpfe, die in verschiedene Richtungen auseinanderschwärmen. An dem Punkt wird man kaum noch etwas tun können. Eigentlich …“

„Es ist zu spät“, unterbrach Rat Zarzar. „Pandora hat sich geteilt. Die Kiste des Schreckens ist geöffnet. Das Unheil kommt über unsere Welt. Ich sehe auf einem zweiten Monitor die Übertragung. Unsere Roboter filmen alles, wie ich schon sagte. Vier Sprengköpfe. Leben Sie wohl!“

Das Bild von Rat Zarzar verschwand. Karen starrte noch eine Weile auf den Bildschirm. Er blieb schwarz.

Montag, 21. März 2022

                                                21

Du bist aber früh hier!,“ sagte Min-Jee, „Von den anderen ist noch niemand da. Geh schon mal in die Wohnstube.“

Andy, der absichtlich zu früh gekommen war, betrat das geräumige Zimmer und setzte sich auf eines der am Boden herumliegenden Kissen. Seltsamerweise bemerkte er eine tiefe Ruhe in sich. Keine Spur von Aufregung. Als Min-Jee ins Zimmer trat, um weitere Kissen zu verteilen, öffnete er seine Hände und feuerte einen Energiestrahl ab. Sie konnte nicht schnell genug reagieren und fiel vorn über. Aber Min-Jee schlug nicht auf den Boden auf, ein Energiefeld hielt ihren Körper in der Schwebe. Jetzt galt es, sie zu beschäftigen, bis die Verstärkung hier sein würde. Er schoss einen weiteren Energiestrahl ab, verfehlte allerdings sein Ziel. Min-Jee schwebte mitten im Raum, eine knisternde Aura umgab sie. Funken sprühten ihr aus den Haaren, die aufwärts strebten wie eine leuchtende Löwenmähne.

Was ist nur mit dir los?“, fragte sie und pustete kraftvoll, bis ihr aus dem Mund ein feuriger Ring flog. Er kam auf Andy zu und wurde dabei immer größer. Beinahe hätte der Ring ihn berührt, aber er konnte sich rechtzeitig wegducken, sodass dieses energievolle Gebilde an ihn vorbeisauste und in der Luft verpuffte. Sie hatte wohl nicht richtig gezielt, da er keine Bedrohung für sie darstellte. Sie war ihm einfach haushoch überlegen. Es reichte jedoch, wenn er sie ablenken konnte, damit sie nicht merkte, wie sich ihre wahren Gegner näherten.


Alice stand mitten im Zimmer, Karen einige Schritte von ihr entfernt. Offenbar hatte Min-Jee nun begriffen, dass ihr wirkliche Gefahr drohte. Immer wilder flogen Funken aus ihren Haaren heraus. Unzählige Blitze zischten um sie herum, gleich glühenden Nattern, von giftiger Angriffslust getrieben. Karen konnte einer Energieladung, die aus Min-Jees Stirn geschossen kam, knapp ausweichen. Alice erschuf eine Nebelwand mit isolierenden Eigenschaften, dahinter verbarg sie sich. Min-Jee schwebte leuchtend mitten in der Luft. Feurige Sicheln krochen aus ihren Händen, schwirrten durch das Zimmer. Aus ihrem geöffneten Mund preschte ein gleißender Strahl. Er traf eine von den Zimmerwänden, die sogleich zu Staub zerbröckelte. Min-Jee verbrauchte viel Energie, und, so hoffte Alice, sie würde sich bald entladen. Vorerst aber war daran nicht zu denken. Immer heller leuchtete Min-Jee, die Luft wurde heiß und heißer, alles um sie herum flimmerte wie flüssiges Silber.

Wir verrecken hier!“,schrie Andy. Mit verzweifeltem Mut feuerte er einen Energiestrahl auf Min-Jee ab. Ein Unternehmen, das sich als wirkungslos erwies. Er wurde von dem zerstörerischen Licht Min-Jees gepackt und gegen die Zimmerdecke geschleudert. Es knackte, Knochen zerbrachen. Von der Decke rieselte der Putz.

Alice las Karens Gedanken, die sich darum drehten, dass man Min-Jee einfach nicht entladen konnte. Was wohl auch der Fall war. Anscheinend bekam Min-Jee gerade frische Energie. Alice blickte in die andere Welt, durch die Atome hindurch, durch die virtuellen Teilchen und weiter, bis sie dort, wo Geist und Materie sich trafen, einen Mann erkannte, der Min-Jee mit der Kraft von Enceladus versorgte. Rasch konzentrierte sie sich wieder auf die Gegenwart der festen Materie.

Du musst aufhören, Min-Jee“, rief Alice, „das hältst du nicht lange durch!“ Sie schätzte die Möglichkeiten ab: Würde sie in die Welt des Mannes gehen, wäre sie in der Welt der Materie handlungsunfähig. Ihr Körper läge wie eine leblose Puppe auf dem Boden. Andererseits wurde Min-Jee ständig stärker. Sie begriff, dass sie keine andere Chance hatte, als das Risiko einzugehen, zumal sie Min-Jees Absichten und Ziele nicht durchschauen konnte. Immer noch zeigte sich das Einheitsbewusstsein getrübt, und die Zukunft erschien ihr wie ein düsterer Nebel, aus dem jeden Moment ein Ungeheuer herausspringen könnte. Ihr innerer Kompass funktionierte nicht mehr. Alice wagte es: Sie ließ sich fallen, lag auf den Boden, ohne zu wissen, ob sie je wieder aufstehen würde. Sie fiel mit ihrem energetischen Selbst durch den Boden hindurch, in jene Welt hinein, in der ein Mann Min-Jee mit neuer Energie versorgte. Unversehens stand Alice ihm gegenüber. Schleierhaft nahm sie gleichzeitig auch das Zimmer wahr, in dem Karen Min-Jee gegenüberstand und um ihr Überleben kämpfte.

Du bringst sie um. Sie wird verglühen. Es ist zu viel Energie, die durch sie hindurchfließt!“, schrie Alice.

Der Mann hielt inne, mehr aus Überraschung, dass diese sie hier aufgetaucht war, als auf die Reaktion dessen, was sie gesagt hatte. Alice fing Gedankenfetzen auf. Er wusste: Vor ihm stand eine von den gefährlichen Außerirdischen, die über eine tödliche Flotte verfügten, mit der sie die Enceladusaner bedrohten, zudem wollten sie die Erde unterjochen.

Alice erkannte: Der Mann war einer von den Toten. Solche Menschen galten als verwirrt und unberechenbar. Sie begriffen das Sterben einfach nicht, diesen Moment, in dem das Individuelle in die Ewigkeit floss, wo man tot war und lebendig zugleich. Dieser Tote hier wurde offenbar von den Enceladusanern rekrutiert.

Er schwankte innerlich, konnte nicht wissen, ob es ein Trick war, oder ob Min-Jee tatsächlich an einen Überschuss von Energie Schaden nehmen könnte.

Sie brennt durch wie eine überlastete Sicherung!“, rief Alice.

Er wusste, es gab keinen wirklichen und endgültigen Tod, sondern nur eine Verwandlung. Dennoch stoppte er die Energieübertragung.

Min-Jee brach zusammen. Ein paar letzte Funken knisterten um ihren Kopf herum, dann starben auch diese ab. Es wurde still.

Es wird alles gut“, sagte Alice zudem Mann. Sie war sich selbst nicht sicher, aber ihr Mund sprach das aus, was sie glauben wollte. Langsam verblasste der Geist des Toten vor ihr.

Sie erhob sich und ließ ihre Augen im Zimmer umherwandern. Karen seufzte erleichtert. Andy lag schweratmend in einer Ecke. Min-Jee schien in einen tiefen Schlaf versunken zu sein.

Was nun?“, fragte Karen, „Was machen wir mit ihr? Sie töten? Ins Koma versetzen? Ihre Erinnerungen manipulieren?“

Alice zuckte müde mit den Schultern. Sie hatte keine Antwort.

Andy ist verletzt“, sagte Karen.

Langsam ging Alice auf den Verwundeten zu und beugte sich über ihn. Sie spreizte ihre Hände, griff mit ihrem Geist in die Quantenwelt hinein und begann zu rippen. „Ich habe einige Knochen halbwegs zusammengefügt. Es sind etliche Nerven verletzt. Das kriege ich nicht hin. Vielleicht schaffen sie es unten in der Unterwasserstation. Vielleicht.“

Ich kann meine Beine nicht bewegen“, flüsterte Andy.

Dein Rückgrat war eben noch gebrochen.“

Werde ich wieder laufen können?“

Alice schaute ihn an und schwieg einen Moment lang. „Das können wir später klären. Jetzt müssen wir weg von hier, irgendwie.“

Karen wollte von Alice wissen, wie sie die beiden fortschaffen könnten, da sie nicht in der Lage wären, so perfekte Tunnel wie Christian zu formen.

Nun, für Andy könnten wir die Feuerwehr rufen. Ein Unfall. Sie werden ihn ins nächste Krankenhaus bringen. Min-Jee dürfen wir nicht unbeaufsichtigt lassen. Wir müssen sie mitnehmen, indem wir mehrere Tunnel hintereinander bauen. Ist zwar Flickwerk, aber es könnte gelingen. Wir müssen weg von hier. Ihre Anhänger können jeden Moment auftauchen“, sagte Alice und beugte sich über Min-Jee.

Was machst du?“

Ich blockiere alle ihre Erinnerungen.“

Alle?“

Uns bleibt keine Zeit für den Feinschliff“, antworte Alice.

Das heißt, sie wird zum Zombie! Wir waren doch mal die Guten.“

Wir sind im Krieg, Karen, im Krieg. Es wird alles in Ordnung kommen. Eines nach dem anderen.“


Andy lag im Bett.

Hallo, Besuch!“, rief Karen mit gespielter Heiterkeit.

Hallihallo, es gibt Schokolade, die Lieblingsspeise aller Helden!“, trällerte Alice und legte eine Schachtel Konfekt auf die Anrichte neben dem Bett.

Das Kopfteil des Bettes richtete sich auf und brachte Andy in eine sitzende Position.

Wie geht's?“, fragte Karen.

Den Umständen entsprechend. Die Umstände sind allerdings nicht so günstig. Wann komme ich zur Unterwasserbasis, wegen der Behandlung?“

Bald“, versprach Alice, „sehr bald. Es gibt da diese kleine Krise, die alles erschwert. Habe noch ein wenig Geduld!“

Ehrlich gesagt: Die erste Zeitlinie hat mir besser gefallen. Den Schluss ausgenommen“, sagte Andy und lächelte krampfhaft.

Du hast ein Anrecht auf die Wahrheit. Es hat nie eine erste Zeitlinie gegeben.“ Karen atmete tief durch.

Unsinn, natürlich hat es die gegeben. Ich entsinne mich genau, sogar an jedes Detail, bis dahin, als der Ozean zu kochen begann.“

Ja, das stimmt, du kannst dich daran erinnern“, bestätigte Alice, „aber geschehen ist das alles nicht. Es war eine Illusion. Wir haben deine Freundin beobachtet, wussten von ihrem Kontakt zu Min-Jee. Auch über dich haben wir einiges herausgefunden. Reine Routine, wir haben alle Kontakte Min-Jees kontrolliert. Als wir auf dich gestoßen sind, war unsere Chance da, an sie heranzukommen. Dein Persönlichkeitsprofil zeigte uns, dass du nicht zum Fanatismus neigst. So glaubten wir, dich für unsere Sache gewinnen zu können. Wir brachten dich dazu, uns zu helfen. Kurz vor deiner Entlassung aus dem Gefängnis statteten wir dir einen heimlichen Besuch ab, als du geschlafen hast. Wir haben deine Erinnerungen manipuliert. Wir ließen dich glauben, die nächsten Wochen wären schon vorbei, du wärest wieder in der Freiheit und triffst dann irgendwann auf uns. Du kennst die Geschichte ja. Auch wir können die Zeit nicht auf diese Art zurückdrehen, wie wir dich haben glauben lassen. Das geschah alles nur in deinem Kopf. Für den Geist war es Real. Du solltest mitbekommen, wie die Welt untergeht. Wegen der Motivation, damit du auf unserer Seite bist. Du wurdest nur einmal aus dem Gefängnis entlassen, das zweite Mal, das erste Mal war es nicht echt. Alles nichts weiter als von uns erschaffene Illusionen. Sie wurden aus deinen wirklichen Erinnerungen designt und aus den Ergebnissen unserer Recherchen über dich. Das haben wir mit einer Story gemischt, die dafür sorgen sollte, dass du uns hilfst“.

Das ist unglaublich! Ich wurde schamlos manipuliert?“

Ja Andy, eigentlich kann man es so nennen. Wir sehen die moralische Verpflichtung, es dir jetzt zu sagen. Somit weißt du, was du wirklich erlebt hast, und was nicht von dir ist.“

Das bedeutet: Die Welt war gar nicht in Gefahr unterzugehen? Die Flotte der Enceladusaner greift nicht an?“

Die Lage ist durchaus ernst. Niemand weiß genau, wie ernst“, sagte Alice.

Andy schüttelte verständnislos den Kopf. „Und deswegen bin ich gelähmt, wegen einer Lüge, einer Illusion. Vielleicht ist das hier ja auch nicht wahr, ihr, dieses Zimmer. Vielleicht ist das nur eine Erinnerung, jetzt gerade implantiert, später werde ich sie glauben. Es wäre nicht so schlimm, wenn die Enceladusaner den Krieg gewinnen würden, dann müssten wir eure Grausamkeit nicht mehr ertragen.“

Es ist verständlich, du bist verbittert. Es hat dich hart getroffen“, sagte Karen mit sanft.

Du musst Geduld haben“, fügte Alice hinzu. Sie wusste, ihr Volk wurde immer schwächer und es verlor nach und nach seine Fähigkeiten. Das kollektive Bewusstsein geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Wenn ein Schleier vor dem Tunnel hing, der die Bewusstseinsebenen miteinander verband, wurde es schwierig, die Struktur der Materie zu verändern. Momentan konnte man Andy nicht helfen.

Und – Min-Jee, was ist mit ihr?“, wollte er wissen.

Blockierte Gedächtnisstränge. Sie befindet sich in einer Nervenklinik. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist und was sie getan hat“, erklärte Alice betont sachlich. Sie wusste, dass Min-Jee vorerst in der Klinik bleiben würde. Auch ihr konnte nicht geholfen werden. Gedächtnisse zu löschen, war einfach, sie zu reparieren kompliziert.


Üppig wippten goldene Ähren an den Halmen. Der Wind blies Wellen ins Kornfeld. Noch hatte man die Ernte nicht eingebracht. Von Ferne her blökte eine Kuh. Es war eine dieser Herbststunden, die noch einmal zeigen wollten, was die Sonne kann, bevor die Tage grau und kurz den nahenden Winter ankündigten. Und tatsächlich flog das Licht hin und her, einem trunkenen Kranich ähnlich, oder spann gleißende Fäden durch die Luft, ließ die Blätter an den Birken, die am Wegesrand standen, flattern und in sämtlichen Rot-, Gelb- und Brauntönen aufflammen. Aufrecht wie ein Baum stand Philip da. Er bemerkte einen untersetzten Mann auf sich zukommen. Der Fremde machte vor ihm halt, grüßte und musterte ihn neugierig. „Gut sehen Sie aus“; sagte der Mann in einem vertraulichen Ton. „Macht wohl die Landluft. Übrigens, Lehmann ist mein Name. Sie erkennen mich wohl nicht wieder, oder? Ich hörte davon. Sie erinnern sich nicht. Wir hatten einmal miteinander zu tun. Ich arbeitete bei der Polizei. Aber das ist Vergangenheit.“

So, so – Polizist waren Sie. Allerdings müssen sie sich irren, tut mir leid, ich kenne Sie wirklich nicht. Mein Gedächtnis ist übrigens ausgezeichnet“, sagte Philip zu dem alten und leicht verwirrten Mann, dessen Erinnerungen sich offenbar mit seiner Einbildungskraft unheilvoll vermengten.

O ja, ich verstehe. Entschuldigen Sie, es war dumm von mir, Sie zu belästigen, ich bin nur einer Eingebung gefolgt. Es kam mir vor, als wäre es wichtig, dass Sie sich erinnern; besser gesagt, dass derjenige sich erinnert, für den ich Sie hielt. Ich habe mich geirrt. Wenn ich Sie mir genau betrachte, sind Sie es wirklich nicht. Also nicht der, für den ich Sie hielt. Eine dumme Verwechslung meinerseits. Meine Recherchen haben mich in diese Gegend geführt, als ich Sie dann sah … Wissen Sie, Ihre Gesichtszüge, sie sind ähnlich wie ... Na ja, lassen wir das. Sie sind es einfach nicht! Also, Sie können unsere kleine Begegnung ruhig vergessen. – Tja, schön haben Sie es hier. So ruhig, ganz anders als in der Stadt.“

Ja, ich liebe es auch hier. Könnte mir nicht vorstellen, woanders zu leben, als auf dem Land. In den Städten soll es zurzeit ja Unruhe geben.“

Sehr viel Unruhe. Manche Leute müssen sogar untertauchen. Man redet vom Kalten Krieg zwischen Staat und Volk. Es reichen die falschen Kontakte und schon wird man zur unerwünschten Person.“

Es tut mir leid für diese Leute. Ich glaube immer an ein gutes Ende.“

Ich auch, ich auch“, sagte der alte Herr, seine schmalen Lippen lächelten müde, über sein Gesicht huschte ein Ausdruck von Wehmut. „Machen Sie es gut“, stieß er abrupt hervor und ging des Weges.

Sie auch, schönen Tag!“, rief Philip ihm nach.

Bald war der Fremde hinter einem Wäldchen verschwunden. Überall roch es nach sterbender Schönheit, nach einer Reife, die vollendet war. Philips Blicke hefteten sich an Vogelschwärme, die südwärts zogen, einem neuen Horizont entgegen. Er atmete, und das Einatmen der spätsommerlichen Luft brachte Frieden in sein Herz. Bevor es vor Glück zerspringen drohte, fiel er um. Alles schwarz. Nach und nach erkannte er etwas, Lichter, eventuell Sterne. Nein, doch nicht, jetzt sah er, es waren Quallen. Sie schwammen vor ihm, sie leuchteten aus sich selbst heraus. Es wurde heller um ihn. Seine Augen gewöhnten sich an die neue Umgebung. Hinter den Quallen, die wie lebende Lampen wirkten, schwebten skurrile Wesen über den Boden des Gewässers, in dessen Tiefe er sich befand. Ihre großen Flossen, zwei an der Zahl, zitterten bizarr; auch verfügten sie über zwei Arme, die denen der Menschen ähnelten. Mit großen Augen musterten ihn die Gestalten. Sie wirkten nicht bedrohlich, nur sehr fremdartig, obwohl von ihnen auch eine seltsame Vertrautheit ausging. Er konnte sie hören, es war, als sprächen sie in seinem Kopf. Sie redeten alle gleichzeitig und doch mit einer Stimme. „Dir kann nichts geschehen“, sagten sie, „ dein Körper schläft, dein Geist ist wach. Alles das, was du nun hören wirst, wurde einst in dich eingepflanzt. Die Zeit ist reif, der Same kann aufbrechen. Wir sind die Weisen von Europa, die Weltenträumer. Einst hast du uns besucht, als du jung warst. Wir sind die Weisen, wir sprechen mit einer Stimme, mit einem Herzen, einem Geist, höre auf unsere Worte: Wir erblickten die heilige Welt, in deren Räume sich die Fäden des Schicksals verflechten, um jene Zukunft zu erschaffen, die irgendwann zur Gegenwart gerinnt. Niemand blickt so weit durch die Räume der Zeit wie wir; niemand sonst sieht so klar, wie die Fäden sich weben und verknoten, zerreißen und sich wieder bilden. In jener Zeit, in der du uns hören wirst, werden viele Augen getrübt sein und die Geister verwirrt. Man fragt: Liegt es an den Kindern der Erde? An den Geschwistern auf Enceladus? Oder liegt es an uns, die wir von Mutter Europa stammen? Wir prophezeien einen tiefen Schatten, er wird sich über den Geist der Völker legen. Man wird nicht mehr wissen, was man tut und taub sein für die Worte, die das eigene Herz spricht. Die Sehenden taumeln blind, die Liebenden gebären Hass. Und in der finsteren Zeit der Seele werden Waffen gegen Waffen stehen. Die Weisheit wird man einen Dreck schätzen, die Unwissenden aber werden sich erheben und mit lauter Kehle leere Worte vor die Masse spucken, bis man ihnen folgt. Aber bevor die Völker, welche entsprungen sind aus demselben Schoß, sich peinigen bis aufs Blut, soll ein Licht aufflackern und die Finsternis mit den Flammen der Wahrheit erleuchten, auf dass die, welche der Lüge folgten, sich abwenden von ihren Taten und heulen und zetern wegen ihrer zerrütteten Seelen. Dieses Licht, das wir durch die Zeit senden, sollst du sein. Während andere sich besudelten, da blieb dein Geist rein, erfreute sich an der Unwissenheit, er mied das Gift der Gedanken und Meinungen. Denn dort ist die Quelle des lebendigen Wassers nicht zu finden, wer dort sucht, fischt im Trüben. Die Klugen und Rachsüchtigen, auch die, die meinen, sie täten das Beste, schaufeln künftige Gräber. Darum halte dein Herz fern von solchen, die Verwirrung stiften. Sie wollen dich bei der Hand nehmen und führen, kennen aber den Weg nicht. Richte deinen Blick auf den hellsten der Sterne, sein Licht ist sauber und nahrhaft. Dein Auge soll sehen, so wie unsere Augen sehen. Sprich, was ist dort?“

Philip schaute sich um, konnte aber nichts erkennen. Zu trübe war das Wasser. „Ich sehe nichts“, sprach er.

Die Weisen ruderten bedächtig mit ihren Flossen. „Du schaust mit den Augen des Fleisches. Benutze das Auge, das tiefer sieht. Die Augen, die nach außen blicken, erkennen nur den Schein, die Wahrheit sehen sie nicht.“

Nach diesen Worten war ihm, als öffne sich tatsächlich ein Auge inmitten seiner Stirn. Nun sah er kein schmutziges Wasser mehr vor sich. Alles wurde hell, gleißendes Licht umhüllte die Dinge und offenbarte eine beinah schmerzende Klarheit. Er sah alles, nichts blieb ihm verborgen. Er erinnerte sich daran, wer er war. Langsam erhob er sich. Die Erde hatte ihn wieder. Sorgsam betrachtete er seine Hände. Sie waren kräftiger geworden von der Feldarbeit. Er entsann sich seiner Flossen, mit denen er einst das Wasser auf seinem Heimatmond flink durchschnitten hatte, damals, als er ein übermütiger Junge war. Mehrere Körper hatte er gehabt, mehrere Leben gelebt. Selten war ihm klar geworden, wer er wirklich war. Nun wusste er es. Er blickte in sein eigenes Herz und sah dort den hellsten aller Sterne brennen. Es war keine Frage, was er zu tun hatte. Mit großen Schritten lief er heimwärts.

Seine Frau stand in der Küche und schnitt Gemüse zu Würfeln. Unbemerkt ging er auf sie zu, entwand ihr mit einem geschickten Griff das Messer und zog sie fest an sich. Er schaute ihr in die Augen. Es war ihm, als würde er zum ersten Male ihre Seele erblicken, die sich zitternd hinter dem Fleisch ihres Gesichtes verbarg. Er hatte sie gekannt, aber nicht erkannt. Nun wusste er, wer er selbst war, darum konnte er sehen, wer sie war. Ihr Mund öffnete sich zu einer Frage, die er zu ersticken wusste, indem er ihn zart mit Küssen verschloss. Als er von ihr abließ, schwieg sie. Gewiss ahnte sie, dass etwas Bedeutendes geschehen würde.

Ich muss gehen“, sagte er. Eine Welle von Liebe strömte aus seinem Herzen und schwappte in ihre Seele hinein. Er drehte sich einmal noch um, als er die Tür erreicht hatte. Schweigend verließ er das Haus.

Freitag, 11. März 2022


                                          20



Andy schlief kaum noch. Seine Nervosität nahm zu. Der Tag des Schicksals dreier Welten kam unaufhaltsam näher, drohend wie ein Ungeheuer. Er hatte Angst, Angst vor seinem Versagen, das gleichbedeutend mit dem Ende der Welt sein würde.

„Du bist in letzter Zeit recht abwesend“, sagte Beate. Er sah sie an, sie schien ihm fremd. Ihre Züge vereisten, ihre Bewegungen erstarrten. Der Mund allein lebte träge und brachte Worte hervor, die er nicht fassen konnte. „Irgendwann musst du es erfahren Andy. Jetzt musst du es erfahren. Es fällt mir schwer, aber es muss heraus. Also die Sache ist die: Ich bin schwanger.“

Es durchfuhr ihn ein Schock. Nicht das, was sie ihm mitgeteilt hatte, verstörte ihn, sondern, dass sie es ihm mitgeteilt hatte. Das war in der anderen Zeitlinie nicht vorgekommen. Auch dort musste sie schwanger gewesen sein. Er konnte ja erst alles verändern, seitdem er zum zweiten Male aus dem Gefängnis gekommen war. Er musste das Kind vor seiner Haft gezeugt haben. Sie hatte es ihm, das war die einzige Erklärung, in der anderen Zeitlinie verschwiegen. Aber warum? Es kam vor, dass Leute Eltern wurden. Er musste sich der Situation fügen. Er hoffte, dass nicht irgendetwas wegen seiner Zeitreise durcheinandergekommen war. „Ein Kind. Gut, warum sagst du es erst jetzt? Du hättest es früher sagen müssen. Du bist doch schon länger schwanger, oder nicht? Ich dachte erst, du hast vom Essen zugenommen. Ja, gut, es ist, wenn ich es recht überlege, toll. Ich muss mich nur noch einen Augenblick daran gewöhnen, dass ich Vater werde.“

„Du wirst nicht Vater. Ich werde Mutter!“

„Ich verstehe nicht, ich meine, wenn du Mutter wirst, dann müsste ich doch Vater ...“

„Das wirst du nicht“, sagte sie und senkte ihren Blick.

„Soll das heißen …“

Beate nickte wie in Zeitlupe. „Ja, das Kind, mein Kind, es ist nicht von dir. Es hat sich vieles geändert, während der Zeit, als du im Gefängnis warst.“

Andy fühlte einen imaginären Schlag in der Magengrube. War das alles noch real? „Moment mal, ich war keine Jahre fort, wenige Monate nur. Wer ist der Vater? Mit wem … Ich meine, du hast, du hast einfach ...“

„Ja, ich habe. Es ist unwesentlich, wer es ist. Ein Name für dich, ohne Bedeutung. Es war nicht das Ergebnis eines Ausrutschers. Ich liebe dich nicht mehr. Vielleicht habe ich das nie getan. Du weißt, wie das ist: Erst ist man einsam, dann trifft man jemanden, man ist froh, bald wird es zur Gewohnheit, dann kommt die Gleichgültigkeit. Ich hatte Mitleid mit dir. Du hast immerhin im Knast gesessen. So konnte ich es dir nicht gleich sagen. Du warst in einer Scheißsituation. Nun ists raus.“

Er schwieg. Es war nicht allein das Kind. Auch liebte sie ihn nicht mehr. Er fühlte sich winzig, ein Wurm, gerade noch etwas mehr als ein Nichts, ein sinnlos zappelndes Etwas. Diese Zeit, in der jetzt festsaß, gefiel im absolut nicht. Wahrscheinlich wäre die alte Zeit besser gewesen, obwohl am Ende alle hätten sterben müssen. Am besten wäre eine dritte Zeit, eine ohne schlechte Nachrichten und bitterem Ende. Aber er befand sich nun mal hier, gefangen in dieser schrecklichen Realität. Es hing alles von ihm ab. Er war die letzte Chance. Offenbar konnte man die Zeitlinie nicht endlos überschreiben. Er musste sich zusammenreißen. Es ging ja nicht um ihn und sein beschissenes Leben, sondern an erste Stelle stand, dass der Krieg verhindert werden musste. Er konnte nichts mehr zu Beate sagen. Er ging fort, blickte sich nicht um. Er hatte nicht den Wunsch, sie jemals wiederzusehen. Leider würde das nicht funktionieren, denn er musste zu den Treffen mit Min-Jee gehen, dort könnte immer wieder Beate auftauchen. Egal, Privates durfte keine Rolle spielen. So viele Leben hingen von seinen Entscheidungen ab. Diese Leben zu retten, das war der einzige Grund seiner Existenz. Min-Jee musste ausgeschaltet werden. Nur so würde der Krieg nicht so weit gehen, dass die Ozeane der Erde kochten und verdampften. Er hatte zu funktionieren, er würde alle seine Gefühle unterdrücken und zu einer Maschine werden. Das Schicksal war herzlos.


„Anschließend, wenn alles erledigt ist, wenn Min-Jee ihre Fähigkeiten eingebüßt hat, werden wir es ihm sagen müssen. Er hat ein Recht darauf“, meinte Alice.

„Gewiss“, stimmte Karen zu, „ dann wird ihm klar werden, wie er von uns manipuliert wurde.“

Christian mischte sich in das Gespräch ein. „Mehr oder weniger ist alles eine Form der Manipulation, egal was man sagt oder tut. Leben heißt: Manipulieren.“

„Du weißt, was ich meine Christian. Das, was wir getan haben, ging über das normale Maß hinaus.“

„Wir mussten uns über die Loyalität dieses Andys sicher sein. Ihr wisst ja, was davon abhängt.“

„Diesmal war ich es, die in die Erinnerung von jemandem eingegriffen hat, ungebeten. Und er wird es irgendwann wissen und mich dafür verachten.“

Christian sah Alice fest an. „Du machst dir zu viele Gedanken über das, was jemand irgendwann denken könnte. Ein menschlicher Fehler. Du bist keiner von ihnen. Du solltest die Dinge in größeren Zusammenhängen sehen. Es scheint, as ob es eine Gegeninfektion gibt. Wahrscheinlich wurden einige von uns von dem Zeug infiziert, das sie hier seit Urzeiten in sich tragen.“

„Soll ich wirklich nicht mitkommen?“, fragte Karen.

Christian winkte ab. Er und Alice seien vollkommen ausreichend. „Wir wollen doch keinen Aufmarsch im Büro von Doktor Alchinger veranstalten, oder? Es soll ja nur ein kleiner vertraulicher Plausch werden.“


Als sie den Tunnel verließen, saß Doktor Alchinger an seinem Schreibtisch und blätterte einige Papiere durch. Er schreckte auf.

„Keine Panik“, beruhigte Alice ihn.

„Ich bin bereits in Panik“, antwortete er.

Christian sagte: „Verzeihen Sie unseren ungewöhnlichen Auftritt, aber das schien uns der sicherste Weg, um mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Sie werden gewiss beobachtet. Immerhin sind sie einer der führenden Köpfe der Opposition.“

„Mann hat sich schon daran gewöhnt, dass sie einen bespitzeln. Und Sie, wer sind Sie? Gehören Sie zu den Infizierten oder zum Diplomatischen Korps der Außerirdischen?“

„Wir kommen von da oben, Europa“ sagte Alice den Zeigefinger hebend, „Wir zeigen Interesse daran, dass sobald wie möglich ein Regierungswechsel stattfindet.“

Christian setzte sich auf einen freien Sessel und schlug die Beine übereinander. „Unsere Regierung sieht es mit Besorgnis, dass die Opposition in Deutschland so zögerlich agiert.“

Doktor Alchinger setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Man könnte ihre Worte so interpretieren, als wollten sich die Bewohner des Mondes Europa in die Politik der Erde einmischen.“

„Aber Doktor Alchinger, höre ich da ein gewisses Misstrauen aus ihren Worten heraus? Wahrscheinlich habe ich mich in dieser mir fremden Sprache ein wenig unglücklich ausgedrückt.“ Christian wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Das sollte nicht der Versuch einer Beeinflussung sein, sondern ein kleines informelles Gespräch. In der Zukunft werden Botschafter ausgetauscht und es wird zwischen den Menschen und uns interplanetare Verträge geben. Aber ihre Bedenken sind nicht gänzlich unbegründet, leider. In der Vergangenheit, so muss ich zugeben, hat eine gewisse Einmischung unsererseits stattgefunden, besonders vonseiten der hier stationierten Kolonie. Das war sicherlich – nein, nicht nur sicherlich – ganz zweifelsfrei war es ein Fehler. Ich gehöre zu denen, die sich von vornherein dagegen ausgesprochen haben. Wir sind nicht hier, um uns bevormundend einzumischen, vielmehr wollen wir den Menschen helfen.“

Alice übernahm das Wort. „Wie Sie wissen, werden staatliche Organe seit einiger Zeit von Leuten mit gewissen Fähigkeiten unterstützt. Sie machen auf Infizierte Jagd. Das Geheimnis dieser Subjekte ist, dass sie ihre Kräfte von bösartigen Außerirdischen beziehen, den Enceladusanern.“

„Enceladusaner?“, fragte Doktor Alchinger erstaunt.

„Eine interessante Spezies, sie hat sich bis dato aus allen politischen Geschehnissen auf der Erde herausgehalten“, erläuterte Christian. „Die Art des Infizierens, die unsere Leute angewendet haben, sollte die Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen. Die Infizierung, die die Enceladusaner bevorzugen, weckt zerstörerische Fähigkeiten. Scheinbar wollen sie unsere künftige Kooperation boykottieren. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem alles eskalieren kann. Darum lautet unser Ratschlag: Übernehmen Sie die Regierungsgewalt möglichst schnell und mit allen Mitteln. Deutschland ist neben China das mächtigste Land der Welt, seit sich die USA nicht mehr von der letzten Krise erholen konnten. Ihr Handeln Doktor Alchinger wäre ein Signal für den ganzen Erdball. Die Regierung agiert aus dem Exil heraus und hält sich mehr schlecht als recht an der Macht, mithilfe erweiterter Notstandsgesetze, womit die Demokratie faktisch abgeschafft wurde. Warten Sie nicht bis zu den nächsten Wahlen, vielleicht gibt es die nicht mehr.“

Doktor Alchinger wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn. „Sie reden also von einem Putsch?“

Christian beugte sich vor. „Das Recht muss wiederhergestellt werden. Niemand sollte eine Exilregierung anerkennen, die sich nicht an die Spielregeln hält. Erheben Sie sich endlich! Die Mehrheit des Volkes wird auf ihrer Seite stehen.“

„Nun, die Polizei und die Geheimdienste sind gegen mich“, gab Doktor Alchinger zu bedenken.

„Doktor, ein Teil des Militärs ist nicht mehr regierungstreu. Viele Offiziere verweigern die Befehle. Die Masse hat keine Meinung, wartet aber auf eine neue Führung. Sie müssen auf das Militär setzen. Sobald Sie die Regierungsgewalt haben, werden wir Ihnen einen Vertrag anbieten. Dort wird die friedliche Koexistenz unserer beider Welten geregelt. Sie können den ganzen absurden Überwachungswahnsinn beenden, die korrupten Geheimdienste auflösen und die Polizei von undemokratischen Kräften reinigen. Auf unsere Unterstützung werden Sie rechnen können.“

„Sie haben recht. Der Wahnsinn muss enden. Ich werde sofort Kontakt zum Militär aufnehmen.“

„Wir wünschen Ihnen viel Erfolg“, sagte Alice. Schon öffnete sich ein Tunnel, der sie einsog. Sekunden später erschien sie neben Karen.

„Wo ist Christian?“

„Weiß nicht, er müsste bald kommen“, sagte Alice.


Christian erschien einige Minuten später.

„Wo warst du denn so lange?“, wollte Alice wissen.

„Ich habe ihm noch einmal erklärt, wie gefährlich die Enceladusaner sind.“


Lichtpunkte wandelten sich zu Linien, so schnell flogen sie dahin. Rote, grüne und gelbe Nebel leuchteten von fernher, verbargen kristallene Welten in ihrem Inneren. War man ganz leise und spitzte die Ohren, so erklang in einem die Musik der großen Kristalle, welche Sonnen waren, die in den Nebeln glühten. Überallhin konnte der gedankenschnelle Flug führen. Sie badeten in Meeren aus Licht, schwebten als silberne Insekten über die Blumensteppen eines Honigplaneten. Über reichgemusterte Landschaften, in denen süße Flüsse plätscherten, zogen sie ihre Bahn. Mit ihren silbernen Insektenleibern tauchten sie pfeilschnell in bis auf den Grund des lieblichen Wassers hinab. Sie schwammen vorbei an flimmernden Fischen, deren Schwärme sich kreisförmig durch die Tiefsee schraubten. Betäubende Süße drang ihnen durch die Poren, bis sie vom Nektar des Alls durchdrungen waren. So schwebten sie durch eine Welt, die keine Minuten kannte und keine Stunden. Sie wurden ergriffen von einem beständigen Glück, ein Glück, das nichts mehr wollte. Es war sich selbst genug.

„Kommen Sie, kommen Sie!“, rief eine Stimme ihm zu.

Kwang öffnete die Augen und wusste wieder, wer er war. Neben sich erblickte er Xellox, oder besser die metallische Libelle, deren Form Xellox angenommen hatte. Die Regenbogenflügel des Tieres leuchteten wie verrückt.

„Wir sollten los!“, rief Xellox und schoss nach oben. Kwang folgte ihm bis zur Oberfläche des Wassers und weiter, bis hinein in den Himmel, wo rote und türkisfarbene Wolken flatterten. Er sah gewaltige Vögel, sie bestanden aus unzähligen winzigen Wesen, die sich zu einem Körper vereint hatten, der erhaben durch die Stille segelte.

Xellox erklärte: „Diese Welten, durch die wir uns bewegen, bilden die Samen für alles, was im Universum der festen Materie entstehen wird. Hier werden Informationen ausgesendet und eingesammelt.“

Sie flogen weiter, vorbei an denkenden Sternen und traumverlorenen Planeten. Wurden Strukturen immer komplexer, so entwickelten sie ein Bewusstsein. Ja, auch Sonnen waren Wesen mit einer Seele. Im Raum zwischen zwei Sternensystemen zog strahlend ein Komet seine Bahn.

Xellox zeigte auf den Kometen und sagte: „Du solltest hindurchfliegen. Es ist gut, zu lernen, dass dich Körper wie dieser nicht aufhalten können. Noch existiert die Idee in dir, ein Komet oder etwas anderes, könnte dich taktieren. Sobald du nicht mehr daran glaubst, dass Erscheinungen eine Substanz besitzen, bist du frei. Alle Erscheinungen sind formlos, leer.“

Dieses nahm Kwang sich zu Herzen, er sauste auf den Kometen zu. Dabei sprang ihn die Angst wie ein Raubtier an. Möglicherweise könnte er ja wirklich mit dem Ding zusammenstoßen. Andererseits fühlte er sich seltsam weit, so erlaubte er der Angst, in ihm zu sein, worauf diese, da sie auf keinen Widerstand traf, einfach verschwand. Freudig durchflog Kwang den Kometen.

„Schön, dass du Vertrauen hattest“, lobte Xellox und lächelte dabei.

„Und was wäre passiert, wenn ich nicht so viel Vertrauen gehabt hätte?“, fragte Kwang.

„Dann wäre es wohl eine weniger angenehme Erfahrung geworden“, meinte Xellox, „denn unsere Befürchtungen haben die Eigenschaft, wahr zu werden.“

„Na ja, manche Sachen fühlen sich sehr präsent an und man wird leicht von ihnen gefangen.“

Xellox nickte. „Ja, manche Dinge wirken erschreckend. Bevor wir uns aber gänzlich ins Philosophieren verwickeln, solltest du zu Min-Jee gehen. Sie braucht gewiss neue Energie.“

Kwang verstand und beschleunigte seinen Flug. Er raste auf die Erde zu.


Xellox trennte sich von kwang und besuchte einen rötlichen Mond, der seine Bahn um einen smaragdfarbenen Planeten zog. Hier sollte das geheime Treffen stattfinden.

Xellox blickte sich um. Noch war niemand zu sehen. Felsen warfen lange Schatten über den bemoosten Boden. Gelbliche Staubschwaden stiegen am nahen Horizont auf. Bald trat eine Gestalt hinter einem Hügel hervor. Er war es! Xellox gab einige Höflichkeitsfloskeln von sich und sah sein Gegenüber erwartungsvoll an.

„Seien Sie gegrüßt Xellox. Vor Kurzem noch hätte ich nicht gedacht, dass wir uns je treffen würden, aber die Situation ist kritisch, wie Sie ja wissen“, sagte Chrochro.

Xellox sprach: „Gewiss, die Situation ist bedenklich, sie könnte durchaus eskalieren. Momentan würde unser Treffen von unseren Regierungen als Verrat bezeichnet werden.“

„Der Verrat ist schon längst passiert. Wir haben unsere Ideale verkauft. Beide Seiten. Eine Katastrophe steht uns bevor, wenn nicht gehandelt wird. Wir sehen nicht klar genug, was kommt. Unser Blick ins Gewebe der Schicksalsfäden ist trübe geworden. Langsam legt sich ein Schleier über unser gemeinsames Bewusstsein. Vielleicht eine Nebenwirkung des Kontaktes mit der Erde. Mag auch sein, es liegt an unserer Arroganz, in das Schicksal der Menschen einzugreifen zu wollen. Ich war immer dagegen. Nun ist es zu spät.“

„Ich verstehe“, sagte Xellox, „und jetzt tastet ihr wie Blinde unsicher nach dem Weg. Aber auch unser Geist ist getrübt. Wir haben uns in einen Widerspruch verwickelt. Wir greifen in die Angelegenheiten der Erde ein, damit wir euer Eingreifen unterbinden können und die alten Verträge wieder erfüllt werden. Diese besagen, wie Sie ja wissen, dass niemand von außen in das Schicksal der Erde eingreifen darf.“

„Ich habe etwas getan verehrter Xellox. Was es war, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin mit jemand anderen irgendwo gewesen. Dann war ich allein. Nein, nicht ganz. Ich legte jemanden die Hände auf dem Kopf und löschte seine Erinnerungen. Ich entsinne mich schwach daran, warum ich es tat. Es sollte wohl unseren eigenen Einfluss abschwächen, damit Enceladus nicht zu radikalen Mitteln greift und die Situation sich entspannen kann. Soweit ich mich entsinne. Etwas scheint uns zu verwirren. Wir werden langsam allesamt wahnsinnig.“

„Vielleicht haben ja einige von euch in letzter Zeit zu sehr mit Erinnerungsmanipulation herumgespielt, sodass sich Störungen im kollektiven Bewusstsein ausbreiten konnten. Aber sei es drum. Die wesentliche Frage ist: Was können wir tun, um Schlimmeres zu verhindern?“, sagte Xellox und musterte Chrochro erwartungsvoll.

„Wir wollen eure Energiequelle auf der Erde entleeren – Min-Jee.“

Xellox verstand. „Min-Jee ist unser energetischer Kontakt. Es ist taktisch das Beste, was ihr tun könntet. Allerdings wäre da die Frage, wie wir darauf reagieren würden. Unsere subatomaren Raketen stehen bereit.“

„Unsere Flotte befindet sich seit ewigen Zeiten in Stellung, ursprünglich der Abschreckung wegen“, ergänzte Chrochro.

„Eure Flotte ist größer als die unsrige“, gab Xellox zu. „Wenn aber unsere Raketen erst einmal gestartet sind, bringen sie die gesamte Schleifenquantengravitation durcheinander. Alles wird zerfallen, von innen heraus. Die Zukunft wird ein einziges Chaos. Dazu braucht es nicht einmal die Fähigkeit, die Fäden des Schicksals zu deuten. Um Min-Jee auszuschalten, müsstet ihr sie töten oder auf ewig ins Koma versetzen. Min-Jee würde auch vorübergehendd ihre Fähigkeiten verlieren, wenn sie von uns keine Unterstützung mehr bekäme. Es ist ihr eigener Mann, der als Verbindungsglied zwischen unserer Energie und ihrem Körper dient. Er lädt Min-Jee in diesem Moment auf. Ich bin sein Mentor, sozusagen. Man übertrug mir diese Aufgabe. Ich befinde mich somit am Hebel, mit dem man die Energie abstellen könnte. Damit wäre Zeit zu gewinnen. Das Problem ist: Man nennt so etwas Sabotage. Es hätte recht unerfreuliche Konsequenzen für mich.“ Xellox hielt inne. Ihm wurde klar, dass er alles alleine entscheiden musste. Chrochro zeigte Schwierigkeiten, sich an wesentliche Dinge zu erinnern. Mit anderen Worten: Sein Gesprächspartner war unzurechnungsfähig.

Chrochro unterbrach Xellox´ Gedanken. „Das Schlimme ist, dass sich der Schleier über uns legt. Verstehen Sie? Man fühlt sich einsam, obwohl man weiß, dass man es nicht ist. Niemand kann der Illusion entkommen, letztlich, selbst wenn man es glaubt. Sie liegt auf der Lauer. Man durchschaut sie, dennoch bleibt sie real. Es ist wirr, real und nicht real. Das ist doch kein Leben, das ist eine Lüge. Vielleicht erlöst uns ja der Krieg und er wäscht alles rein, quält uns so sehr, dass wir Erlösung finden und der Schleier der Illusion von uns abfällt.“

Xellox fühlte sich in seiner Meinung bestätigt: Chrochro war verrückt geworden! Wahrscheinlich ging es den anderen Europabewohnern ebenso. Der Wahnsinn hatte Wellen geschlagen, Wellen, die sich bis nach Enceladus ausbreiteten, wo die Verblendung ebenfalls die Geister umklammert hielt. Er verspürte den unbändigen Impuls, loszulachen. Alle waren durchgedreht. Er bemerkte, wie seine Gedanken zitterten ­­– in Schwingung versetzte Stahlstangen. Auch in ihm tanzte der Irrsinn, der wie eine Fratze vor ihm auftauchte, ihm die Zunge höhnisch entgegenstreckte und dabei kicherte. Trotz des inneren Aufruhrs, sprach er so ruhig, wie er nur konnte weiter. „Hören sie, er ist jetzt dort, Kwang, ihr Mann, er gibt ihr Energie.“

Chrochro nickte. „Gewiss, er ist die Quelle für sie. Es ist zu spät. Unsere Regierungen werden endgültig durchdrehen. Wobei das Schlimme nicht einmal die Vernichtung ist. Es ist die Tatsache, dass der Krieg gedacht werden kann und befohlen wird. Das Räderwerk ist in Gang gesetzt. Schon vor langer Zeit hat man unser Todesurteil gesprochen. Das macht mir Angst, das Urteil – nicht die Vollstreckung.“