Dienstag, 11. Januar 2022

                                                Teil  12

 

Das Haus machte einen schäbigen Eindruck. Hier hatte dieser andere Philip gewohnt. Matte Farbschichten blätterten im Treppenhaus ab, als wollten sich die Wände häuten. Er blieb vor einer verstaubten Tür stehen. Er klingelte. Wie erwartet öffnete niemand. Das Schloss schien nicht sehr stabil und er überlegte, ob er es knacken könnte. Jemand kam die Treppe heruntergehumpelt. Es war ein älterer Herr, dessen fleckiges T-Shirt sich über den Bauch spannte. Der Geruch von Bier strömte ihm aus den Poren. „Ich habe Ihren Bruder eine Weile nicht mehr gesehen“, krächzte er.

Philip nutzte den Irrtum des Mannes aus und tat so, als sei er wirklich der Bruder des Vermissten. „Ich habe ihn, auch eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Leider scheint er ja nicht da zu sein. Er hat sich ewig nicht mehr gemeldet. Die ganze Familie macht sich Sorgen.“

Sie sehen ihm schon recht ähnlich. Ich habe Sie ja gleich erkannt, ohne Sie zu kennen. Er ist natürlich ein wenig älter und auch nicht so in Form wie Sie“, bemerkte der Nachbar und ging weiter treppab.

Als alles ruhig im Treppenhaus war, zog Philip ein Bündel Dietriche hervor. Nachdem er einige Minuten am Schloss herumgefummelt hatte, sprang die Tür auf und er konnte die Wohnung betreten. Viel fand er nicht vor, es war, als hätte jemand gründlich aufgeräumt, vielleicht sogar, um Spuren zu vernichten. Er untersuchte den verstaubten Schrank. In den Schubfächern befand sich wenig Brauchbares, kein Zettel mit Notizen, keine Papiere, nichts. Nirgends war ein Computer zu sehen, auf dem interessante Daten hätten gefunden werden können. Nichts Persönliches lag herum, kein Foto, kein Brief. Enttäuscht verließ er die Wohnung. Vor dem Haus kam ein Mann auf ihn zu und sprach ihn an. „Ich habe gehört, dass Sie der Bruder sind, von dem im zweiten Stock.“

Hier sprechen sich die Dinge ja schnell rum“, meinte Philip.

Der Mann kräuselte seine Oberlippe. „Tja, ist hier so üblich. Ich möchte Sie ja nicht beunruhigen, aber ich habe so einen Verdacht, was Ihren Bruder betrifft. Ich denke, er kommt nicht wieder. Ich habe ihn gekannt, nicht sehr gut, aber ich habe ihn gekannt. Er war depressiv, wie Sie ja bestimmt wissen. Er hat mir gesagt, dass er geht und dass er nicht mehr wiederkommt. Was immer das auch bedeuten mag. Am besten wir nehmen an, dass er in ein anderes Land gegangen ist. Asien vielleicht. So manch einer hat dort sein Glück gefunden!“

Mag wohl das Beste sein“, stimmte Philip zu.

Der Fremde wischte sich einen Fussel vom Ärmel seines schwarzen Anzuges ab und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, drehte er sich um und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Philip überlegte: Die Wohnung war leer geräumt. Vielleicht wollte der Gesuchte einfach nur vergessen werden. Die dramatischste Version wäre, wenn jemand diesen Philip beseitigt hätte. Im Moment gab´s keine Spuren, nichts Sinnvolles. Seine Klientin musste sich mit der Tatsache abfinden, dass ihr Mann auf und davon war, oder sich sogar von einer Brücke gestürzt hatte. Aber nein, er würde ihr sagen, ihr Mann sei möglicherweise in Asien. Das klang besser. Oder war er sogar einer dieser Staatsfeinde? Der Staat hatte keine andere Wahl in solchen Fällen und musste hart durchgreifen, wenn er die Bürger vor den Aliens schützen wollte. Diese außerirdischen Aggressoren, so hieß es, bekämen immer mehr Sympathisanten. Wenn die Sache einen politischen Hintergrund haben sollte, wäre es gut, sich da herauszuhalten. Er würde bestimmt nicht seine Lizenz aufs Spiel setzen.

Als seine Klientin wieder bei ihm auftauchte, riet er ihr, die Sache auf sich beruhen zu lassen; denn es weise alles darauf hin, dass der Gesuchte untergetaucht sei. Spuren, die verraten könnten, wo er sich befände, habe ihr Bruder scheinbar verwischt. Er wolle offenbar nicht gefunden werden. Philip verschwieg ihr seine Theorien, die mit Selbsttötung und Staatsfeindlichkeit zu tun hatten.

Sie war verzweifelt, sie weinte. „Er braucht mich, hören Sie? Er weiß gar nicht, wie sehr er mich braucht! Er ist zuweilen ein wenig verwirrt, aber hinter seiner Verwirrung steckt etwas Geniales. Außerdem fehlt er mir.“

Philip nickte professionell. „Er hatte kaum Kontakt. Einige Mieter im Haus haben ihn ab und zu mal kurz gesehen. Das ist alles. Immerhin weiß ich in etwa, wie er aussieht: so ähnlich wie ich. Zumindest hat man mir das gesagt. Ich habe dummerweise vergessen, Sie nach einem Foto von ihm zu fragen. Tragen Sie eines bei sich?“

Also ich sehe da nicht viel Ähnlichkeit zwischen Ihnen und ihm. Die Augenpartie vielleicht. Jetzt, wo Sie es sagen. Aber der Mund … nein, doch nicht, der ist schon ziemlich anders“, sagte sie und zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche hervor. Sie tippte auf den Touchscreen. Ein Ausdruck des Entsetzens husche über ihr Gesicht. „Die Fotos, sie sind weg!“

Gewiss haben Sie noch welche auf ihrem PC oder im Internet“, merkte Philip an, um sie zu beruhigen.

Den PC hat er ja mitgenommen, als er ausgezogen ist. Ich mag keine Computer. Ich hasse auch die sozialen Medien. Alle Fotos, die ich von ihm hatte, waren hier gespeichert. Nun ist alles fort. Die ganze Vergangenheit wurde gelöscht!“

Ich habe keinen PC in seiner Wohnung gesehen“, stellte Philip sachlich fest. „Vielleicht ist das ein Zeichen, das mit den Bildern. Sie sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Machen Sie besser einen Schnitt, fangen Sie ein neues Leben an.“

Tränen liefen ihr über die Wangen. „Helfen Sie mir; Sie dürfen nicht aufgeben!“, beschwor sie ihn.

Philip blickte sie nachdenklich an. „Es gibt da eine Möglichkeit, eine Quelle, die ich anzapfen könnte. Es ist ein korrupter Polizist – verkauft Informationen aus dem Polizeicomputer.“

Ich zahle alles“, sagte sie erleichtert und wischte sich die Tränen ab.


Am Nachmittag nahm Philip Kontakt zu seiner Quelle auf. Der Informant meldete sich eine Stunde später. Er hatte etwas gefunden. Die offiziellen Akten seien geschlossen worden und man habe sie gelöscht. Eine Anweisung von höherer Stelle. Wohl etwas Politisches. Auch Drogen spielten eine Rolle, plauderte der Informant aus. So stehe es zumindest in einer Notiz, die sich ein Beamter zu dem Fall gemacht habe. Solche inoffiziellen Gedächtnisstützen seien zumeist aufschlussreich. Auch habe er einen Eintrag über eine Wissenschaftlerin gesehen – wohl die Schwester von diesem Philip. Ihr Name laute Alice, sie gelte als vermisst. Am Rand habe jemand notiert: Fall geschlossen? Dickes Fragezeichen.

Philip wollte wissen, wer das notiert hatte.

Hören sie“, sagte der Informant, „meine Dienste sind begrenzt. Der Name würde Ihnen auch nichts nutzen.“

Meine Klientin wäre bereit, eine entsprechende Summe aufzutreiben“, versprach Philip.

Na gut. Löschen sie meine Telefonnummer. Was auch geschieht: Sie haben nie mit mir gesprochen! Es war Kommissar Hans Lehmann, der diese Notizen gemacht hat!“

Danke, Sie werden Ihr Geld bekommen, wie immer in Bitcoins eingezahlt“, versprach Philip und beendete das Gespräch. Er rief daraufhin seine Klientin an. „Er hat wohl doch eine Schwester, es gibt sie wirklich. Es scheint, sie ist verschwunden. Zumindest hat sie jemand als vermisst gemeldet. Sie soll eine Wissenschaftlerin sein.“

Er hat nur ihren Namen erwähnt, sonst nichts. Er hat wenig über seine Familie geredet. Ich habe nie weiter nachgebohrt.“

Meine Quelle ist nicht billig.“

Schon in Ordnung. Ich werde das Geld zusammenkratzen. Tun Sie, was getan werden muss!“

Philip schwieg einen Moment, kratzte sich am Kopf und fuhr fort: „Wenn wir jetzt weiter forschen, könnte der Fall für uns gefährlich werden. Ich halte es immer noch für das Beste, alles auf sich beruhen zu lassen. Mache ich jetzt weiter, werde ich eventuell in ein Wespennest herumstochern. Der Fall seiner Schwester wurde zu den Akten gelegt. Die Akten hat man gelöscht. Das geschah auf Befehl einer Stelle, die über der Polizei steht. Kann sein, der Geheimdienst steckt mit drin. Eventuell waren Ihr Mann und seine Schwester Terroristen!“

Machen sie weiter“, flehte Karen, „jetzt, wo Sie eine neue Spur haben. Sie sind meine letzte Hoffnung. Sie sind der Beste, ich habe es gleich gewusst!“

Gut, ich werde weitermachen“, versprach Philip, legte das Telefon aus der Hand und flüsterte: „Das Schicksal sei uns gnädig.“


Kommissar Lehmanns Frau öffnete die Tür. „Hier ist Besuch für dich!“

Hans Lehmann kam aus dem Wohnzimmer. „Gottverdammt!“, rief er erschrocken aus. „Schatz, lass uns doch bitte kurz allein. Ist dienstlich.“

Seine Frau nickte und zog sich zurück. "Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sie gefährden meine Familie. Ich sagte Ihnen doch: Tauchen Sie unter", zische Lehmann.

Tut mir leid, aber ich habe Sie noch nie zuvor gesehen“, beteuerte Philip.

"Wie immer Sie meinen. Wenn Sie aus der Haustür herauskommen, gehen Sie rechts die Straße entlang. Hinter der nächsten Ecke finden Sie ein Café – Café Maximus heißt es. Warten Sie dort auf mich. Und geben Sie nur acht, dass Sie niemand hier im Haus sieht. Ist Ihre Freundin auch hier?"

Äh, welche Freundin?“

Na die Sie immer verfolgt. Ich habe mich geirrt: Sie können ihr vertrauen.“

Mich verfolgt niemand. Aber vielleicht reden Sie von meiner Klientin, Frau Karen Durga.“

Hans Lehmann nickte. „Das hört sich nach ihr an. Telefonieren Sie mit ihr. Sie soll auch in das Café kommen. Sagen Sie ihr, es sei wichtig!“

Philip nickte. „In Ordnung! Ich bin gekommen, weil ihr Mann verschwunden ist. Hoffentlich können Sie mir weiterhelfen.“

Nachdem Philip gegangen war, atmete Hans Lehmann tief durch, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und ging zum Telefon. „Hallo!“, rief er aufgeregt in den Apparat, „hallo Alice, er war gerade hier, ja, bei mir. Etwas scheint nicht mit ihm zu stimmen. Er tat so, als hätte er mich noch nie gesehen. Er wartet in Café Maximus in der Hauptstraße. Ja, es ist gut, wenn du kommst.“

Er rief seiner Frau zu: „Ich muss dringend weg Schatz. Kann länger dauern!“


Das Café Maximus war fast leer. In der der hinteren Ecken hatte Philip an einen Tisch Platz genommen. Hans Lehmann lief auf ihn zu und setzte sich zu ihm.

Hören Sie“, sagte Philip, „ich kenne Sie persönlich gar nicht. Ich denke, Sie verwechseln mich mit dem Mann meiner Klientin. Er soll mir ähnlich sehen.“

Unsinn, Sie sind es!“

Was, ich soll ihr Mann sein?“

Nicht, dass ich wüsste. Sie sind aber der Mann, den ich kenne.“

Ich weiß nicht, wovon Sie reden, ich bin zu Ihnen gekommen, da Sie eventuell etwas über eine gewisse Alice wissen. Sie ist die Schwester des Mannes meiner Klientin.“

Da ist sie!“, rief Lehmann.

Alice kam auf den Tisch zugestürmt, an dem sie saßen. Sie umarmte Philip so fest, dass ihm die Luft wegblieb.

Es tut mir leid, aber Sie verwechseln mich offenbar. Ich bin nicht der, den Sie glauben, vor sich zu haben!“

Ich bin Alice, glaube mir, ich würde dich immer erkennen“, sagte sie.

In diesem Moment sprang die Tür zum Café auf und Karen kam herein. Sie entdeckte sogleich Philip und lief außer Puste zu seinem Tisch.

Was ist so wichtig? Warum haben Sie mich angerufen? Können diese Leute uns weiterhelfen, wissen sie, wo mein Mann abgeblieben ist?“

Setz dich, Karen“, bat Alice, dann wandte sie sich an Kommissar Lehmann. „Es ist etwas passiert, was gar nicht gut ist: Man hat das Gedächtnis der beiden manipuliert. Ebenso, wie man meines manipuliert hatte. Ich rede von der zweiten, der ungewollten Manipulation. Der erste Eingriff war geplant. Wir nennen es das Pseudogedächtnis. Es besteht aus künstlichen Erinnerungen, sollen helfen, sich in eine fremde Umgebung einzuleben. Man weiß aber gleichzeitig immer, dass diese Erinnerungen nicht die eigenen sind. Es hilft uns, die Rolle zu spielen, die wir benötigen, um unter Menschen zu leben. Wir haben somit einen menschlichen Charakter, eine Vorgeschichte und hilfreiche Erfahrungen, kurz: Eine Art von innerem Drehbuch, das uns aber auch genügend Raum zum Improvisieren lässt. Ein relativ harmloser Eingriff in den Geist. Es ist so, als käme man aus dem Kino und stünde noch unter dem Eindruck eines Films.“

Was soll das?“, fragte Karen und schaute Philip entgeistert an. „Ist diese Frau verrückt?“

Bei dir Karen“, fuhr Alice fort, „war es anders. Du bist ein Mensch, eine Infizierte. Du hast das Geschenk, die Fähigkeit erhalten. Die Infektion hat die Einheit offenbart. Mit Philip und mir verhält es sich aber anders. Was für dich wie eine Offenbarung schien, ist für uns unsere Natur.“

Philip schüttelte verständnislos den Kopf. „Soll das jetzt heißen, ich bin kein Mensch oder was?“

Alice erläuterte weiter: „Eigentlich sollte man langsam vorgehen in einem solchen Fall. Ich muss aber schnell zur Sache kommen, um eure Erinnerungen zu aktivieren. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir sind im Krieg, wir haben einen Feind. Wir brauchen dich jetzt Philip!“

Moment, also der Reihe nach. Ihr seid angeblich außerirdisch. Ist das so?“

Nein Philip, der Herr Kommissar hier ist menschlich, ebenso wie Karen. Sie wurden infiziert. Das Alien bist du! Wir beide sind Außerirdische.“

Philip schüttelte ungläubig den Kopf und fragte höhnisch: „Und der Feind sind wohl die Menschen, die noch nicht infiziert wurden, nehme ich an!“

Alice verneinte. Die Menschen seien keine Bedrohung, die Gefahr komme vom Mond Europa.

Moment, es wird immer wirrer. Laut dieser Story, die wir hier aufgetischt bekommen, sind wir die Aliens. Wir müssten also vom Eismond Europa stammen. Unsere Feinde kommen auch von Europa. Habe ich das jetzt richtig verstanden?“

Du reagierst momentan wie ein Mensch, deshalb ist die Kommunikation mit dir nicht einfach. Du willst alle Ereignisse wie Perlen auf eine Kette ziehen. Das Universum aber ist keine Perlenschnur, sondern es gleicht mehr einem Netz, das sich ständig verzweigt. Wir kommen von Europa, lebten aber kurzfristig noch in der Erdkolonie. Sie befindet sich in der Tiefsee. Aber zurück zum Gedächtnis“, sagte Alice und zeigte dann auf Karen. „Ihr Gedächtnis ist leicht zu reparieren und es werden keine Schäden zurückbleiben. Sie hatte zuvor auch kein Pseudogedächtnis erhalten.“

Wenn das alles stimmen sollte, dann könnte man es ja bei ihr gleich reparieren“, sagte Philip und sah Alice herausfordernd an.

Wir werden jetzt woanders hingehen. Es wird eine Stunde dauern, bis ihr Geist das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Die Infizierung wird dann wieder wirken und dabei helfen, alles zu integrieren.“ Alice wandte sich an Karen. „Du musst verstehen, dass es ein kleiner Schock sein wird. Ein wenig wie Sterben. Du wirst verteidigen wollen, was du jetzt glaubst zu sein. Aber es ist nicht wahr, das bist nicht du. Kommt mit, wir sollten aufbrechen!“

Ja wohin denn nur?“

Bis zum nächsten Treppenhaus Karen. Du kannst wieder nach Hause“, sagte Alice zu Kommissar Lehmann gewandt, „aber warte, ich habe noch etwas für dich. Ich sehe, du leidest an Krebs, Streukrebs. Wir können die Schicksalslinien nicht beliebig ändern. Manches Mal aber sind wir, die es scheinbar können, Teil des Schicksals, das einen unvorhersehbaren Haken schlägt. Eines Tages wirst du sterben, aber der Tag wird nicht so bald sein. Deine eigene Kraft ist noch nicht so stark, um das zu tun, was ich tun kann. Heute werde ich dein Engel sein, morgen wirst du der Engel von jemand anderen sein; dann wirst du sehen, dass das Universum nichts anderes als Liebe ist.“ Alice öffnete die Hände und pustete, als wolle sie etwas wegblasen, was darinnen lag. Ein kleiner Lichtstern flog zu Hans Lehmann und Zerplatzte über seinem Kopf. Tausend Funken prasselten auf ihn herab. „Deine Aufgabe ist noch nicht zu Ende, wir brauchen dich, die Menschen brauchen dich. Ich weiß, du wirst deine Fähigkeiten zum Besten nutzen, zur Befreiung der Erde.“ Alice erhob sich. „Es ist Zeit zu gehen.“

Philip schaute sie an, neugierig und zweifelnd. Sie folgten ihr, als sie das Café verließ. Hans Lehmann blieb schweigend zurück.

Gleich neben dem Café Maximus hielten sie vor einem Wohnhaus. Alice klingelte irgendwo und die Haustür öffnete sich. Sie traten ein. Verwirrt blickte Philip sich um. Eine Berglandschaft lag vor ihnen. Sie standen auf einer Almwiese.

Hier sind wir ungestört. Da hinten ist eine Hütte. Kommt mit“, sagte Alice. „Ach so, was da soeben passiert ist, das nennen wir Rippen. Ich habe einen Tunnel gebaut.“

Das ist Zauberei, oder ich träume jetzt nur. Sie ist wohl tatsächlich eine Außerirdische“, meinte Karen.

Sie ist gefährlich“, warnte Philip.

Alice griff sich ans Herz und atmete tief ein und aus. Frieden lag über allem. Ein Strom von Vertrauen durchdrang ihn. So gingen sie zu der kleinen Almhütte und traten ein. An der Wand hing ein Hirschgeweih. Der Boden knarrte unter den Schritten. Es roch nach Fichtenholz und Bergwiese.

Liebe Karen, liebe Freundin“, sagte Alice, wobei ein Licht aus ihrer Brust strahlte. Karens Atemzüge beschleunigten sich, bald weinte sie und bald lachte sie, bis abermals Tränen aus ihren Augen flossen. „Im Nebenzimmer steht ein Bett, dort kannst du dich hinlegen“, bot Alice an und begleitete Karen dorthin.

Philip sah, wie Karen die Augen schloss und sich hin und her wälzte, bis sie in einen scheinbar tiefen Schlaf fiel.

Was ist mit ihr passiert?“, fragte er.

Alice sagte: „Sie ist den Prozess des doppelten Erinnerns durchgegangen. Sie erlangte ihr Gedächtnis zurück und spürte erneut die Macht der Infektion, der Urerinnerung, die ihr offenbart wurde. Nach einem kurzen Todeskampf fiel die falsche Persönlichkeit ab. Sie hat sie als das erkannt, was sie war: ein Traum. Ihre Ehe, ihre Kindheit, ihr ganzes Leben, das weiß sie nun, war nicht mehr gewesen als Einbildung. Unter der Schlacke der Illusion hat sie eine andere Erinnerung gefunden, eine andere Kindheit, das Leben, das wirklich ihres war. Und wieder fühlte es für sie an wie Sterben, schmerzhaft und süß. Nach einer Stunde wusste sie alles: Woher sie gekommen war, wohin sie gehen würde. Sie konnte wieder SEHEN! Sie lebt nicht mehr in der Illusion, getrennt zu sein vom großen Fluss, vom Wasser des Lebens, vom Zentrum der Welt, diesem Herzen aus Licht.“

Als Karen sich erhob, sagte sie: „Die Irrtümer sind verschwunden, ich weiß, was wahr ist!“

Alice lächelte. „Schön, dass deine Augen offen sind.“

Die Regierung hatte recht: Es gibt Aliens auf der Erde“, sagte Karen zu Philip, der immer noch grübelte, was hier vor sich gehen mochte.

Alice erklärte: „Ja, es gibt nicht nur Aliens, es existiert auch ein böses Wesen, dieses ist körperlos. Es hat sich im Geist der Menschen festgefressen. Es zeigt sich als menschliche Ignoranz. Es hat allen die Unschuld geraubt, hat die Gedanken der Menschen verdreht. Je höher die Menschheit glaubte zu steigen, umso tiefer ist sie gefallen. Man hat begonnen, sich gegenseitig abzuschlachten, und die größten Schlächter als Helden zu feiern. Man gründete Religionen und glaubte an Ideologien. So baute man eine Mauer zwischen sich und der Wahrheit. Die Menschen verteidigten ihren Glauben mit dem Schwert, kämpften für ihre Freiheit, die nichts anderes als Gefangenschaft ist. Sie klammern sich leidend an ein Leben, das sich nicht vom Tod unterscheidet. Sie haben sich vom Herzen des Universums abgewendet. Aber es hilft ja nicht, man kann es nicht übersehen, das Feuer der Wahrheit brennt in ihnen. Ja, die Wahrheit macht Angst, sie zerstört jede Illusion. Als das Leiden groß genug war, haben wir eingegriffen.“

Philip sah Alice eine Weile schweigend an, dann sagte er: „Und nun kommt der Satz: Irgendetwas ist schiefgelaufen?“

Sagen wir mal: Etwas ist quer gelaufen. Manches Mal kreuzen sich zwei Schicksalslinien. Unser Gegner bewegt sich auf einer anderen Linie.“

Du musst dich erinnern!“, beschwor Karen Philip.

Alice sprach: „Einer kann das Unheil abwenden. Das bist du Philip. Dazu müsstest du dich allerdings erinnern. Es ist gefährlich, denn deine Erinnerungen wurden zu oft verändert. Wir müssten viel Zeit haben. Aber die Zeit ist knapp. Die ersten eingepflanzten Erinnerungen sind harmlos, sie sollten nur die Anpassung an die Erdengesellschaft begünstigen. Sie wurden als künstliche Erinnerungen durchschaut. Als ein Angriff auf deinen Geist stattfand, ist dein Bewusstsein vollkommen mit diesen Pseudoerinnerungen verschmolzen, sodass sie für dich zur Wirklichkeit geworden sind. Sie überlagerten deine wahre Identität. Später erfolgte ein weiterer Angriff auf dein Gedächtnis. Als du dich zu verändern begannst, hat Karen dich infiziert, in der Hoffnung, sie könne dich damit heilen. Und ja, das kann durchaus funktionieren, um die Selbstheilung in Gang zu setzen. Eine Infektion ist nichts anderes als eine Erinnerung daran, was das eigene Wesen im Grunde genommen ist. Sie konnte dir nie die ganze Wahrheit erzählen, das hätte zu einem Schock geführt. Deshalb hat sie nur vorsichtige Andeutungen machen können, um deinem Gedächtnis auf die Spur zu helfen. Na ja, dann wurde auch sie ausgeschaltet. Zweimal warst du bis jetzt in der Enge gefangen, jeweils in einem eingebildeten Ich. In Wahrheit war da nichts, nur eine Vorstellung, ein Glaube. Dein ursprüngliches Sein und deine echten Erinnerungen wieder freizulegen, ist ein riskanter Eingriff. Man hat dir die schlimmste Verletzung zugefügt, die man sich denken kann: Du lebst subjektiv gesehen in einer Isolationshaft innerhalb einer falschen Persönlichkeit. Du gaukelst dir ein Universum ohne Türen vor, in dem es vor Wänden nur so wimmelt. Wir haben keine Wahl, du musst dich erinnern. Das ist deine Schicksalslinie.“ Sie berührte seine Stirn mit ihren Lippen und sagte dann: „So mag geschehen, was zu geschehen hat.“

Auf Philips Stirn flimmerte ein winziges Licht. Es drang in seinen Kopf ein und lockte ein anderes Licht an, das in der Tiefe ruhte. Das eine Licht glühte warm und angenehm; das andere aber war grausam. Das eine Licht hieß Leben; das andere nannte man den Tod. Bald erloschen die zwei Lichter und es blieb nichts als Finsternis. Und doch war darin ein Tunnel zu erkennen, wie ein Loch in der Erde, das in einen Abgrund von Schwärze hinabführte. Ich bin Philip, dachte es in ihm, und ich muss jetzt sterben. Er fiel tief, sehr tief. Von unten flammte ihm Licht entgegen, und er wusste nicht, ob es das kalte Flimmern des Todes, oder die warme Flamme des Lebens war. Als er mit dem Licht zusammenstieß, wurde es dunkel und still, wie noch nie eine Stille still war. Eine sternlose Nacht lag wie ein flaumiges Tuch über allem. Funken flogen auf, sie malten Bilder auf eine unendliche Leinwand. Zuerst erschienen einfache abstrakte Formen, Kreise, Rechtecke, Linien, dann wurde alles komplexer, füllte sich mit Leben, bewegte sich. Es hüpfte, sprang, schwamm, pulsierte, bis sich eine Welt voller Eindrücke offenbarte. Anfangs wirkten die Bilder und Empfindungen schemenhaft; bald aber wurde alles deutlicher, bis er klar erkannte, was vor ihm lag: Seine eigene Kindheit, er sah das Leben auf Europa, auf der fernen Heimat unterhalb der Eisschicht. Er entdeckte seine Eltern und andere leuchtende Wesen, schwerelos glitten sie durch das Wasser. Er nahm sich selbst wahr inmitten einer Schar von Kindern. Sie berührten sich an den Flossen und spielten damit, immer neue Gefühle und Gedanken im Kreis herumwandern zu lassen. Er erinnerte sich daran, wie er staunte, als er zum ersten Mal eine Gruppe Arbeitsroboter auf dem Meeresboden entlangmarschieren sah. Jeder von ihnen lief auf acht Beinen und verfügte über zwei beeindruckende Greifarme. Eines Tages, das versprach er sich, würde er auch so ein Ding bauen.

Vielleicht wirst du ja Ingenieur, oder du verfügst über eine andere Begabung. Unsere Herzen sind groß, wir nehmen immer das mit Begeisterung auf, was die Linie des Schicksals bringt“, sagte sein Vater.

In diesem Augenblick hatte Philip begriffen, wie das Leben funktionierte. Die Eltern lehrten ihm, die Welt mit dem Herzen zu sehen und wie man kraftvoll rippt. Das waren wesentliche Fertigkeiten, besonders wenn man einem Blug begegnete. Der erste Blug, der ihm über den Weg schwamm, sah scheußlich aus. Es war ein fettes Tier, das gierig sein Maul aufriss und seine acht Zahnreihen zeigte. Seinerzeit war ein Gedicht sehr beliebt:


Der Blug hat scharfe Zähne,
Die bringen viel an Leid.
Mehr noch an Schmerzen fasst die Schale,
Die Schale, die ich bin;
Während ich trage
Mein zerrissenes Kind
Auf der Leichenbahre
Meiner Erinnerung!


Er füllte keine Schale mit Schmerzen; denn er konnte gut genug rippen, um den Blug umzulenken. Das Tier spreizte seine fünf Flossen und zog ab, ohne zurückzuschauen. Auch erinnerte er sich an die großen Städte, hell flimmernd trieben sie durch das Wasser. Er sah seine Schwester Alal vor sich, dieses kleine leuchtende Wesen. Sie tanzte verspielt, schaute bewundernd zu ihm auf und sagte ihm, dass er immer bei ihr bleiben müsse und sie nie verlassen dürfe. Er versprach es und wechselte dabei zur Unterstreichung seiner Absicht die Hautfarbe. Auch legte er ihr liebevoll einen seiner Handarme und einen Flossenarm auf den Kopf, wobei sie zufrieden Wasser aus dem Mund blies.

Er dachte an die Schule, an all die klugen Lehrer, daran, wie sie kleine Lichtschimmer aus ihren Herzen aussandten, die sanft in die Kinder hineinstrahlten. So wurde Wissen vermittelt. Die neue Information breitete sich langsam in einem aus und verknüpfte sich als kunstvolles Geflecht mit dem Wissen, über das man schon verfügte.

 

Sonntag, 2. Januar 2022

 TEIL 11

Hans Lehmann, Polizeikommissar in privater und geheimer Mission, dachte nach. Sein Ziel hieß Alice. Wäre es möglich, fragte er sich, jemanden aufzuspüren, indem man einfach seinen eigenen Instinkten folgte? Eigentlich nicht! Aber hatte er nicht schon Erstaunliches gesehen? Diese seltsame Frau – sie hatte ihm gezeigt, wie ein älterer Herr seine jungen und kräftigen Verfolger abschütteln konnte, indem er scheinbar Unmögliches vollbrachte. Entweder war da etwas Wunderbares geschehen, oder ein Wunder wurde um seinetwillen inszeniert. Dann allerdings war die Frage: wozu dieser Aufwand?

„Ich muss fort“, sagte er zu seiner Frau, „dienstlich.“ Und bald, so dachte er, würde er für immer gehen, in das Reich ewiger Abwesenheit, ins Land des Todes. Langsam wurde sein Leben zu einem einzigen Abschied. Alles floss dahin, verlor seine Form, zerbrach. Nichts hatte Bestand. Das Dasein war ein immerwährendes Sterben; war es schon immer gewesen, nur jetzt wurde ihm das erst bewusst, wo er seinem Ende gegenüberstand. Er schaute seine Frau an. Sie erschien ihm als Kind, als junges Weib, als Mutter, als alle Frauen der Welt, er sah innerlich ihre Geburt und ihr Sterben. Und er erkannte ein um ihren Mund tanzendes Lächeln, das wie Sternenfeuer glühte und nie vergehen würde. Es war dieses ewige Lächeln, das Lächeln der Engel. Man musste richtig hinschauen, musste die Augen dazu bringen, ihre Blicke tiefer ins Fleisch der Welt zu bohren, dann konnte man sehen, wahrlich sehen. Mit diesem Lächeln des Wissens und der Leichtigkeit kamen alle Menschen zur Welt, dann aber zog es sich nach und nach zurück, verkroch sich nach innen, lag begraben unter einem Berg von Meinungen, Ängsten und zerbrochener Hoffnung, bis es nur noch selten aufleuchtete. Jedoch es war nicht fort, schwelte beständig unter der Oberfläche. Er wollte seiner Frau etwas sagen, ihm fehlten aber die Worte. Er zog sich eine dünne Jacke über und verließ Haus.


Er stieg in sein Auto, fuhr los, obwohl er nicht das Recht besaß, zu ermitteln. Es kam ihm vor, als steuere nicht er den Wagen, sondern als lenke eine seltsame Kraft alles – den Wagen, ihn, die ganze Welt. Er fuhr so entschlossen, als hätte er ein Ziel vor Augen. In der Nähe des Strandes hinter der Stadt hielt er an, stieg aus und sah sich um. Sein Blick fiel auf ein Haus. Ein quadratisches Betonungeheuer, das wie ein riesiger Bauklotz in der Landschaft stand. Hier war es! Er wusste nicht, warum dieser Gedanke so klar in ihm auftauchte, aber er vertraute ihm. Vor dem Haus machte Hans Lehmann halt. Die Tür sah stabil aus, sie war mit Metall verstärkt. Eine Klingel existierte, aber kein Namensschild. Sein Blick wanderte nach oben: Dort hing eine Kamera. Bald, nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, sprang die Tür auf. Unvermittelt sah er sich drei Männern gegenüber. Sie zielten mit Pistolen auf ihn.

Er sagte gefasst: „Es würde auffallen, wenn Sie einen Polizisten erschießen, der seinen Ermittlungen nachgeht. Meine Kollegen wissen, wo ich bin.“

„Schön die Hände über den Kopf und nicht bewegen!“, befahl einer der Männer. Ein anderer tastete ihn ab. Er fand einen Dienstausweis, aber keine Waffe. Die Männer steckten ihre Pistolen weg. Sie führten sie ihn in einen Raum, in dem er kurz warten sollte. Es war ein karg eingerichtetes Büro. Er ließ sich in einen der billigen Sessel fallen, die dort herumstanden. Keine Spur von Angst war ihn ihm, er wusste, dass er das Richtige tat.

Nach einigen Minuten stampfte ein riesiger Kerl ins Zimmer. An seinem Handgelenk trug er eine wahrscheinlich teure Uhr, die derart protzig wirkte, dass sie billig erschien. „Wir gingen davon aus, dass es in diesem Fall keine Ermittlungen mehr gibt. Sie wissen ja, von welchem Fall ich rede. Hätten Sie sich angemeldet, so wäre die Begrüßung gewiss weniger dramatisch ausgefallen. Wir sind keine Gauner, wir sind eine staatliche Behörde.“

Lehmann nickte. „Natürlich, es geht ja auch nur darum, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

„Nach meinen Informationen bekam die Polizei von der Staatsanwaltschaft die Anweisung, den Fall nicht weiter zu verfolgen. Es waren uns einige Fehler unterlaufen, als wir diese Wissenschaftlerin zu ihrem eigenem Schutz ...“

„Und die anderen auch?“

„Sehen Sie“, führ der große Mann fort und sah ihn dabei bedeutungsvoll an, „Sie wissen auch schon davon. Das alles sollte vermieden werden. Aber wir sind daran nicht unschuldig. Wir hätten uns etwas anderes überlegen sollen. Nun aber müssen wir den Weg, den wir eingeschlagen haben, mit aller Konsequenz weitergehen. “

Es klopfte an der Tür. Ein unscheinbarer Mann betrat den Raum und übergab stumm einen Zettel. Der Große bedankte sich förmlich. Der Bote machte sich rasch wieder davon. Mit zusammengekniffenen Lippen besah sich der arrogante Riese den Zettel. „Grade habe ich eine Nachricht bekommen. Sie besagt, dass erstens der Fall definitiv nicht mehr im Aufgabenbereich der Polizei liegt, zweitens, dass Ihre Kollegen nicht wissen, wo Sie sich momentan aufhalten. Wenn Sie nicht dienstlich hier sind, stellt sich die Frage: Was wollen Sie wirklich?“

Lehmann lächelte, als hätte er einen raffinierten Witz verstanden. „Sehen Sie, es war mein Fall. Ich erfuhr kürzlich, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Ich nahm mir daraufhin vor, meinen letzten Fall abzuschließen. Ohne offiziellen Auftrag. Eine dumme Idee, werden Sie sagen. Aber so nahe am Ende betrachtet man alles von einem anderen Standpunkt. Nun, ich bekam heraus, dass nicht nur die eine Wissenschaftlerin verschwunden war, sondern auch weitere Leute, die an diesem Projekt gearbeitet haben. Sie wissen, es ging um dieses Ding vom Jupitermond Europa. Dann traf ich auch noch den Bruder der Vermissten. Ich weiß, er wird beobachtet und verfolgt.“

„Natürlich“, sagte der große Mann, dessen eingeübtes Lächeln sich verflüchtigt hatte, „er musste ja herumschnüffeln, genau wie Sie. Außerdem steht er in Beziehung zu einer verdächtigen Person.“

Kommissar Lehmann nickte. „Ich weiß, so eine Frau.“

„Sie scheinen ja recht viel zu wissen. Und das ist mehr, als Sie wissen sollten. Es geht hier um die Sicherheit der Zivilisation. Es geht hier um all das, was Menschen je geschaffen haben. Es geht um uns. Außerirdische bedrohen die Erde. Wir stehen der größten Gefahr gegenüber, die uns als Menschheit bedroht hat!“

„Es gibt Stimmen, die meinen, den Regierungen Europas ginge es darum, mit einem solchen Feindbild die Bürger besser unter Kontrolle zu halten.“

„Sie glauben wohl, sie sind besonders schlau, Herr Kommissar, aber von welchen Bürgern reden Sie überhaupt? Sie reden von Bürgern, die schon unter dem Einfluss der Aliens stehen. Sie reden von verwirrten, fanatischen Kreaturen, bereit, sich und ihre eigene Art ans Messer zu liefern. Die Außerirdischen sind nicht blöde, sie greifen uns nicht mit Waffen an, sie zerstören uns von innen her. Sie verändern die Menschen, mit denen sie in Kontakt treten, machen sie zu Monstern. Sie schüren Unzufriedenheit. Es kommt zu Aufständen. Überall lauern ihre Agenten, ihre menschlichen Lakaien. Sie statten sie mit Macht aus, sie überfluten ihre Gehirne mit Ideologie, bis sie innerlich selbst zu so etwas wie Aliens werden, denen menschliche Werte nichts mehr bedeuten. Wenn wir sie nicht stoppen – dann Welt ade! Ich will mit keiner Alien-Gehirnwäsche leben. Lieber wäre ich tot! Ich will nicht auf das verzichten, was mich als Mensch ausmacht, auf all das, was ich mir mühevoll erarbeitet habe, auf meinen Erfolg, meinen Status und auf den Wunsch, meinem Land zu dienen, Europa zu dienen. Ich kämpfe für meine Ideale, – wenn es sein muss mit allen Mitteln!“

„Und was, wenn diese Aliens uns gar nicht unterdrücken wollen, sondern befreien?“

Der große Mann lachte bitter. „Befreien? Wovon denn? Von uns selbst?“

„Warum nicht? Schauen Sie sich unsere Geschichte an: Eine blutige Spur zieht sich durch die Jahrtausende. Übrigens: Ich habe einen Ihrer Agenten erschossen – Notwehr! Das mit dem anderen Agenten war ein Unfall.“

Der große Mann drückte den Alarmknopf. In diesem Moment öffnete sich ein Tunnel, er verschluckte die ganze Welt und spie sie wieder aus. Danach war nichts mehr wie zuvor. Hans Lehmann hatte seinen Standpunkt verloren. Es gab keine Ursachen mehr und keine Reaktionen. Alles geschah einfach nur. Die Zeit war aus den Dingen herausgeflossen und vor ihm bildeten sich wechselnde Muster, die sich in vier Dimensionen ausbreiteten. Diese Muster hingen wie ein Spinnennetz im Raum, und wenn ein Teil dieses Netzes sich regte, erzitterte das ganze Gebilde. Lehmann sah das, was noch geschehen würde, bereits jetzt. Die Zeit war für ihn zu einem Zimmer geworden, in dem alle Uhren stillstanden, das er betreten konnte, um sich darin umzusehen. Die Gedanken und Handlungen von jemand anderen erschienen in seiner Wahrnehmung so, als wären es seine eigenen. Er wusste: Das nannte man SEHEN. Bewaffnete Männer stürmten durch die Tür. Er sprang automatisch zum für ihn günstigsten Punkt des Raumes.

„Ergeben Sie sich!“, brüllte jemand.

„Sie sollten sich ergeben!“, rief Lehmann den Männern zu; aber er wusste, das würden sie nicht tun. Sie funktionierten wie Maschinen. Das Schicksal lief wie ein Uhrwerk ab. Jeder befand sich in einem Film, den man Realität nannte. Er sah durch diesen Film hindurch, der wie eine transparente Schicht über ein pulsierendes Meer von Energie lag. Dieses Meer war ein geheimnisvoller Ort: Es brodelte, es zischte, Wellen aus Feuer loderten aufwärts und ein Sturm fegte über alles hinweg, ein Sturm wie ein Schrei, herausgedonnert aus Milliarden Kehlen. Das war der Platzt, erkannte er, wo das seinen Ursprung hatte, was sie – wer immer sie sein mochten – das Rippen nannten. Betrachtete man die kochende Energie dieses Meeres genau, so war zu erkennen, dass sie aus lauter schmalen Linien bestand. Es waren die Linien der Welt. Alle Dinge kamen daraus hervor. Mit dieser gestaltenden Kraft fühlte er sich innig verbunden. Er sah, wie die Männer, die vor ihm standen, auf ihn zielten, gleichsam spürte er eine unbekannte Gewalt in sich. Eine Hand wuchs aus ihm heraus und griff tief ins Gewebe der Welt hinein. Die Männer im Raum blickten sich verwirrt. Sie versuchten vergeblich, mit ihren Pistolen ein Ziel zu fixieren. Hans Lehmann lief unbehelligt zwischen ihnen hindurch, bis hin zum Flur..

Er rannte geradeaus. Vor seinem inneren Auge erschienen sämtliche Räume des Gebäudes. Er wusste sofort, wo er finden würde, was er suchte. In einem der Zimmer erkannten seine neuen Sinne mehrere Lichter, diese Lichter waren die Energien Menschen. Eines von ihnen strahlte heller als die anderen. Das war Alice. Sie würde in wenigen Minuten wieder richtig SEHEN können und rippen, so wie er. Rasch rippte er eine verschlossene Tür auf, durchquerte einen dahinterliegenden Raum, dann noch einen weiteren. Hier bemerkte ihn ein Wächter. Lehmann wusste, der Mann könnte ihn nicht mit seiner Waffe treffen, wenn er jetzt kurz nach links ausweichen würde. Er sprang. Es knallte eine, Patrone schlug neben ihm ins Gemäuer ein. Staub flog aus der Wand. Wütend rannte der Wächter ihm hinterher, stolperte und fiel der Länge nach hin. Jetzt musste nur noch eine Tür geöffnet werden. Kommissar Lehmann lächelte, während er den kalten Lauf einer Pistole an der Schläfe spürte. Einer der Wächter hatte ihn erwischt. „Jetzt hier rein, Bursche!“, triumphierte dieser und schloss eine Tür auf, um Hans Lehmann einzusperren. Da waren sie alle: die vermissten Wissenschaftler und mitten unter ihnen sie, Alice. Er erkannte, dass sie noch einen kleinen, einen letzten Impuls benötigte, und sie wäre wieder das, was sie immer gewesen war. Etwas öffnete sich in seinem Herzen, ein Punkt aus Licht flog – unsichtbar für die anderen – in Alice hinein. Einen Augenblick erstarrte sie, dann sah sie die Welt wieder mit erwachten Sinnen. Sie rippte und der Wächter fiel um.

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte Alice zu Hans Lehmann.


Eine Irre, dachte Philip, eine Irre also. Diese verrückte schien über telepathische Fähigkeiten oder Ähnliches, zu verfügen. Diese Durga, Karen – wie auch immer – hatte wahrlich ein übles Spiel mit ihm getrieben! Alles war aus einer psychotischen Phase entstanden. Ein Aufenthalt in der Nervenklinik, das war seine Vergangenheit gewesen, nicht die Tätigkeit in einem Institut der ESA. Nur ein Teil in diesem Puzzle, das er zusammenlegen wollte, stimmte nicht: die Spinne! Die Holzspinne, die sie gebastelt hatten, sah dem Ding aus den TV-Berichten verdammt ähnlich. Diese Berichte wurden aber allesamt später veröffentlicht. Gewiss konnte es sein, dass sie beide, er und die Irre, im Labor verrückt geworden waren. Vielleicht wegen eines Experimentes mit feinstofflichen Raumschiffen. Und was, wenn die Regierung die Wahrheit über diese gefährlichen Außerirdischen sagte? Hatten diese Europabewohner so sehr mit der Realität herumgespielt, dass sie beschädigt wurde. Eventuell würde er nie wissen, was die Wirklichkeit war, weil es keine mehr gab, weil nichts existierte, an das er sich festhalten konnte. Was, wenn die Welt allein aus verdichteter Information bestand, aus die der jeweilige Beobachter seine Realität herauslas? Die meisten Menschen mochten über eine gewisse Bandbreite der Wahrnehmung verfügen, würde sich diese erweitern, sagte er sich, könnte man eine gänzlich andere Wirklichkeit wahrnehmen. Die Folge davon wäre unter Umständen, dass der Wahnsinn einen packte. Ihm schauderte. Etwas Fremdes schien in ihm aufzutauchen, bereit, ihn zu verschlingen. Ein Abgrund in dem seine Persönlichkeit stückchenweise hineinpurzelte. Im selben Augenblick bemerkte er eine Gestalt, zehn Meter von ihm entfernt, sie stand auf der Straße und beobachtete ihn. Sie trug einen schwarzen Anzug, ihr Gesicht wirkte maskenhaft, die Augen wirkten wie Glasperlen.

Philip wurde von der Seite angerempelt und fand sich unversehens an der nächsten Straßenecke wieder. „Was war das?“, fragte er überrascht.

Durga, Karen, wer immer sie war oder was immer sie sein mochte, sie lief an seiner Seite und erklärte: „Die Welt hat viele Löcher und Tunnel. Normalerweise übersieht man sie, aber wenn man sie bemerkt, kann man durch sie hindurchgehen. Der Mann, den du gesehen hast, ist ein gefährliches Wesen. So lange, wie du dich nicht erinnern kannst, hast du keine Chance, dich zu wehren. Selbst deine künstlichen Erinnerungen wurden manipuliert.“

„Meine künstlichen Erinnerungen?“, fragte Philip verzweifelt. Unter normalen Umständen hätte er die Bemerkung einer Verrückten kaum beachtet. Der Mann aber, der so seltsam geschaut hatte, war real. Wie aus dem Nichts stand der Fremde neben ihnen. Philip verspürte einen kraftvollen Stoß. Um ihn herum lag ein menschenleerer Strand. Einige Möwen glitten auf dem Wind. Die Wellen des Meeres rollten vor und zurück. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Eine Gestalt materialisierte sich vor seinen Augen: Es war der Mann im schwarzen Anzug.

„Wo ist sie?“, wollte Philip wissen.

„Ich habe sie durch einen anderen Tunnel geschubst. Als sie drin war, habe ich ihn geschlossen“, sprach der Fremde betonungslos.

„Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass sie zwischen zwei Augenblicken festsitzt“, erklärte der unheimliche Kerl. „Sie wird uns nicht stören“, fügte er kalt lächelnd hinzu.

„Sie sind wohl nicht vom IES oder dem BND oder einer anderen Spionageorganisation?“

Der Fremde schüttelte den Kopf. „Und ich bin auch keiner von den Terroristen mit den seltsamen Fähigkeiten, einer von diesen Infizierten. Ich bin hier, weil du dich – Sie sich zu erinnern beginnen. Das darf nicht geschehen. Sie müssen aufgehalten werden. Sie sind eine Gefahr. Sie sollten sich von mir behandeln lassen. Ich beende Ihr Leid, Ihre Zweifel. Ich implantiere Ihnen neue Erinnerungen. Ich habe das erste Implantat überschrieben, somit waren Sie keine Gefahr mehr. Aber dann tauchte sie auf. Sie hat alles verdorben. Ich behandele Sie nun und Ihr Leben wird wieder gut. Sie nehmen regelmäßig Ihr Kratom, schauen sich Videos an, essen Ihre Kekse und werden alles vergessen haben, was Sie aufregen könnte.“

Philip riss fassungslos die Augen auf und schrie: „Was haben Sie mit mir gemacht?“

„Ich habe nichts verändert. Das Implantat haben Sie selbst mitentworfen. Es sollte nie die alten Erinnerungen vollständig verdrängen, sondern eine Erleichterung sein, um besser mit Ihrer falschen Identität leben zu können. Ich habe die implantierten Erinnerungen nur verstärkt, sodass sie alles andere überdecken konnten. Leider ist dabei etwas schief gegangen. Sie wurden labil. Bei Alice hat es besser geklappt. Bis jetzt zumindest.“

„Stimmt das mit dem Infizieren? Ich habe Alice infiziert und ihr diese Kräfte gegeben.“

Der blasse Mann winkte ab. „Sie haben Sie nicht infiziert. Aber egal vergessen Sie alles, es spielt keine Rolle mehr. Sie werden in ein tiefes Loch fallen, herauskriechen und ein anderes Leben beginnen, eines mit frischen Erinnerungen. Keine Angst, es tut nicht weh. Sie werden einen Moment der Verwirrung erleben, danach sind Sie ein neuer Mensch.“

„Und Karen? Was soll aus ihr werden?“

„Nun ja, eigentlich wäre sie ja recht gut aufgehoben, so eingekeilt zwischen zwei Augenblicken; aber angesichts dessen, dass wir einmal Freunde waren, bevor sich unsere Ansichten auseinanderentwickelten, könnte ich die gleiche Prozedur bei ihr anwenden. Eine neue Erinnerung, eine neue Identität. Es ist mir möglich, die Dinge so zu arrangieren, dass Sie sich beide wieder begegnen, falls Ihnen daran etwas liegen sollte“, sagte der Fremde.

Philip nickte kraftlos. „Wenn Sie meine Erinnerungen manipulieren können, sagen Sie mir, welche Erinnerungen sind echt?“

„Immer diese Fragen! Es spielt keine Rolle, alles wird gut“, sprach es aus dem Mann, der jetzt seine Hände ausstreckte und sie Philip auf den Kopf legte.

„Sie sind nicht von der Erde, nicht wahr?“


Philip lief am Strand entlang, die Möwen sahen aus wie bewegliche Zeichen einer fremden Schrift auf blauem Pergament. Das Meer rauschte. Er liebte es, Spuren in den Sand zu setzen. Er ging zum Wagen, wollte zurück in die Stadt, zu seiner kleinen Detektei.

Um die Mittagszeit erreichte er sein Büro. Eine Kundin hatte sich angemeldet. Er räumte flüchtig den Schreibtisch auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Es läutete. Die Klientin betrat das Büro. Sie beide hatten schon miteinander telefoniert. Ihr Mann war verschwunden oder so. Er bat ihr einen Platz an, dann musterte er sie sorgfältig, wobei er ihr ein wenig zu lange ins Gesicht schaute.

„Stimmt etwas nicht, oder warum gucken sie so?“, fragte die Klientin.

„Nein, nein, ist alles in Ordnung. Ich dachte nur, ich wäre Ihnen schon mal begegnet.“

Sie lachte auf. „Hätten sie mir das auf der Straße gesagt, würde ich es für eine ziemlich fantasielose Art ansehen, mit mir ins Gespräch zu kommen. Aber Sie sind mit mir ja schon im Gespräch. Sie wissen ja, wie das ist mit den Gesichtern. Man sieht zu viele davon. Etliche ähneln sich. Ich glaube kaum, dass wir uns je begegnet sind.“

„Gewiss, Sie haben recht. Frau Karen Durga, nicht wahr? Ich habe mir Ihren Namen notiert. Seltsamer Nachname: Durga. Ist das der Name ihres Mannes?“

„Ich mag den Namen auch nicht, es ist mein Mädchenname. Wir lebten getrennt. Er hat sich eine mickrige Wohnung genommen. Schriftsteller ist er. Zumindest hat er das von sich geglaubt. Ich habe ihn nie etwas schreiben sehen. Vielleicht war er auch ein Maler, der nie ein Bild zustande bekommt. Wissen Sie, er gehört zu den Künstlern, die kein Werk hervorbringen. Wer weiß, ob das nicht die Besten sind? Geld springt dabei allerdings nicht raus. Erst gab es da noch seine Erbschaft. Irgendwann wurde die natürlich weniger. Ich habe allerdings einen Job. Wenigstens einer, der was verdient in der Familie. Ich arbeite als Krankenschwester. Bin in der Psychiatrie tätig. Ich kann Sie bezahlen, kann mir aber nicht leisten, dass Sie monatelang herumsuchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir redeten immer vorbei aneinander, er und ich. Wir liebten uns, gewiss, ja – wir liebten uns. Aber das bedeutet ja nicht, dass man miteinander leben kann. Deswegen unsere kleine Trennung, auch um unsere Liebe nicht zu töten. Sie mögen das seltsam finden. Wir fanden das nicht seltsam. Er heißt Philip, genau wie Sie. Ist das Leben nicht voller Zufälle? Er hauste in dieser mickrigen Wohnung. Er nahm so ein Zeug ein, so was wie Opium, Kratom oder so. Wahrscheinlich hat er nicht mehr getan als das. Eben ein Künstler, einer, der sein Werk nicht beginnen kann, weil sein Werk einfach nichts ist. Verstehen Sie? Ich habe das auch lange nicht begriffen. Als ich ihn nach einiger Zeit wiedergesehen habe, hat er mich nicht mehr erkannt. Er hatte Probleme mit dem Gedächtnis. Mag sein, dass es an den Drogen lag. Aber das wollen Sie bestimmt nicht wissen.“

„Doch reden sie nur. Jede Nebensächlichkeit kann bedeutsam sein“, ermunterte Philip.

„Er lebte so vor sich hin und wurde seltsam. Er musste zur Therapie. Oft erkannte er nicht einmal mehr mich. Irgendwie erkannte er mich, wusste aber nicht recht, wer ich bin. Er hatte unsere Vergangenheit vergessen, erinnerte sich aber an die letzten Wochen. Ich drängte ihn, mit Professor Pull zu sprechen. Der war mein Chef in der Klinik, damals. Er sagte, er sei verrückt. Nicht der Professor sagte das über Philip, sondern Philip über Professor Pull. Ich glaube, mein Mann hat Dinge gesehen, die es nicht gab. Er hat sich verfolgt gefühlt, verfolgt von Agenten des Staates. Jedenfalls ist er jetzt fort, hat seine Wohnung verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt.“

Philip machte Notizen und blickte auf. „Irgendwelche Verwandten?“

„Er hat von seiner Schwester erzählt, Alice. Ich habe sie aber niemals kennengelernt. Es könnte sein, dass es sie nicht gibt. Er hatte viel Fantasie. In der Raumfahrttechnik arbeitet sie wohl. Er sagte, sie hat eine Tochter. Geschieden soll sie auch sein. Mehr weiß ich darüber nicht.“

„Gut, die Adresse Ihres Mannes brauche ich auch noch.“

Sie überreichte ihm einen Zettel. „Alles schon vorbereitet, bitte sehr!“

„Dann werde ich sehen, wie weit ich komme. Ich melde mich dann bei Ihnen“, sagte Philip und verabschiedete Karen Durga.

Sicherlich hatte sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben, sagte er sich, aber das würde zu nichts führen. Die Polizei hatte genug mit den vielen Unruhen zu tun und den Protesten gegen die Regierung. Also blieben Fälle wie dieser für kleine Schnüffler übrig, wie er einer war. Somit konnte er wenigstens seine Miete bezahlen.

Montag, 27. Dezember 2021

 

                                   TEIL 10

 

 

Glaube dem Verstand nicht“, beschwor ich ihn, „der Verstand will, dass alles so bleibt, wie es war. Das, worauf es ankommt, ist tiefer als der Verstand.“

Im Regal neben mir stand ein dickes Buch. Ich nahm es heraus und zeigte es ihm, legte es theatralisch auf meine Hände und rippte drauflos. Das Buch schrumpfte auf die Dimensionen eines Zweieurostückes. Schließlich ließ ich es wieder zu seiner ursprünglichen Größe anwachsen. Wahrscheinlich hätte eine Lektion in Gedankenlesen ausgereicht, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen, so produzierte ich kurzerhand dieses kleine Wunder, um Eindruck zu schinden.

 Ungläubig riss er die Augen auf. „Mach das noch mal“, sagte er verdattert.

Es geht nicht um Zaubertricks, oder darum, dass ich etwas beweisen müsste“, erklärte ich, „es geht um etwas Wesentliches. Das wirkliche Wunder besteht nicht darin, dass ein Buch seine Größe ändert.“

Ich setzte ihm die Wichtigkeit unserer Mission auseinander. Es ging ja um nichts weniger, als darum, das Bewusstsein der Menschheit anzuheben und den Weg für eine neue Epoche der Evolution zu ebenen. Ich muss sagen, Martin erwies sich als guter Fang. Er lernte schnell und hatte bald viele Menschen infiziert.

Aber nun will ich weiter von Philip erzählen. Er zog sich einige Tage zurück, konzentrierte sich aufs Rippen. Als er wieder auftauchte, sagte er mir, dass er wisse, welcher der nächste Schritt sein müsste. Das geschah zur gleichen Zeit als Professor Pull sein geheimes Labor räumte und das Institut verließ. Philip übernahm das Labor, da er einen Ort für ein – wie er sagte – wichtiges Unternehmen brauchte. Er hockte ständig am Computer und behauptete, er mache Pläne für etwas, das er im Ganzen noch nicht überblicken könne. Er wolle dennoch anfangen, ein Teil davon zu verwirklichen. So gingen wir an die Arbeit, heimlich. Wir besorgten Werkzeuge und technische Teile. Die Zeit, die wir benötigten, meldeten wir dem Institut als Überstunden für eines der offiziellen Projekte. So erregten wir kein Aufsehen. Wir arbeiteten an einer metallenen Spinne. Es handelte sich um ein Gerät, für die Erforschung der Oberfläche eines Himmelskörpers.

Was wird damit, wenn es fertiggestellt ist?“, wollte ich wissen.

Ich vermute, das wird uns rechtzeitig einfallen. Ich habe es tief in mir gesehen, also wird es Sinn machen. Es gibt da so Fäden in der Struktur des Zeit-Raum-Gefüges. An denen kann man vieles ablesen.“

Wir haben schon einen Rover für das Europaprojekt entwickelt, und er funktioniert. Die ESA hat ihn getestet. Man war zufrieden damit. Oder gibt es eine neue Mission? Unsere Mission? Wir besitzen aber keine Rakete. Wir wissen ja nicht einmal, was unsere Spinne eigentlich untersuchen soll“, sagte ich.

Philip fasste sich ans Kinn und kniff die Lippen zusammen. „Mhh, vor allem habe ich Probleme mit dem Akku. Wenn ich hier einfach einen Spezialakku beantrage, der extreme Temperaturen verträgt, so könnte das auffallen. Und auffallen sollten wir nicht.“ (Das nennt man eine ausweichende Antwort!)

Würden wir ein wenig geübter im Rippen sein, so wäre es möglich, einen Spezialakku aus der Luft entstehen lassen“, überlegte ich laut.

Dazu sind unsere Fähigkeiten zu neu“, warf Philip ein. „Aber wir bekommen Hilfe. Es ist hier. Es ist nicht humanoid und es befindet sich auf der Erde. Wir waren nicht die Ersten, die vom Zentrum der Welt infiziert wurden. Sie können rippen, ich spüre es. Sie werden helfen.“

Nun wurde ich aber wirklich skeptisch. Vielleicht waren unsere Fähigkeiten zu unausgereift und Philip irrte sich einfach. Am nächsten Tag änderte ich meine kritische Einstellung. Etwas lag auf dem Tisch in unserem geheimen Labor, eine zitternde seltsame Masse unbekannter Herkunft. Wir untersuchten das Objekt. Es war eine Batterie.

Eine biologische Substanz, die Energie erzeugt“, stellte Friedrich fest.

Wir hatten tatsächlich Hilfe erhalten, von wem auch immer. Wir arbeiteten weiter an dem Gerät mit den acht Beinen. Alice holten wir auch noch hinzu. Sie wurde gleich infiziert. Klar, diese Gnade durften wir ihr nicht vorenthalten. Sie machte nur langsam Fortschritte. – Nochmals zur Erinnerung: Fünfzig Prozent dieser Aufzeichnungen sind frei erfunden, was bedeutet, dass fünfzig Prozent Wahrheit in ihnen steckt –. Man weiß nie, wie lange es dauert, bis jemand das Rippen beherrscht. Bei uns, also bei Philip und mir, ging es ruckzuck, wir hatten ja direkten Kontakt mit dem Zentrum gehabt. Dennoch, etwas würde ab nun in Alice arbeiten und ihren Geist freimachen, das war uns klar.

Als die Spinne vollendet vor uns stand, meinte Philip: „Sie werden das Ding hochschicken, nach Europa.“

Dann werden sie um Wochen schneller sein als die ESA“, sagte Alice nachdenklich.

Warum haben sie es denn nicht selbst gebaut, warum wir? Warum diese Arbeitsteilung?“, fragte ich, ohne auf eine Antwort zu hoffen.

Philip starrte ausdruckslos vor sich hin. „Wir sollten aufhören, von ihnen und von uns zu reden. Wir sind ein Teil des Einen. Dieses Eine ist das Schicksal. Es macht die Dinge so, wie sie zu geschehen haben, selbst, wenn es für uns sinnlos erscheinen mag. Wir müssen tun, was uns vorherbestimmt ist. Eines Tages werden wir das ganze Schicksal überblicken, jetzt erkennen wir allein winzige Teile davon.“

Ich verstand nicht, was vor sich ging. Haben sie uns geholfen, oder wir ihnen? Und wer waren sie, diese Wesen, die mit Philip Kontakt aufgenommen hatten?

Und dann ist es geschehen. Unsere Spinne war eines Tages verschwunden. Sie mussten sehr gut rippen können. Wir waren uns sicher: Die Spinne würde bald auf Europa landen.

In der Folge infizierten wir weitere Menschen, bei denen wir eine Resonanz spürten. Sobald es gelang, uns auf ihre jeweiligen Energien einzuschwingen, war es ein Leichtes, ihre Wahrnehmung derart zu verschieben, dass sie ihren eigenen Ursprung erkennen konnten. Meine Worte mögen für manche keinen Sinn ergeben. Dennoch gehe ich davon aus, dass sie für gewisse Ebenen von Verständnis sinnvoll sein können. Wie gesagt, es ist alles eine Frage der Resonanz. Viele Menschen konnten das Leben aus einer neuen Perspektive sehen, nachdem sie uns begegnet waren. Auch folgte der neuen Sichtweise die Fähigkeit des Rippens. Wir alle waren durch eine spezielle Form des Kontaktes miteinander verbunden. Mir fehlen für dieses Phänomen die Worte und es kommt mir vor, als würde ich, mit den wenigen Worten, die mir bleiben, als Sehende zu Blinden von der Welt der Farben sprechen. Sie können nicht begreifen, was Sehen bedeutet. Ich kann sagen, dass wir innerhalb des großen Bewusstseinsfeldes, das alle Welten umspannt, ein Teilfeld bildeten, eine Art kollektives Bewusstsein der Infizierten. Und es wurde uns klar: Wir waren Verschwörer. All die anderen, dessen geistige Pforten noch nicht geöffnet waren, nahmen ebenfalls an einer Verschwörung teil. Nur eben unbewusst. Sie schienen uns miteinander verbunden durch die Ideologie der Illusion, sie teilten sich die Welt der Schatten.

Wir konnten weit mehr tun, als zu infizieren. Wir stellten fest, dass, wenn die Realität erst einmal infrage gestellt wurde, es einfacher für uns war, Zugang zu denen zu finden, die es sich zu infizieren lohnte. Wer nicht mehr starr an seinen Vorstellungen festhielt, ging rascher in Resonanz mit uns. Also destabilisierten wir das Konzept von Realität, indem wir beispielsweise Geheimnisse stahlen und sie veröffentlichten. Die Regierungen und ihre Nachrichtendienste standen dabei weit oben auf unserer Liste. Viele Leute waren mehr als schockiert darüber, was sich alles hinter den Kulissen abspielte.


Philip unterdessen, zog sich immer mehr zurück, um zu meditieren. „Ich muss weiter schauen, immer weiter, bis hin zum Ende“, sagte er zu mir. Nachdem er tagelang nicht ansprechbar gewesen war, äußerte er sich folgendermaßen: „Noch einmal muss ich tief hineinblicken ins Zentrum des Universums, damit sich mir der Anfang und das Ende offenbaren. Tauche ich wieder auf, werde ich kaum noch wissen, wer ich bin und was ich tun soll.“

Ich fragte ihn, was für einen Sinn das haben solle.

Ich weiß es nicht“, sprach er, „ich werde es wissen, sobald ich getan habe, was ich tun muss.“

Die Geschehnisse nahmen ihren Lauf. Es kam, wie er es angekündigt hatte. Er lebte versunken in einem Traum, in dem das, was passiert war, immer mehr verblasste. Es wollte tief in sich etwas finden, etwas Gewaltiges, und er hatte seinen Preis dafür gezahlt.

Das Shuttle der ESA erreichte endlich den Mond Europa. Man entdeckte die Spinne. Unsere Spinne. Damit begann ein weiteres Kapitel der Geschichte. Die Idee von intelligenten Außerirdischen eignete sich für die Regierungen vorzüglich dazu, sie ideologisch auszuschlachten, um die Menschen stärker zu kontrollieren. Angst wurde geschürt. Immer penetranter rechtfertigte man die ständige Überwachung. Es könnten ja jederzeit die Außerirdischen zuschlagen. Auch redete man von menschlichen Agenten, die für diese Aliens arbeiten würden. Und uns gab es ebenfalls, uns Infizierte, unerklärliche Phänomene, die dem Staat seine Geheimnisse entrissen, um den Menschen den letzten Zipfel von Vertrauen ins System zu nehmen. Seit man die spinnenbeinige Maschine in den Händen hielt, an der ich mitgebaut hatte, war Bewegung in die Welt gekommen. Es wurde immer mehr kontrolliert, Freiheiten wurden abgeschafft, Rechte pervertierten zur Willkür. Der Staat wuchs zum mächtigen Instrument der Unterdrückung heran. Der der Kalte Krieg gegen die eigene Bevölkerung wurde langsam heiß.

Druck erzeugt Gegendruck. Immer mehr Unzufriedene schlossen sich zusammen, taten ihren Unmut kund. Unser Gerät, von dem wir nicht einmal wussten, wozu wir es gebaut haben, hatte es geschafft, das System erst zu stabilisieren, dann zu destabilisieren. Die Vertreter der alten Macht wollten das Feld nicht freiwillig räumen, sie kämpften verbissen. Als entdeckt wurde, dass dieses Objekt vom fernen Eismond, hauptsächlich aus irdischen Komponenten bestand, war Vertuschung angesagt. Die Existenz der Außerirdischen durfte nicht infrage gestellt werden, war sie doch die ideale Rechtfertigung für die immer härteren Vorgehensweisen der Regierung. Die Mächtigen wurden von der Angst ergriffen, die Kontrolle zu verlieren. Also hatte man alle, die das Gerät untersuchten, verschwinden lassen, einschließlich Alice. Ich vertraue darauf, dass sie rechtzeitig ihre Fähigkeiten stärken konnte, um sich selbst zu helfen. Aber ich habe keine inneren Bilder von ihr, keine Witterung, kann sie nicht sehen. Es ist mir unklar, warum das so ist. Ich sehe sonst vieles, wenn ich die Augen schließe und in das große Loch hineinblicke, das in mir ruht, und das den Weltraum umschließt. Es gibt Dinge, die ich erkennen kann, andere bleiben im Schatten. Es ist das Schicksal, das es so will. Alice fort, Philip weiß nicht, wer er ist. Das ist die Situation, wie sie sich im Moment zeigt.


Philip klappte den Ordner zu, in diesem Augenblick kam Durga, oder Karen, oder wer sie auch immer war, wieder ins Café spaziert und setzte sich neben ihn.

Wie nennt man das? Ich glaube, es heißt Science-Fiction. Ganz nett, nur der Schluss fehlt.“

Der komm noch. Ich denke, der kommt bald.“

Philip lächelte distanziert. „Eine Reise ins Zentrum des Universums mit einem Raumschiff aus Feinstoff! Das ist starker Tobak. Es scheint mir ein wenig zu fantastisch, dass auch nur ein Deut daran wahr sein könnte. Selbst wenn es subjektiv wahr wäre, was du hier geschrieben hast, so könnte es eine ganz private Illusion sein. Ich glaube nicht an diese Aliens, oder daran. dass man das Zentrum des Universums jr erreichen kann. Ich glaube, du willst mich verwirren, oder ihr – wer immer ihr sein mögt. Das Einzige, was mir wirklich zu denken gibt, ist die Sache mit dem Institut. Man hat mich dort Doktor genannt und mich freundlich begrüßt. Ich aber kann mich nicht entsinnen, dort jemals gearbeitet zu haben. Und selbst wenn das so gewesen sein sollte, und ich war dort beschäftigt, wer sagt mir, ob du wirklich meine Assistentin gewesen bist? Ich bin dir im Institut begegnet, gewiss, aber was besagt das schon? Du kannst dich ja ins Gebäude geschlichen haben.“

Mein Gott, du wirst immer paranoider! Ist da wirklich alles weg? Ist jede Erinnerung verschwunden, auch die an uns?“, fragte Karen flehend.

Tut mir leid, ich entsinne mich an meine Ex-Frau, aber nicht an dich. Vielleicht weil es nichts zu erinnern gibt“, sprach er hart.

Ihr standen die Tränen in den Augen. Sie wollte nach seiner Hand greifen. Er zog sie rasch zurück, wie um den giftigen Tentakeln einer Qualle zu entkommen.


Regen prasselte in Fäden zur Erde. „Wer bin ich nur, wer bin ich nur“, flüsterte er vor sich hin. Er blieb auf der Straße stehen, blickte zum Himmel. Der aber wusste auch keine Antwort. Das konnte alles nicht wahr sein. Karens Geschichte war verdreht. Er vermochte nicht zu sagen, was daran nicht stimmte. Ihm blieb nur sein Instinkt. In ihm lagen die Erinnerungen in Bruchstücken übereinandergelagert. Sie waren transparent und andere Erinnerungen schimmerten durch sie hindurch, falsche Vergangenheiten, flüchtig herbeifantasiert. Auch sickerten fremde Bilder in sein Inneres, sie waren finster, böse. Hie und da taten sich Türen auf. Dahinter verbargen sich karge Gänge, die sich zu Irrgärten auswuchsen. Er konzentrierte sich. Karen, Karens Geschichte. Kannte er sie wirklich von der ESA her? War sie nicht nur einfach eine Verrückte? Ebenso krank wie er selbst? Hatten sie sich nicht in einer Nervenheilanstalt getroffen? Wieder kamen ihm Bilder. War das jetzt real oder ersponnen? Ein Haus voller Irrer. Sie waren genauso Irre wie der Rest auf diesem Planeten. Ihr Wahnsinn passte nur nicht zu dem der anderen, zu den Robotern, die lebenstüchtig waren und sinnlos ihrer Gier folgten, eine Meinung hatten, die in Wahrheit nicht ihre eigene war. Sie wurden bereitwillig zu Mördern, wenn man sie in Uniformen steckte und ihnen Befehle in die Ohren brüllte. Beschäftigungstherapie, Beschäftigungstherapie. Lieber etwas Sinnloses tun, als nichts. Das Nichts ist das Gefährliche. Es könnte wer weiß was aus dem Nichts kommen. Für einen Roboter gibt es nur einen Sinn: etwas tun, etwas tun, etwas tun, einen mechanischen Takt anstimmen, der sich in einer endlosen Melodie erschöpfte. Er gewinnt daraus Kraft, die Sklaverei ist ihm eine Freude. Konsumiere und lache. Kauf dir einen Scheiß und du bist glücklich. Willst du wissen, was Realität ist, dann frag nach bei Google.

Karen und er kleben eine hölzerne Spinne zusammen. Karen lacht irre, meint, das Ding würde in den Weltenraum fliegen.

Professor Pull schlendert vorbei. Er ist der Chefarzt. „Schön gebastelt, sehr nett“. Mit geheucheltem Interesse betrachtet er die Spinne. Seine Stimme klingt ruhig und tief. Er bevorzugt Hypnosetherapie.

Später im Behandlungszimmer. „Stellen Sie sich vor, sie sitzen in einem Raumschiff!“

Eine Fantasiereise. Und Karen, psychotisch wie sie ist, hält diese Suggestion bis heute für Realität. Ihr krankes Gehirn reimt sich noch etliche Dummheiten dazu. Die Therapie hat sie total irre werden lassen. So, wenn das die Wahrheit war, okay, damit konnte er leben! Wenn da aber eine Lücke klaffe in ihm, die er soeben mit Fantasie ausgefüllt hatte, dann wäre nicht Karen vollkommen verrückt, sondern er. Wo war der Maßstab, womit könnte er die Wahrheit messen? Erinnerung, Fantasie, alles nur Daten auf der empfindlichen Festplatte in seinem Kopf.