Montag, 7. Februar 2022

     TEIL 16


Nach der nächsten Schlafphase war es soweit: Man brach zur Expedition auf, wollte den Spuren des Wesens folgen, das eigentlich nicht existieren durfte, zumindest der Logik nach nicht. Lu sollte in der Kuppel bleiben, während Kaito und Kwang sich aufmachten, den Spuren des Enceladusbewohners zu folgen.

Rasch fanden sie die Fußabdrücke des Tieres. „Schätze es auf Schimpansengröße“, murmelte Kaito in sein Mikrofon. „Aber dieses Vieh ist einfach ein Rätsel. Wo sind die anderen Tiere seiner Art? Wo sind die Pflanzen, die es frisst? Falls es ein Raubtier sein sollte, müsste es auch Beute geben. Aber es existiert hier nichts weiter, außer Pulverschnee, ewiger Pulverschnee.“

Möglicherweise werden wir das Geheimnis heute lüften“, gab Kwang zu bedenken.

Kaito nickte. „Gut, dass das Tier in Richtung des schwarzen Flecks gelaufen ist. Den wollten wir ja wieso untersuchen.“

Der Fleck wird nicht so weit weg sein, wie es scheint. Der Horizont ist ziemlich nah auf so einem kleinen Trabanten. Allerdings sind wir auch nicht die Schnellsten in unseren klobigen Anzügen. Unsere Hüpfer gehen mehr in die Höhe, als dass sie uns weiterbringen“, erklärte Kwang, mehr um den Weg mit seinem Gerede zu verkürzen und weniger, um eine sinnvolle Information zu geben.

Kaito grinste hinter dem doppelten Kunstglas seines Helmes. „Wir müssen uns vorstellen, wir wären Kängurus, dann klappt es besser mit dem Hüpfen. Noch eine Woche, bis dahin hat sich unser Bohrer durch die Eisschicht durchgefressen. Eine weitere Woche, und die Sonde wird den unterirdischen Ozean untersuchen, und ab geht’s nach Hause. Ich werde eine Weltreise machen.“

Kwang scherzte: „Bist du nicht schon weit genug gereist? Wenn ich wieder daheim bin, wird erst mal ein Kind gemacht. Zu zweit ist es ja ganz nett, aber irgendwann sollte eine richtige Familie her.“

Kaito machte eine abwehrende Geste. „Also, was mich betrifft, da lasse ich mir n Zeit. Ich meine, schlaflose Nächte, nasse Windeln, Kinderkrankheiten, das hört sich nicht so toll an.“

Die beiden Astronauten hüpften beständig weiter durch die eisige Wüste. Mit Ausnahme des schwarzen Punktes, auf den sie sich zubewegten, bot die Landschaft nicht die geringste Abwechslung. Sie begannen diesen Mond zu hassen, hassten den Himmel über sich, an dem der riesige Saturn stand, dessen Ring ihn unwirklich erscheinen ließ. Sprung für Sprung wurde der Punkt vor ihnen größer, bis sie erschöpft vor ihm standen. Sie blickten aufwärts, abwärts und wieder aufwärts. Auf einem Sockel war ein parabolischer Teller montiert – etwa sieben Meter im Durchmesser. Das Gebilde bestand aus schwarzem Metall. Daneben ragte ein ungefähr drei Meter hoher und zwei Meter breiter Zylinder dunkel glänzend aus dem Schnee. Die Spuren des Mondaffen führten bis zum Zylinder, wo sie abrupt endeten. Kaito musterte die Anlage. „Sieht wie eine Antenne aus“, stellte er fest. „Hier wird scheinbar etwas gesendet oder empfangen.“

Wer hat das hierhin gestellt?“, fragte Kwang, ohne eine Antwort zu erwarten.

Keine Ahnung“, antwortete Kaito, „wir könnten ja erst einmal der Frage nachgehen, wohin der Affe verschwunden ist.“

Kwang nickte. „Gut spielen wir Detektiv. Bis hin zu dem Zylinder ist er gekommen. Dort verschwinden seine Spuren. Als hätte er sich aufgelöst. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden.“

Also“, führte Kaito Kwangs Überlegungen weiter, „kann der Affe nur in dem Ding drin stecken. Vielleicht ist der Zylinder seine Behausung. Nur ich sehe keinen Eingang.“ Er berührte die metallene Oberfläche, als wolle er das Material prüfen. „Falls sich das hier aufschieben lässt, schaffe ich es nicht. Hier rührt sich nichts. Wir müssten Werkzeug besorgen. Vielleicht hockt das Vieh da drinnen und lacht ins aus.“ Ärgerlich schlug Kaito gegen das schwarze Metall.

Zur Überraschung der beiden Astronauten öffnete sich der Zylinder. „Das nennt man wohl Schiebetür“, kommentierte Kwang.

Im Inneren fanden sie nichts vor. Der Affe war und blieb verschwunden. Kaito ging hinein und sah sich um. „Da ist ein grünes Leuchten an der Decke.“

Ein grünes Leuchten?“, wiederholte Kwang fragend. Er betrat ebenfalls die schwarze Röhre. Blitzschnell schob sich die Tür zu.

Mist“, tobte Kaito, „wir sitzen in der Falle!“

Wir sind echt nicht die Hellsten. Der Aufenthalt hier hat uns blöde gemacht. Wie konnten wir nur so leichtsinnig sein? Wir müssen hier raus!“, schrie Kwang in sein Mikrofon und trommelte wie toll gegen die Wand. Nach kurzer Zeit ließ er resigniert die Arme sinken. „Wir sitzen fest verdammt! Ich habe echt Schiss.“

Kaito sah ihn mit großen Augen an. „Etwas passiert. Merkst du es auch?“

Ja, es geschah tatsächlich etwas. Kwang presste mühsam ein einziges Wort aus seiner Kehle: „Abwärts!“

Genau“, bestätigte sein Kamerad, „das ist wohl ein Fahrstuhl. Damit wäre die Frage, wohin der Affe verschwunden ist, geklärt.“

Kwang sah besorgt aus. „Wohin fahren wir? Um irgendwo anzukommen, müssen wir durch mindestens dreißig Kilometer Eis, darunter liegen noch etliche weitere Kilometer Wasser, danach müsste der Meeresboden kommen, eine Sandschicht vermute ich. Wir wissen nicht, wo das Ding anhält. Unsere Atemluft reicht nicht ewig. Wir wollten ja nur kurz raus, uns umsehen, dann zurück zur Wohnkuppel. Wenn wir nicht rechtzeitig an Sauerstoff kommen, war‘s das für uns gewesen. Scheiße!“

Schweigend schauten die beiden Männer nach oben, wo das Licht grünlich von der Decke flimmerte. Nichts war zu hören, außer ein kaum wahrnehmbares Summen, ausgelöst vom Mechanismus des Fahrstuhles, das sich vom Boden her auf den Schutzanzug übertrug. Bald ließ das Geräusch nach. Tiefe Stille. Die Zeit stand still. Kaito blickte zu den Messinstrumenten an seinem rechten Arm. Noch war eine minimale Sauerstoffreserve vorhanden, aber nicht mehr lange. Es würde für sie keinen Weg zurück geben. Es bliebe ihnen nur eine letzte Chance zum Überleben, nämlich, dass die Fahrstuhltür sich bald öffnen würde und sich dahinter atembare Luft befände. „Warum geht diese Tür nicht auf?“, fragte Kwang. Seine Frage richtete sich mehr an das Schicksal als an Kaito, der ihn hilflos anglotzte. Kwang wusste, er würde keine Antwort bekommen, keinen Trost. Er begann zu beten, es war ihm gleichgültig, zu wem oder zu was. Bald steigerte sich sein Gebet zu einer Beschwörung. „Geh auf, geh auf“, zischte er. Schweiß tropfte ihm aus den Hautporen. Das konnte doch nicht das Ende sein! Er wollte hier nicht verrecken, in dieser verfluchten Röhre, auf diesem kalten Mond. Er hatte Pläne! Es gab noch ein Leben, das in ihm zappelte, sich regte, das sich ausbreiten wollte wie eine Welle, das riechen, fühlen, schmecken wollte. Noch einmal die Erde sehen, sagte er sich, einmal noch den Frühling riechen, den Wind spüren, den Regen, eine Haut, einmal noch Lachen oder Weinen, einmal nur.

Langsam öffnete sich die Tür des Fahrstuhls. Den beiden Astronauten ging die Luft aus. Ihre Lungen flatterten. Einige Meter vor sich erkannten sie dünne Gestalten. Sie waren hochgewachsen, ihre spinnenartigen Arme bewegten sich wie in Zeitlupe. Kwang und Kaito gestikulierten wild, um zu zeigen, dass sie kaum noch atmen konnten. Eines der hageren Wesen trat vor. Es richtete eine Röhre auf die Neuankömmlinge, denen sofort klar wurde, was geschah: Diese Röhre musste eine Waffe sein! Stechender Schmerz durchfuhr sie, bis die Dunkelheit alles verschluckte.


Ich hoffe, es geht ihnen gut.“

Die Stimme durchschnitt den dicken Nebel, in dem er drinzustecken schien. Der Kampf des Körpers ums Überleben war vorüber. Luft strömte in Kwangs Lungen, der Brustkorb dehnte sich selig aus. Es war köstlich zu atmen. Prickelndes Leben tanzte in seinem Herzen. Er existierte.

Sind Sie wach?“, fragte die Stimme besorgt.

Kwangs Blicke schweiften umher und blieben an Kaito hängen, der auf einer Liege saß. Kaito lächelte. „Wir leben noch.“

Der Raum, in dem sie sich befanden, bestand aus einem durchsichtigen Material. Ringsherum erkannte er einen anderen Raum, dessen Wände so weiß schienen wie der Schnee auf der Oberfläche. Jetzt erblickte Kwang eines der fremden Wesen. Es bewegte sich langsam vor der durchsichtigen Wand. Seine Hände spreizten sich, die langen, eleganten Finger machten den Eindruck, als wären sie Antennen, mit denen es irgendetwas empfangen wollte, eventuell eine feine Schwingung von Emotionen oder Gedanken.

Das Wesen sprach: „Mit Freude sehe ich, dass Sie beide wohlauf sind. Als Sie uns gegenüberstanden, haben wir sofort erkannt, in welcher misslichen Lage Sie sich befanden. Die Situation war so ernst, dass wir keine andere Möglichkeit gesehen haben, als auf Sie zu schießen. Unsere Atmosphäre hier unten ist nicht sauerstoffhaltig. Mit einem Betäubungsgewehr konnten wir ein kleines Projektil in ihrem Körper platzieren, das sich rasch auflöst und den Sauerstoffverbrauch extrem herunterfährt, ohne jedoch Schaden anzurichten. Somit blieben Sie lange genug am Leben, bis wir Sie in diesen Raum bringen konnten. Er enthält ein Ihnen bekömmliches Gasgemisch. In ihrer Heimat wird es mit dem Wort Luft bezeichnen.“

Kwang erhob sich und machte einen Schritt auf den Fremdling zu. „Hören Sie, ich habe tausend Fragen: Wieso sprechen Sie unsere Sprache? Was hatte es mit diesem Affen auf sich? Wer sind Sie?“

Die dünne Gestalt neigte den Kopf. Etwas Ähnliches wie ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Ich kann nachvollziehen, dass Sie neugierig sind. Ich möchte versuchen, Ihnen behilflich zu sein. Von Ihrem Heimatplaneten werden viele Signale gesendet. Telefongespräche, TV-Sendungen, Internet, das alles verteilt sich im Raum. Und natürlich nehmen wir gerne teil an ihrem Unterhaltungs- und Informationsangebot. Insofern sind wir bestens unterrichtet, was die Situation der Erde betrifft. Der Affe, wie sie ihn nennen, ist einer unserer Arbeiter. Ein Tier, von uns erschaffen und angepasst an die Bedingungen der Oberfläche dieses Mondes. Es muss nicht einmal atmen. Wir selbst allerdings benötigen Co². Die Frage, wer wir sind, ist dagegen nicht so einfach zu beantworten. Es gibt Dinge, die Sie nur nach und nach begreifen können. Es sei Ihnen aber gesagt, dass wir uns nicht hier entwickelt haben. Enceladus war unbewohnt, ein Toter Himmelskörper, bevor wir gelandet sind. Die wichtigste Frage aber haben sie noch nicht gestellt: Wer sind Sie selbst? Ich sage es Ihnen: Sie sind ein Geschenk des Himmels für Ihren Planeten. Sie wissen von der Sache in Europa. Außerirdische treiben dort ihr dreistes Spiel mit der Menschheit! Nun, wir kennen diese Species. Sie tut so etwas nicht zum ersten Male. Am Ende kam nie Gutes dabei heraus. Die Menschheit ist drauf und dran, ihre Seele zu verlieren. Sie sind der Mensch, um das aufzuhalten.“

Ich muss sagen, mir schwirrt der Kopf“, gab Kwang zu. „Wir wurden erschossen, um zu überleben, dann werden wir wach und Sie erzählen Dinge, die mich total verwirren.“

Das fremde Wesen öffnete seine Hände, über sein bleiches Antlitz fiel mildes Licht, der schmale Mund lächelte still. Noch immer waren die großen Augen konzentriert auf Kwang gerichtet. „Treten Sie etwas näher. Mein Name lautet Xellox“, sprach die warme Stimme jenseits der durchsichtigen Wand. „Öffnen Sie sich Kwang. Sie sind viel mehr, als Sie glauben. Ich möchte Sie mitnehmen, mitnehmen zu einer Reise. Zuerst zu dieser Frau, an der Ihre Gedanken hängen und auch Ihr Herz.“

Kwang spürte Energie. Sie floss von allen Seiten in ihn ein, durchströmte seine Zellen, strömte durch Adern, schwamm in seinem Blut, wärmte Muskeln und sauste durch seine Nerven. Etwas veränderte sich, hatte sich schon verändert: Die Angst war fort.

Jetzt folgt der Teil, bei dem Sie ein wenig zittern werden. Hier befreit sich jahrelang blockierte Energie. Oft handelt man ungesund gegen sich selbst. Alle solche Handlungen schneiden ein Lebewesen von seiner eigentlichen Kraft ab. Können alte Blockaden schmelzen, so findet Heilung statt. Sogar mehr ist möglich, viel mehr, wenn Sie wieder aus der Quelle schöpfen. Gehen Sie bitte zu der Liege auf der rechten Seite. Ich will Sie herausziehen!“

Kwang folgte der Anweisung. Er setzte sich. „Herausziehen?“, fragte er verständnislos.

Herausziehen aus der starren Form“, erklärte Xellox. „Sehen Sie, hier in diesen Höhlen unter dem Meer, gibt es nur wenig. Alles ist karg. Kaum Licht, nur etwas von den Leuchtpilzen, die wir anbauen, und von den Lampen. Keine Sonne bescheint unsere Existenz. Man könnte das alles trostlos nennen. Dennoch, wir vermissen nichts; denn wir leben die meiste Zeit nicht in der Welt der festen Formen. Und so möchte ich auch Sie aus der Welt der Formen herausziehen. Lassen Sie ihren Körper da, wo er ist, und kommen Sie zu mir, ganz nah zu mir heran. Sie müssen nun Ihren Kameraden verlassen. Jeder hat seinen eigenen Weg. Er wird den seinen finden, wie Sie den Ihren finden werden. Kommen Sie noch näher heran!“

Ich kann nicht Xellox, die durchsichtige Wand ist zwischen uns.“

Wenn Sie meinen, diese Scheibe könnte Sie aufhalten, dann wird sie Sie aufhalten. Noch glauben Sie an die Macht der Materie. Sie blicken auf das, was fest ist, auf das Grobe, weil ihre Blicke nicht fein genug sind, weil Ihre Augen nach etwas suchen, was sie festhalten können. Die Wahrheit aber ist: Sie haben längst eine feinere Welt betreten, die Welt subtiler Energiegeflechte. Hier existiert nichts Starres, nichts, was Sie aufhalten könnte.“

Und so war es auch. Mit einem entschlossenen Schritt ging Kwang durch die vermeidlich unüberwindbare Scheibe hindurch. Es fühlte sich an wie ein Luftzug, der ihn sanft streifte.

Sie können durch alle Wände gehen“, sagte Xellox, ohne den Mund zu bewegen.

Kwang begriff, dass er nun die Gedanken seines Gegenübers hören konnte.

Sehen Sie“, sprach Xellox in Gedanken weiter, „Sie stehen ja gar nicht auf dem Boden, wie Sie glauben. Sie schweben bereits ein wenig darüber. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle unseres gemeinsamen Abenteuers nicht verschweigen, dass Sie fliegen können.“

Sie haben recht, ich stehe nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden. Ich habe davon gehört, von der Sache hier. Auf der Erde nennt man es Astralreise. Ein unwissenschaftliches Konzept, vermutlich …“

Ja, auf der Erde mag es ein unwissenschaftliches Konzept sein, aber dennoch sind Sie bereits durch eine dicke Kunststoffscheibe gelaufen und jetzt schweben Sie über dem Fußboden“, sagte Xellox und lächelte lausbübisch. „Gewiss, einige üben sich auf der Erde darin, diesen sogenannten Astralkörper auszusenden und mit ihm durch die feinstoffliche Welt zu reisen. Das, was Sie im Augenblick erleben, ist kein ungewöhnliches Phänomen. Auf Ihrem Planeten steht man erst am Beginn der astralen Experimente, da bei den Menschen zu viel Irrglaube herrscht. Wir haben die Stufe der Experimente seit etlichen Jahrtausenden hinter uns gelassen. Bei Ihnen wird das alles mit esoterischen Ideen verunreinigt. Bei uns ist es exakte Wissenschaft. Das Außergewöhnliche ist unsere Heimat. Jetzt sind auch Sie ein Energiewesen. Bald schon werden Sie mit der Kraft des Universums tanzen, bald werden Sie darüber lachen, dass Sie Grenzen für Real gehalten haben.

Wir müssen eine wichtige Sache erledigen. Diese Wahnsinnigen vom Jupitermond Europa dürfen ihren Plan nicht fortführen. Sie werden die Erde in den Untergang treiben, werden die Harmonie der bewohnten Welten zerstören. Diese Wesen wollen, von einer irrwitzigen Hoffnung getrieben, die Menschheit verbessern, nach einer Methode, die sie nach Gutdünken für richtig halten. Ich bemerkte schon, sie haben des Öfteren darin versagt, ihre Vorstellungen in die Realität umzusetzen. Die Folgen waren immer schrecklich.“

Dienstag, 1. Februar 2022

 


                          TEIL 15



Alice sagte: „Ich glaube, etwas passiert, etwas Wichtiges.“ Sie schaute mit dem inneren Auge in die Ferne, um zu sehen, was vor sich ging auf der Welt. Sie erblickte aufgebrachte Menschen. Sie schrien, sie forderten Freiheit! Ihnen gegenüber standen Soldaten. Ein Befehl wurde gebellt. Die Männer in Uniform richteten ihre Gewehre auf die Menge vor ihnen. Ein blonder Soldat mit rosiger Haut und hellblauen Augen, die wie unschuldig unter seinem Helm hervorblinzelten, starrte einer Frau ins Gesicht. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut. Sie fluchte und weinte. Der Soldat regte sich nicht, er musste an seine Mutter denken. Eine unsichtbare Hand schien sein Gewehr niederzudrücken. Der Kamerad neben ihn bemerkte es und atmete erleichtert auf. Auch er senkte seine Waffe. So ging es die ganze Reihe durch. Der, welcher das Kommando gebrüllt hatte, besah sich seine Mannschaft. Seine Hände zitterten. Ihm wurde klar: Sie würden nicht mehr auf ihn hören. Außerdem hatte er auch gar keine Lust mehr dazu, grausame Befehle zu geben. „Die Soldaten sind unsere Brüder!“, rief ein Mann aus der Masse heraus. Da schlossen sich die Soldaten den Zivilisten an, erst zögernd, schließlich mit Begeisterung. Gemeinsam liefen sie auf das Reichstagsgebäude zu.


Eine Art Ruck ging durch den Planeten. Die Frequenz des planetarischen Bewusstseins veränderte sich. Offenbar hatten die Infektionen, ausgelöst von den Bewohnern Europas, ihre Wirkung gezeigt. „Die Resonanz vergrößert sich“, sagte Alice erfreut, „sie breitet sich aus und vertieft sich. Bald wird die Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung erreicht haben.“

Karen stimmte ihr zu. „Die Regierung hatte recht: Es war ein Angriff der Aliens, – und jetzt scheinen sie zu gewinnen.“

Gewiss Karen, es war und ist ein Angriff auf die Wahnideen, ein Angriff auf die Illusion, dass jeder ein von allem anderen getrenntes Wesen ist, ein Angriff auf die Idee, der Mensch wäre nur ein Mittel, das jedem beliebigen Zweck zu dienen hat. Die Menschheit verliert und gewinnt. Und jene, die festhalten an alten Strukturen, werden jammern und zittern. Ihre Macht wird schwinden, ihr Reichtum, der in Wahrheit nichts anderes ist als Armseligkeit, wird ihnen wie Wasser aus den Händen fließen, bis nichts mehr übrig bleibt, wozu sie sagen könnten: Das gehört mir. Aber der Gewinn übersteigt bald die Verluste. Sie werden begreifen, wer sie sind und woher sie kamen, dass man Teil der kosmischen Gemeinschaft ist, verbunden mit den Seelen auf anderen Himmelskörpern. Wir alle sind eine Familie. Einige Familienmitglieder sind alt, andere sind Kinder und wissen nicht, was sie tun. Sie haben noch zu lernen. Die Menschheit beginnt erst, aus ihren Kinderschuhen herauszuwachsen. Sie wagt ihre ersten Schritte als erwachsene Gesellschaft. Ja wir Aliens haben die Erde angegriffen, auf unsere Art. Wir hoffen, es wird keine Verlierer geben.“


Karen stand auf. „Philip?“

Sie gingen zu ihm. Er lag wie schlafend da. „Philip?“, sagte Alice laut.

Er sah aus wie ein Kind, verloren in süßen Träumen.

Ob er sich entsinnen wird?“, fragte Karen.

Wir können hoffen, mehr nicht. Die Hoffnung ist allerdings ein unzuverlässiger Geselle.“ Alice legte ihre Hand auf Philips Schulter.

Er schlug die Augen auf, seine Pupillen sprangen unruhig hin und her. „Wo bin ich?“

Du bist in Sicherheit, in den Bergen, hier bei uns. Schau nur, Karen ist auch da. Du erkennst sie doch, oder?“

Philip sah zu Karen hinüber. Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Bin ich in Sicherheit?“

Ja“, versprach Alice, „du bist in Sicherheit.“

Ich kenne euch nicht“, flüsterte er.

Du wirst dich erinnern.“

Ich bin so müde.“

Dann schlafe Philip, schlafe!“

Wer ist Philip? Das ist ein lustiger Name.“

Schlafe und träume, träume von etwas Schönem, von einer guten Welt!“

Philips Augen fielen zu.

Karen blickte Alice fragend an. Die schüttelte nur den Kopf, schwieg eine unerträgliche Weile und sagte: „Sieht nicht gut aus. Er muss gründlich untersucht werden, unten, auf dem Meeresgrund. Er erkennt uns nicht mehr. Eventuell ist seine Erinnerung fort, ich meine, fast seine gesamte, sodass er nichts mehr von Europa weiß, auch nichts von der Erde. Möglicherweise wird man ihm eine neue Erinnerung einpflanzen, damit er sich irgendwo zurechtfinden kann. Wo würde er sich wohler fühlen, unter Wasser oder auf dem Erdboden?“

Ich denke, es hat ihm gefallen, als Mensch zu leben“, flüsterte Karen. In ihren Augen schwammen Tränen und Verzweiflung.

Alice nickte. „Die Erdkolonie wird ihren Protest gegen die Regierung auf Europa zum Ausdruck bringen. Der Schaden, der durch Chrochro entstanden ist, ist kaum wiedergutzumachen. Ich kenne ihn, er arbeitet für die Regierung des Europas. Man wird sich gut um Philip kümmern in unserer Kolonie auf dem Meeresboden. Ich muss jetzt auch nach meiner Tochter sehen.“


Die Wärme wollte gar nicht mehr enden, die Luft stand unbewegt über den Feldern. Alice und Karen fuhren mit dem Cabriolet die Landesstraße entlang, die sich staubig durch die Rapsfelder schlängelte. Sie bemerkten den Bauern. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gewiss freute er sich auf den Feierabend und auf eine anständige Mahlzeit. Alice bremste ab. Der Wagen kam neben dem Bauern zum Stehen. Freundlich schaute er sie an und grüßte nickend.

Guten Tag!“, rief Alice ihm zu. „Könnten Sie uns bitte sagen, wie wir zum nächsten Dorf kommen?“

Er trat näher heran, fast scheu. Das sei einfach, erklärte er, man müsse nur immer geradeaus fahren.

Na dann sind wir ja auf dem richtigen Weg!“, meinte Alice. „Schön haben Sie es aber hier. Die Landschaft wirkt sehr friedlich.“

Der Bauer nickte. „Ja ruhig ist es, nicht so verrückt wie manch anderenorts. Man ist eben zufrieden mit dem, was vor einem liegt. Jetzt muss ich aber nach Hause. Meine Frau wartet schon mit Essen auf mich. Leben Sie wohl!“

Leben auch Sie wohl!“, Alice und Karen ihm zu und fuhren weiter.



Vor ihnen lag das Dorf.

Er ist zufrieden“, sagte Alice.

Er hat uns nicht erkannt, nicht wahr?“

Nein, hat er nicht.“

Er lebt ein neues Leben“, sagte Karen leise, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin.

Ja, und wir leben unser altes weiter. Jeder hängt an einem Schicksalsfaden.“

Karen blickte sich um. Dahinten wuchsen Flachs, Raps und Hanf. Dort lebte ein Bauer sein Leben. Er konnte sich nicht an mehr entsinnen, als an die Kindheit und Jugend, die man ihm eingepflanzt hatte. „Gewiss, jeder baumelt an seinem Faden“, flüsterte Karen.




    ENCELADUS



Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten …


Rainer Maria Rilke

Engelieder


Nun war sie wirklich hier, in Deutschland, diesem schrecklichen Deutschland im kalten Herzen Europas. Nieselregen hing seit Stunden in der Luft. Himmel und Hauswände teilten sich das gleiche Grau. Das Chaos war voll im Gange: Die Regierung führte einen verzweifelten Kampf gegen die Unzufriedenen sowie gegen die Alien-Anhänger. Dieser Kampf glich beinahe schon einem Rückzug. Die Speerspitze der Anarchisten bildeten die sogenannten Infizierten, die von den Außerirdischen des Mondes Europa kontrolliert wurden. Sie wusste: Diese Infizierten konnten andere anstecken, sie in fanatische Zombies verwandeln, die bereit wären, für die irrsinnigen Ziele einer außerirdischen Macht in den Kampf zu ziehen. Europa würde zuerst fallen, dann der Rest der Welt. Noch blieb Asien verschont, aber das könnte sich bald ändern. Allein sie war in der Lage, den Irrsinn aufzuhalten. Es schien unglaublich, aber es war so. Sie, eine einzelne Frau, verfügte über die Macht, die Aliens in ihre Schranken zu weisen.

Sie galt als kleine Berühmtheit, seit ihr Mann dort hochgeflogen war, zu dieser frostigen Hölle, die den Saturn umkreiste. Das Erlebnis, das sie vor Kurzem in Korea gehabt hatte, wiederholte sich in ihrem Geist. Sie war vom Einkaufen zurückgekehrt. Die Sonne stand heiß über Seoul. Dann war es geschehen, das Unglaubliche.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab wie ein lästiges Insekt. Jetzt war sie ganz auf die Gegenwart konzentriert. Ihr neuer Instinkt ließ sie rechts abbiegen. Sie betrat einen Parkplatz, auf dem fünf Polizisten versuchten, einen Mann einzukreisen. Es gelang ihnen offensichtlich nicht. Es konnte ihnen nicht gelingen, da dieser Mann einer von den Infizierten war. Mit hoffnungsloser Mimik zogen die Beamten ihre Waffen, wohl wissend, dass sie damit keinen Erfolg haben würden. Und richtig, unversehens befand sich der Infizierte hinter ihnen. Sie konnten nicht begreifen, wie er das gemacht hatte. Als sie von ihnen bemerkt wurde, schauten sie noch hoffnungsloser drein. Wenn das auch eine von denen wäre, dachten sie wohl, hätten sie nichts mehr zu lachen. Für einen Augenblick schien der Infizierte verwirrt, als wäre etwas Unbegreifliches in den Radius seiner Wahrnehmung getreten. Zeitlos schnell packte sie sein Handgelenk und schleuderte ihn wie eine Puppe herum. Er krachte gegen eine Limousine.

Vorsichtig!“, rief Min-Jee. Fast gleichzeitig schoss einer der Polizisten dem Mann ins Herz, sodass er zu Boden sackte. Ungläubig glotzen die Polizeibeamten auf den Infizierten. Es war das erste Mal, dass einer dieser angeblich Unbesiegbaren ihnen unterlag. Nach und nach richteten sich ihre Blicke auf Min-Jee.

Halt!“, bellte einer der Polizisten und zielte mit seiner Pistole auf sie.

Rasch schubste Min-Jee sie alle um. Ehe sie begriffen, wie ihnen geschah, lagen sie am Boden. Mit unbändiger Kraft packte sie einen der Männer am Kragen und zog ihn hoch. „Ab jetzt wirst du ein Kämpfer sein“, sagte sie und schaute ihm fordernd in die Augen.

Der Polizist zuckte und zitterte. Er wurde von einer unbekannten Macht hin und her geworfen.


Kwang fühlte sich dick, aber er hatte nicht wirklich zugenommen, nur der Anzug, in dem er steckte, vermittelte ihm dieses Gefühl. Die Maße des Schutzanzuges mussten einfach so gewaltig sein, immerhin sollten damit zweihundert Grad minus ausgeglichen werden. Die Oberfläche von Enceladus speicherte keine Wärme, was dort an Sonnenlicht auftraf, wurde von der weißen Landschaft reflektiert. Überall lagen glitzernde Körnchen herum, feiner als der Schnee auf der Erde. Sie hatten ihren Ursprung in den Fontänen. Sie durchbrachen kraftvoll die Oberfläche und Wasser und Silikate schossen weit hinaus bis in den Himmel. Das Wasser, das die unterirdischen heißen Quellen ausspien, gefror sofort. Ein Teil davon fiel auf den Boden des Saturnmondes nieder und machte jenen feinen Schnee aus, der alles unsagbar hell erscheinen ließ. Ohne das getönte Glas seines Helmes würde er erblinden. Die restlichen Eispartikel und Silikate flogen so weit ins All hinaus, dass sie einen Teil des Saturnringes bildeten, den Kwang jetzt in märchenhafter Pracht über sich erblickte. Hier draußen konnte man immerzu den Saturn sehen, denn Enceladus wandte, wie auch der Mond der Erde, seinem Planeten ständig nur ein und dieselbe Seite zu. Knapp dreißig Kilometer Eis lagen zwischen Kwang und dem unterirdischen Meer, in dem eventuell Leben existierte. Seine beiden Kollegen saßen jetzt in der gemütlichen Kuppel, die ihnen als zu Hause diente, bis ihre Mission abgeschlossen sein würde. Ihn hatte es erwischt, er hatte das kleine Stück Papier gezogen und musste so den Außenauftrag aufführen! Es galt, den Roboter zu warten. Es gab wohl Probleme mit der Stromversorgung. Welcher Akku fühlte sich schon bei minus zweihundert Grad wohl? Kwang sah zum dunklen Punkt hinüber, der ihnen von Anfang an aufgefallen war. Vielleicht ein Meteorit dachte er, der seltsamerweise nicht in die Eisschicht eingedrungen war und von dem der Schnee immer wieder abrutschte. Nach dem nächsten Schlafzyklus wollten sie der Sache auf dem Grund gehen. Er kratzte mit einem Spachtel an der Maschine herum. So, der Roboter funktionierte wieder. Es war doch nicht die Batterie gewesen, sondern zu viel Schnee hatte sich festgesetzt. Kwang freute sich darauf, in die Wohnkuppel zu zurückzukehren. Der schwarze Punkt lag auf einer kleinen Anhöhe. Dieser verdammte Punkt sollte eigentlich nicht existieren! Der Roboter würde es nicht hinaufschaffen. Sie hatten festgestellt, dass menschliche Beine besser geeignet waren durch den Schnee zu kommen als die Räder des Roboters. Was sie wohl dort vorfinden werden? Langsam tappte er vorwärts. Er zuckte zusammen. Etwas hatte sich bewegt. Es sollte sich hier aber nichts bewegen, mit Ausnahme des Roboters! Und doch lief dort etwas herum. Es war dunkel, bräunlich und flink. Kurz lugte es hinter der Kuppel hervor, verschwand aber sogleich wieder aus seinem Blickfeld. Kwangs Herz pochte, Panik breitete sich in ihm aus. War das, was er sah, eine Halluzination, die sein Gehirn wegen der monotonen Landschaft und der immer gleichen Gesellschaft ausgebrütet hatte? Er wusste nicht, was zu bevorzugen wäre: den Verstand zu verlieren oder einer unheimlichen Lebensform begegnet zu sein, an einem Ort, an dem es kein Leben geben dürfte! Wenn das ein Tier gewesen war, was fraß es? Schnee? Es herrschten immerhin zweihundert Grad minus. „Ich habe etwas gesehen“, krächzte er ins Mikrofon.

Was hast du gesehen?“, fragte Lu, das chinesische Teammitglied, zurück.

Weiß nicht. Ein Tier vielleicht.“

Die Oberfläche von Enceladus ist nicht bewohnt. Die letzte Sonde ist vor zwei Monaten vorbeigeflogen, so nahe, dass sie den Schneeball fast gestreift hätte. Sie hat nur Schnee gefilmt, nur Schnee und den unbeweglichen dunklen Fleck, den wir uns bald ansehen werden, der wahrscheinlich aus irgendeinem vulkanischen Zeug besteht. Hier gibt es nur Eis, Pulverschnee und etwas Silikat dazwischen. Die Atmosphäre besteht aus ...“

Ich weiß“, unterbrach Kwang, „aber vielleicht konnte die Sonde nicht alles erkennen.“

Fakt ist, es gibt keine Tiere hier. Unten mag sein, am Grund des unterirdischen Meeres, wo es wärmer ist. Auf der Oberfläche erstarrt jedes Tier, sie ist einfach zu kalt ...“

Oh Mist – es ist wieder da!“, rief Kwang, bevor es ihm die Sprache verschlug. Er erblickte ein untersetztes Männchen in einem Pelzmantel. Die Gestalt schien zu grinsen. Jetzt beugte sich das Wesen vorn über und lief auf allen vieren auf den dunklen Fleck zu. Nun erkannte er ganz deutlich: Es war doch kein Männchen, was sich dort rasch und mit weiten Sprüngen fortbewegte und dabei jede Menge Schnee aufwirbelte.

Ein Affe“, rief er, „ein Affe im Schnee!“

Machst du Witze? Bist du dir sicher, dass es keine Wahrnehmungsstörung ist?“

Er ist wieder fort. Ich bin mir bei nichts mehr sicher“, sagte Kwang. „Ich gehe hinter die Kuppel und suche nach Spuren.“

Er hüpfte wie ein Känguru. Diese Art des Vorwärtskommens war die effektivste bei geringer Schwerkraft. Hinter der Kuppel fand er sie, die Spuren. Vier Zehen zählte er.

Nachdem Kwang die Kuppel betreten hatte, gestikulierte er aufgeregt. Die beiden anderen sahen ihn mit großen Augen an. „Vier Zehen hat das Ding. Sieht aus wie eine Art Affe oder ein kleiner Bär. Hoffentlich ist es nicht gefährlich. Steckt die Kälte locker weg das Vieh. Ich meine, ihr wisst, selbst ein Eisbär wäre hier in spätesten zwei Sekunden erfroren. Und es ist real. Die Spuren sind da, direkt neben unserer Kuppel.“

Morgen werden wir nachsehen“, mit morgen meinte Lu, nach der nächsten Schlafphase.

Das wäre eine Schlagzeile: Die Raumfahrer des CJK-Staates, aus den stolzesten Völkern Asiens bestehend, China, Japan und Korea, entdecken Leben auf der Oberfläche des Saturnmondes Enceladus! – Was für eine Schlagzeile, da würden die Europäer aber gucken. Und wir sind persönlich hier. Die schicken immer nur Roboter. Unsere Namen werden in den Geschichtsbüchern verewigt. Kaito aus Japan, Lu aus China und Kwang aus Korea, wird dort zu lesen sein, entdeckten fremdes Leben in den Weiten des Alls, nämlich einen Eisaffen, einen Mondmenschen. Gewiss werden wir dem Tierchen einen Namen geben dürfen“, meinte Kaito, er wußte selbst nicht, ob er es ernst meinte oder scherzte.

Die in Europa haben ja auch schon Außerirdische entdeckt“, warf Lu ein.

Kwang winkte ab. „Nichts haben sie entdeckt. Sie wurden vielleicht entdeckt, von etwas Gefährlichem. Jetzt drehen sie durch in Brüssel und Berlin. Die haben alle eine Krankheit oder so. Das war das Letzte, was ich darüber gehört habe.“

Ja, unser Auftrag ist bereits erfüllt. Europa wird den wirklich großen Nationen weichen müssen und auf die Unbedeutsamkeit der USA schrumpfen“, triumphierte Kaito.

Also melden wir es der Erde“, sagte Lu und setzte sich ans Funkgerät. Nach einigen Minuten drehte er sich enttäuscht um. „Wir bekommen kein Signal. Alles rauscht. Mag sein, eine elektromagnetische Störung ist schuld, oder was weiß ich.“

Verdammt“, fluchte Kwang, „deswegen sind wir extra hier, weil man meinte, auf Enceladus gäbe es solche Störungen nicht, sonst hätten sie uns nach Ganymed geschickt, wie ursprünglich geplant.“

Es sollte an der Oberfläche ja auch kein Leben vorkommen. Alles ist unberechenbar geworden“, sagte Lu. „Die gute Nachricht: Morgen kommt schönes Wetter.“

Sehr witzig“, kicherte Kwang trocken, „das Wetter wechselt hier nur alle Millionen Jahre einmal. Solange wir uns vom Südpol fernhalten, werden wir zumindest nicht von den Fontänen mit hinauf in eine Umlaufbahn um den Saturn gerissen und enden nicht als Teil des Ringes.“

Montag, 24. Januar 2022

                                     TEIL 14



Die Pläne für den Rover lagen fertig in der Schublade. Dieses kältefeste Fahrzeug bedeutete viel für die Mission der ESA, mit ihm könnte man den Mond Europa genauer untersuchen, als es bisher möglich gewesen war. Philip bekam eine Assistentin zur Seite gestellt. Sie hieß Karen. Obwohl sie ein Mensch war und wie alle ihrer Art einen gewissen Wahnsinn in sich trug, erschien sie ihm sehr umgänglich. Als er sie eines Tages ansah, empfand er eine tiefe Zuneigung zu ihr. Er wusste nicht, inwieweit seine implantierten Erinnerungen daran beteiligt waren; jedenfalls kam er ihr einmal sehr nahe, und er hätte sie beinahe geküsst. Er stoppte aber seine Bewegung, da ein Impuls in ihm sagte, dass der Ort an dem sie sich befanden, nicht der geeignetste dafür sei, denn sie waren im Labor bei der Arbeit. Bald holte er den aufgeschobenen Kuss nach. Sie schmeckte nach Weibchen, obwohl sie ein Mensch war. Die in der Tiefseekolonie eingepflanzten Erinnerungen und sein humanoider Körper hatten ihn menschlicher werden lassen als geplant. Sie sollte die Erste sein! Er wusste dank seiner angeborenen Fähigkeiten, dass Professor Pull im Kellergeschoss einen Raum für sich reserviert hielt, in dem er private Bastelarbeiten durchführte. Ein Umstand, den Philip nutzen wollte, um eine besonders schöne Form der Infektion für Karen zu kreieren. Gewiss, er hätte einfach ein Leuchten aus seinem Herzen aussenden können. Es wäre sanft in ihren Geist eingesickert, hätte dort alle Irrtümer hinweggeschwemmt, bis genug Raum entstanden wäre, damit das Licht der Erkenntnis sich in ihrer Seele hätte ausbreiten können. Aber sie war die Erste auf dieser Welt, die er infizieren würde, die dem Irrsinn entkäme, unter dem hier alle litten. So führte Philip Karen in den Kellerraum, in dem Professor Pull für gewöhnlich mit leidenschaftlich Holzspielzeug für seine Enkel zusammenschraubte. Philip musste sich konzentrieren. Es funktionierte alles recht gut. So baute er im geheimen Raum des Professors für Karen ein Szenario auf, das ihr suggerierte, es würde sich dort ein feinstoffliches Raumschiff befinden, mit dem man quer durch den Weltenraum reisen könnte. Natürlich wäre keine Kreatur fähig gewesen, dergleichen zu erschaffen, wenn sie nicht rippen konnte. Aber das wusste Karen nicht. Er wollte, dass sie sich ein wenig so fühlen würde, wie bei den großen Festen auf dem Mond Europa, bei denen man ins Herz des Universums reiste. Bald saßen sie in einem Raumschiff. Und damit sausten sie bis zum Zentrum des Universums. So erlebte es Karen zumindest. Philip hatte einfach ihren Geist mit sich gezogen, als er immer tiefer in das Zentrum hineinschaute, das in ihm leuchtete und den süßen Duft von Zeit- und Raumlosigkeit verströmte. Als die Reise, die in Wahrheit nicht durch das Universum, sondern nach innen geführt hatte, zu Ende war, verankerte sich die Infektion tief in Karens Geist. Von diesem Augenblick an nannte sich jeder ihrer Atemzüge Freiheit.

Sie lächelte. Er wollte von ihr wissen, warum sie so fröhlich aussah. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie, „aber es ist mir so, als würde Großartiges geschehen.“

„Das mag sein“, stimmte er ihr zu, „es ist möglich, dass etwas Wunderbares passieren wird. Nein, es ist nicht nur möglich, es ist sehr wahrscheinlich!“

Und so kam es auch, Schritt für Schritt durchbrach Karens Geist seine Begrenzungen. Sie löste sich immer mehr von Meinungen und Vorurteilen; sie verzichtete auf Rechthaberei; sie hörte damit auf, in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu leben. Sie lebte einfach. Alles begann zu fließen, durfte kommen und gehen, ohne dass sie etwas festhalten oder wegdrücken musste. Ihr Körper bewegte sich geschmeidiger als zuvor und ihr Lächeln wandelte sich von einer Höflichkeitsform zum Lächeln derer, die das Meer der Seligkeit kennen.

„Du wirkst in letzter Zeit recht zufrieden“, bemerkte er wie nebenbei, als sie an der Kamera des Europarover arbeiteten.

„Es ist seltsam“, sagte sie, „etwas hat sich verändert: Es ist so, als sei ich geboren worden, und wäre zuvor tot gewesen. Ich meine: Als hätte ich nur geglaubt zu leben. Erst habe ich kein Ich mehr in mir gefunden, dann kam es mir vor, als hätte ich keinen Körper, sondern als befände sich alles, auch der Körper, in mir. Die Grenzen, sie sind geschmolzen. Aber das ist nicht mehr wichtig. Das ist tot, weil ich darüber reden kann. Alles, was man benennen kann, ist Staub im Wind.“

Sie stand vor ihm und füllte den Augenblick mit Schönheit aus. Die Welt waberte wie eine zarte Energiewelle. Er liebte diese Erdbewohnerin. Sie war kein gewöhnlicher Mensch mehr, keine von den bedauernswerten Kreaturen, die sich in ewigen Fragen und Kämpfen wanden, angetrieben von Gier, von Angst. „Karen“, sprach er und umfasste mit seinen Händen ihre Schultern, „du hast einige Irrtümer losgelassen, dennoch warten noch viele Wunder auf dich. Nach und nach wirst du verstehen – nach und nach.“

Einmal ließ er absichtlich einen Teller fallen. Sie sah erschrocken, wie der Teller mitten in der Luft stehen blieb. Einige Sekunden später fiel er, der Schwerkraft nachgebend, zu Boden und zerbrach.

„Du hast grade das erste Mal gerippt“, sagte Philip, „instinktiv gerippt. Bald wirst du lernen, es bewusst zu tun.“

Mit Philips Hilfe hatte sie bald raus, wie man wirklich gut rippt. Auch konnte sie andere infizieren. Das größte Wunder aber war und blieb ihre Liebe. Es kam Philip vor, als wäre sein ganzes Leben auf dem Mond Europa ein Traum gewesen, und die Gegenwart, Karen, er und die Erde, würden die einzige Realität sein. Aber er wusste auch, dass dieses Gefühl daher rührte, weil seine Pseudoerinnerungen sich mit den echten Erfahrungen vermengten.

Die Monate vergingen, seine Schwester Alice gebar eine Tochter. Ein Menschenkind. Zuvor hatte man ihren Körper noch einmal auf der Zellebene nachbessern müssen, damit auch alles klappte. Sie hatte sogar geheiratet, einen von der Erde. Inzwischen wurden immer mehr Menschen infiziert und eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Niemand vermochte aufzuhalten, was geschah. So konnten immer mehr Erdenbewohner ihre Verblendung abschütteln und als freie Wesen ihrer Bestimmung folgen.

Philip schaute tief in den Raum hinein, in dem die Fäden des Schicksals sich verflochten, und er erkannte, wie der Widerstand auf der Erde wuchs. Viele sträubten sich gegen ein Leben in Wahrheit und im Glück. Dieser Widerstand bezog seine Kraft aus den Ideologien, welche die Regierungen und die Konzerne den Völkern verordnet hatten, per Gesetz oder indem man sie manipulativ einlullte. Man könnte, sagte sich Philip, den Fortschritt beschleunigen und die Machtstrukturen verändern. Selbstverständlich wollten die Mächtigen an ihrer Kontrollgewalt festhalten, wobei so getan wurde, als wäre es das Beste für alle. Es stand Angst dahinter, die entsetzliche Angst, die hehren Werte der Gesellschaft, zum Beispiel die Gier und der Egoismus, könnten bald nicht mehr bestehen. Mit dem Druck, der auf die Menschen ausgeübt wurde, könnte man arbeiten. Druck erzeugt Gegendruck. Der Widerstand würde wachsen. Das fehlende Vertrauen in die bestehende Ordnung würde den Geist der Menschen in einen labilen Zustand versetzen. Damit wären viele offen für die Infektion. Es galt das Misstrauen zu schüren, zugunsten einer besseren Zukunft.

Hinter verschlossenen Augenlidern sah er, worauf er gehofft hatte: die Lösung – ein achtbeiniges Ding – einen modifizierten Arbeitsroboter, wie man ihn auf dem Meeresgrund von Europa einsetzte. Er würde ihn bauen und dann … Als Philip darüber nachsann, drang ein gelblicher Nebel in seinen Geist ein. Alles verwischte, Gedankenketten zerrissen und die einzelnen Gedanken zerstreuten sich wie Perlen, die auf einem Parkettboden fielen.

„Chrochro, bist du das?“, rief Philip.

„Alter Freund. Wir haben uns verändert. Sieh nur, wie wir aussehen: Wir sind Landtiere geworden und bewegen uns träge ohne Flossen fort. Ich habe diese Form kurzfristig angenommen. Es musste sein, zum Wohle Europas und seiner Kolonien. Dir schwirren mittlerweile viele Menschengedanken im Kopf herum, dazu gesellen sich die Erinnerungen, die man dir zur besseren Anpassung eingepflanzt hat. Du scheinst zu wenig auf die Fäden des Schicksals zu achten; du hättest ansonsten gesehen, dass sich unsere Wege hier kreuzen. Du bist unachtsam geworden. Bald wirst du diese Begegnung vergessen haben. Ich manipuliere grade deine Erinnerungen. Du wirst das, was ich dir in deinen Kopf einsetze, für real halten und demnächst meinen, du wärst immer ein Mensch gewesen, wirst deine Ziele aus den Augen verlieren. Selbst die Erkenntnis der Wahrheit ist bald nicht mehr für dich als ein ferner Traum. Auch das Rippen wirst du vergessen. Deine richtige Erinnerung schmilzt dahin.“

„Seit wann manipulieren wir die Erinnerungen anderer gegen ihren Willen?“, fragte Philip.

Auf Chrochros Gesicht, blass und hager, zeigten sich keine Emotionen. „Manches Mal steht das Wohl vieler über den Rechten einzelner. Gewisse Kreise der Regierung Europas betrachten die Entwicklung auf der Erde kritisch. Die Kolonie in der Tiefsee beansprucht immer mehr Unabhängigkeit. Sie verbitte sich sogar die Einmischung von oben, also von den Mitgliedern des obersten Rates auf Europa, heißt es. Natürlich bekennt sich die Kolonie weiterhin zur Kooperation bereit und sieht sich als Teil unseres Volkes. Der Rat der Kolonie deutet allerdings die Schicksalsfäden der Erde anders als die Regierung Europas. So weit, so gut. Wir sind bekannt für Toleranz und diplomatisches Feingefühl. Dein Vorhaben aber erscheint nicht unbedenklich. Anders gesagt, ich erkenne darin eine gewisse Gefahr. Würde es allein der Erforschung der Menschheit dienen, fände niemand ein Problem darin. Allerdings bist du dafür eingetreten, aktiv Veränderungen herbeizuführen. Das bedeutet nichts anderes, als diesen Wesen eine Macht zu geben, die sienur schwer kontrollieren können. Mit anderen Worten: Auf Europa sehen gewisse Kreise in der Erde eine künftige Bedrohung. Ich habe die nicht einfache Aufgabe übernommen, diese Bedrohung abzuwenden, bevor sie ihre volle Kraft entfalten kann.“

Philip blickte Chrochro fest in die Augen. „Wir geben ihnen keine Macht, sie ist bereits in ihnen, wie sie in allem ist. Ich habe nur geholfen, den Schleier zu lüften, der ihnen den Blick auf ihr Erbe verhüllt. Irgendwann würden sie es auch aus eigener Kraft schaffen. Es ist der Faden ihres Schicksals, dass es gerade jetzt geschieht.“

„Ach, komm mir doch nicht mit philosophischen Allgemeinplätzen. Gewiss, alles folgt seiner Schicksalslinie, aber verschiedene Linien befinden sich nicht immer in einer harmonischen Beziehung; sie überkreuzen und verheddern sich, bis daraus eine weitere Linie entsteht, die der großen Harmonie des Universums folgt.“

„Du glaubst, du hast eine Mission“, stellte Philip verständnisvoll fest.

„Vielleicht, eine Mission, die Europa schützt und einiges an Unglück verhindern kann.“

Philip meinte, er könne keinen gefährlichen Faden erkennen.

„Es ist einer dieser spontanen Fäden. Ohne Vorwarnung kriechen sie aus dem Zentrum wie Würmer heraus“, entgegnete Chrochro.

„Spontane Linien – eine Theorie längst überholter quantenmechanischer Modelle!“

„Wie dem auch sein mag“, fuhr Chrochro fort, „alles wird gut mein Freund. Ich wünschte, ich hätte es nicht tun müssen. Wir alle spielen unsere Rollen im kosmischen Drama.“

„Ich weiß, was du sagen willst: Wir haben Krieg. Europa befindet sich im Kampf mit seiner Kolonie auf der Erde. Wir haben diesen Krieg nicht begonnen. Es wird gewiss keine Toten geben. Nur die Erinnerungen sterben, das innere Auge wird sich trüben, man lebt als Blinder unter Blinden.“

Chrochro versuchte, seine Stimme sanft klingen zu lassen: „So ist es üblich auf diesem Planeten: Man lebt vor sich hin und er kennt das Licht nicht. Alles wird gut. Es kommt kein wirklicher Krieg. Ich beende die Anfänge der Zwietracht. Du schläfst gleich ein und erinnerst dich nicht mehr an dieses Gespräch. Dein Leben sinkt Stück für Stück auf den Grund des Vergessens. Es wird nicht wehtun. Lebe wohl mein Freund!“

„Lebe auch du wohl“, sprach Philip, schloss die Lider und fiel in einen tiefen Schlaf.


Als Philip erwachte, wusste er noch, dass es wichtig war, andere zu infizieren; er wusste noch, woran er arbeitete und dass sein Name Philip lautete; auch spürte er das Zentrum des Universums in seinem Herzen; er spürte die Schicksalslinie weiterhin, nur sein Leben auf Europa verblasste immer mehr.

Bald hielt er sich für einen Menschen, für einen, der zwar klar sehen und rippen konnte, aber ansonsten ganz normal war. Als Karen eine Anspielung darauf machte, dass er ein Außerirdischer sei, hielt er das für einen Witz. Ob es Außerirdische überhaupt gab, sollte ja erst untersucht werden. Dazu diente das Europaprojekt der ESA.

Einige Tage später meldeten sie sich dann – die Außerirdischen. Diese Wesen waren von weit hergekommen. Er konnte sie innerlich sehen, spürte, dass sie ihn unterstützen würden. Sie stammten vom Jupitermond Europa. Er blickte tief in den Raum hinein, in dem diese komischen Linien zitterten, und dort erkannte er, was zu tun war. Eine der Linien gehörte zur Erde. Es war die Lebenslinie des Planeten. Und zwischen all dem zitterte ein unscheinbarer Faden. Das war sein Schicksal, sein kleines zerbrechliches Leben. So nichtig es schien, so ahnte er doch: Es würde eine wesentliche Rolle im Geschick der Welt spielen. Er konstruierte in einem geheimen Raum des Institutes eine achtbeinige Erkundungssonde. Karen und Alice halfen dabei. Dieses Gerät, das wusste er, würde ein wichtiges Teil in einem kosmischen Puzzle sein. Nachdem sie die Spinne gebaut hatten, schwand sein Gedächtnis weiter, bis er nichts mehr vom Zentrum des Universums ahnte, auch nichts vom Rippen. Immer größere Erinnerungslücken klafften in ihm. Verwirrung fraß sich durch seinen Geist. Bald war er nicht mehr fähig, am Institut zu arbeiten. In der Folge zeigten sich bei ihm psychische Auffälligkeiten, Panikattacken und Unfähigkeit, sich an die wesentlichsten Dinge zu erinnern.

Jetzt sah er auch noch den Rest vor seinem inneren Auge: Sich selbst als Kratomabhängigen, der nicht mehr wusste, wer er war; er sah, wie er seine verschollene Schwester suchte, wie er Karen begegnete, aber sie nicht erkannte. Dann kam der böse Schluss mit Chrochro, der, bevor die Erinnerung wiederkommen konnte, löschte, was zu löschen noch übrig geblieben war.


Während Philip dalag und sich all dessen besann, sagte Karen zu Alice: „Er hätte es gewiss geschafft. Ich habe versucht, ihn vorsichtig an seine Erinnerungen heranzuführen. Sogar einen kleinen Bericht habe ich für ihn geschrieben, über seine Arbeit am Institut. Natürlich ohne zu erwähnen, dass er kein Mensch ist. Andeutungen habe ich gemacht, feine Andeutungen, damit Erinnerungen aufsteigen können, ohne dass er davon einen Schock bekommt. Aber dann wurde alles zunichtegemacht.“

Alice nickte. „Ja, alles wurde von Chrochro boykottiert, angeblich im Dienste der Regierung von Europa. Damals, als du mich angerufen hast, mir gesagt hast, wie es Philip geht, war ich schon gewarnt. Wenn jemand, der von Europa kommt, sich für einen Menschen hält, ist das wirklich alarmierend! Ich habe in den Raum mit den Schicksalsfäden hineingeschaut, da wurde mir die Gefahr bewusst. Als Chrochro mich angriff, war ich vorbereitet. Ich hatte mir einen Schutz gerippt, eine geistige Mauer, die sich um meine Erinnerungen zog. Aber Chrochro ist stark. Auch ich wurde geschwächt, konnte nicht mehr rippen. Ab und an hielt ich mich für einen Menschen. Philip hat im Gegensatz zu mir die volle Dosis abgekriegt. Ich weiß nicht, wie gut er das überstehen kann.“

„Wir können nur hoffen, obwohl die Hoffnung die Schicksalsfäden nicht neu ordnen wird. Ich war voller Zuversicht, als ich Philip die Adresse von einem deiner Kollegen per Mail habe zukommen lassen, damit er eine Spur finden konnte, einen Weg zu dir. Ich habe geglaubt, ihr hättet noch eine innere Verbindung. Du warst verschwunden, Philip wusste nicht mehr, wer er ist. Ich hatte Angst. Dich konnte ich nicht orten in meinem Geist. Chrochro hat das wohl abgeblockt.“

„Gewiss“, sagte Alice, „gewiss hat er das. Nach seinem Angriff auf mich war ich wehrlos, als sie unser Team entsorgten. War nur noch ein schwacher Mensch. Chrochro hatte vorübergehend Teile meiner Pseudoerinnerung derart verstärkt, dass ich sie für meine wirkliche Vergangenheit hielt. Meine Rolle als Wissenschaftlerin funktionierte somit weiterhin reibungslos.“

„Ja, deine Rolle funktionierte noch Alice. Bei Philip ist alles zusammengebrochen, selbst seine Erdenidentität zerbröckelte nach und nach. Als ich merkte, dass es dich erwischt hatte, mit was auch immer, denn ich wusste ja nichts von diesen Chrochro, habe ich dich sogleich infiziert. Ihr hattet gesagt, auf Europa benutzt man das Infizieren als Medizin. Aber du wurdest nicht wieder gesund. Bei Philip hat es auch nicht gewirkt. Das heißt, es hat nicht wirklich versagt, zumindest nicht bei dir, es brauchte allerdings einiges an Zeit, um zu wirken. Dann wurdest du auch noch zu allem Überfluss entführt.“

„So war es“, bestätigte Alice. „Wir hatten im Auftrag der ESA die Spinne untersucht, die Batterie isoliert und sie als außerirdisches Objekt erkannt. Das hätte die Propaganda gut benutzen können. Endlich ein Beweis für exoteristisches Leben, für eine Gefahr, gegen die man sich mit allen Mitteln rüsten muss. Das aber wurde von unserer zweiten Entdeckung zunichtegemacht. Die Kamera des außerirdischen Fundes besaß optische Linsen aus irdischer Produktion. Somit würde immer der Verdacht bestehen bleiben, dass es sich bei der Spinne um kein außerirdisches Objekt handelte. Offenbar waren die verantwortlichen Regierungsstellen nicht kreativ genug, um unser Werk als gemeinsame Produktion von irdischen Terroristen und außerirdischen Aggressoren zu verkaufen. Jedenfalls passte ihnen unsere Entdeckung nicht in den Kram. Wissenschaftler gelten als unzuverlässig, was ihre Eigenschaft als Geheimnisträger betrifft. Nicht immer gelingt es, aus ihnen gehorsame Roboter zu machen. Man wollte die Spinne als zweifelsfrei außerirdisches Produkt darstellen und als Beweis für eine fremde Intelligenz nutzen, der freilich nicht zu trauen ist. Darauf gründeten sie ihre Propaganda. Sie mussten nur noch die Aliens als gefährlich darstellen, schon konnten sie den Überwachungsstaat guten Gewissens weiter ausbauen. Man sehnte sich nach den Aliens, nach der ultimativen Rechtfertigung, die Bevölkerung mit allen Mitteln unter Kontrolle zu halten, damit diese sich nicht irgendwann dreist gegen ihre Führer erhebt. Jede Kritik an den Verhältnissen ließe sich als von Aliens inszeniert darstellen. Um das nicht zu gefährden, hat man das Forschungsteam, also uns, entsorgt. Wir, die wir an dem Projekt gearbeitet haben, verschwanden einfach. Man hat uns an einen ablegenden Ort gebracht und eingesperrt. Gefangen von Menschen, die nicht ahnten, wer ich wirklich bin, erinnerte ich mich schemenhaft an ein anderes Leben, eines, das ich auf Europa geführt hatte. Es war wie ein Traum, was mir da in den Kopf kam, nichts Reales. Dann tauchte ein Polizeikommissar auf, Hans Lehmann – ein Infizierter, der gerade zu seiner Kraft gefunden hatte. Seine Gegenwart vollendete meine Genesung. Ich konnte mich wieder erinnern, wer ich war: ein Kind Europas. So bin ich ausgebrochen. Keine Mauern und keine Gitter können einen freien Geist aufhalten.“

„Dieser Chrochro hat also nachlässig gearbeitet?“

„Was dich betrifft Karen, so hat er dich nicht als große Gefahr gesehen. Du bist nur ein Mensch für ihn gewesen, wenn auch ein infizierter. In meinem Fall hatte er mit dem Faktor Hans Lehmann nicht gerechnet. Manches Mal entgehen einem Schicksalsfäden. Das wahre Sehen ist nicht so einfach. Je tiefer man blickt, umso unschärfer werden die Konturen. Letztlich müssen wir so oder so dem großen Schicksalsfaden folgen, der aus unzähligen winzigen Fäden geflochten ist.“

„Das müssen wir wohl“, stimmte Karen zu. Sie sah Alice nachdenklich an.


Philip, der eigentlich Philphil war, ein Sohn Europas, schwebte in einem uferlosen Raum. Unter sich erblickte er seine Vergangenheit. Würfel sah er aufgetürmt, sie bestanden aus einzelnen Erinnerungen. Es waren Datenblöcke, leblose Informationen. Er blickte auf und erkannte über sich die tausend Fäden des Schicksals, rasend verflochten sie sich miteinander und trennten sich wieder. Weiter und weiter schaute er in die kommende Zeit hinein.

„Die Zeit ist eine Illusion, eine trügerische Tänzerin. Sie bewegt mit ihrer Hand unzählige Schleier, ihre Flossenarme verrenkt sie derart, dass niemand wissen kann, wohin sie genau schwimmt“, hörte er es telepathisch sprechen.

Er schaute sich um: Neben ihn schwebte Chrochro. „Da magst du recht haben“, sagte Philphil. „Weißt du noch, als wir jung waren und uns die Zukunft wie ein endloses Wunder erschien?“

„Ja, ich weiß mein Freund, aber nun ist uns beiden klar, dass die Zukunft nichts weiter als ein Traum ist, ein Spiel für Toren“, sprach Chrochro.

„Der Traum gehört zum Ganzen dazu, sonst wäre es nicht das Ganze. Wir können keinen Flossenschlag auslassen, doch gleichzeitig rühren wir uns nie von der Stelle. Das ist paradox. Du weißt, was wahr ist: Wir sind unendlicher Raum, strahlendes Licht und eine Freude, die immerfort in ihr eigenes Herz hineinfließt.“

„Das ist wohl wahr Philphil. Wenn der Geist nicht dumme Spiele spielt, ist er frei und in sich selbst daheim. Immer wieder aber drängt es ihn, zu spielen, so entzweit er sich und erschafft die Zeit und mit ihr die Gegensätze. Es entstehen daraus Ideen und Meinungen. Beispielsweise darüber, ob man der Menschheit Wissen zukommen lässt und sie mit jener Macht beschenkt, über die wir verfügen. Manche mögen darin eine Gefahr erkennen. Wie einer der Dichter der Menschheit sagte:
Weh denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt' und Länder ein.“

„Und nun sind wir in diesem Raum, schauen auf das Schicksal, während es sich erfüllt.“

Sie flogen dem Zentrum des Universums entgegen. Ihre Schicksalsfäden verflochten sich und es schien, als würden sie miteinander kämpfen. Das Zentrum wartete geduldig, dann verschluckte es die beiden. Stille.

Eine Kugel formte sich und zerfiel in zwei Hälften: Quellen, aus denen Licht strömte. Das eine Licht aber war das Gegenteil des anderen. Wie das eine heiß war, war das andere kalt; das eine leuchtete hell, das andere glimmte dunkel und voller Geheimnis. Als die Quellen der Lichter zerbrachen, zersplitterten sie zu unzähligen Teilen, sodass sie den ganzen Raum ausfüllten. Diese Teile waren gleich Spiegeln, sie warfen das Licht, das sie ausgesandt hatten, als sie eines gewesen waren – und das immer noch im Raum funkelte – hin und her, das helle ebenso wie das geheimnisvolle. Diese Spiegelungen erschufen die Dinge. Die Dinge bildeten die Welt.

Als einst aus den Dingen Wesen hervorkamen, wussten diese alles über das Zentrum, über die Kugel, die zerbrochen war, über die Quellen und die Lichter. Als die Wesen sich aber zu viel mit den Dingen beschäftigten, vergaßen sie, was sie gewusst hatten. Erst als einige von ihnen unbequeme Fragen stellten und ihren Blick ins Innere der Welt versenkten, erwachte die alte Erinnerung aufs Neue.